Lula im Gefängnis: Alles Wichtige auf einen Blick

09.04.2018, Lesezeit 8 Min.
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Der brasilianische Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hat sich der Justiz gestellt, nachdem der Oberste Gerichtshof ihn der Korruption für schuldig befunden und eine Gefängnisstrafe von 12 Jahren verhängt hatte.

Der brasilianische Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hat sich der Justiz gestellt, nachdem der Oberste Gerichtshof ihn der Korruption für schuldig befunden und eine Gefängnisstrafe von 12 Jahren verhängt hatte. Nach zehnstündiger Debatte hatte der Oberste Gerichtshof Lulas Plädoyer mit nur einer Stimme abgelehnt – vier gegen fünf. Dies ist die Fortsetzung des im August 2016 begonnenen „institutionellen Putsches“, der die Präsidentin Dilma Rousseff („Arbeiterpartei“ (PT)) aus dem Amt drängte.

Das Verfahren gegen Lula ist Teil der Untersuchung des Korruptionsskandals „Lava Jato“, die zur Verhaftung von Dutzenden von Manager*innen und Politiker*innen führte und tiefe soziale und politische Gräben im Land aufgedeckt hat. Und obwohl Lula immer noch an der Spitze der Umfragen steht, ist es ihm nun verboten, bei den kommenden Wahlen in diesem Jahr für das Präsidentschaftsamt zu kandidieren.

Seit dem institutionellen Putsch gegen Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff erlebt Brasilien eine zunehmende politische und gesellschaftliche Polarisierung. Vor drei Wochen wurde – vor dem Hintergrund eines militarisierten Rio de Janeiro – die Stadträtin Marielle Franco („Partei für Sozialismus und Freiheit“ (PSOL)) von der Polizei ermordet. Erst vor wenigen Tagen wurde Lulas Buskarawane von vier Schüssen getroffen, als er in Parana unterwegs war.

Die Doppelmoral des Obersten Gerichtshofs

Obwohl Lulas Beteiligung an einem System der Korruption keineswegs ausgeschlossen ist, ist die Geschwindigkeit, mit der der Prozess gegen ihn geführt wurde, außergewöhnlich. Einige andere Politiker*innen, die direkt in den „Lava Jato“-Skandal verwickelt waren, wurden weit weniger drakonisch behandelt. Renan Calheiros war Präsident des Senats von Brasilien, als er vom Obersten Gericht wegen Veruntreuung zum Rücktritt verurteilt wurde. Er und der Senat weigerten sich, und der Oberste Gerichtshof ruderte zurück. Dadurch konnte Calheiros weiterhin seine Position behalten, aber er musste seine Ansprüche an eine Präsidentschaftskandidatur aufgeben.

Medienberichten zufolge traf sich Senator Aécio Neves, Vorsitzender der rechten PMDB („Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens“), mehrmals mit der Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, Cármen Lúcia, während Neves wegen Korruption vor Gericht stand. Schließlich gab Lúcia die entscheidende Stimme in einem Urteil ab, das dem Senat de facto Vetorechte über die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in Neves‘ Fall gab. Der Oberste Gerichtshof erlaubte Präsident Michel Temer auch, sein Kabinett mit anderen wegen Korruption angeklagten Mandatsträger*innen zu füllen, während Lula aus dem gleichen Grund an der Teilnahme an der Regierung Rousseff gehindert wurde. Michel Temer selbst konnte mit Hilfe von Verbündeten im Kongress im vergangenen Jahr eine Anklage vor dem Obersten Gerichtshof wegen Korruption, Behinderung der Justiz und Verbindungen zum organisierten Verbrechen vermeiden.

Dass der Oberste Gerichtshof, der Lula Da Silva zu dem Zeitpunkt willkürlich ins Visier nimmt, in dem er die Umfragen für die Präsidentschafswahlen anführt, ist ein offener Angriff auf das Wahlrecht des brasilianischen Volkes. Außerdem deutete der Oberbefehlshaber der Armee, General Villas Boas, in einem Tweet die Möglichkeit einer militärischen Intervention an, falls das Urteil gegen Lula nicht eingehalten würde. Der Haftbefehl gegen Lula wurde vom Medienriesen Globo und allen großen Zeitungen gefeiert.

Die Justiz spielt Bonaparte

Sergio Moro, der Staatsanwalt, der die „Lava Jato“-Ermittlungen leitet, wurde vom US-Außenministerium ausgebildet, wie ein Bericht von Wikileaks zeigt. Nach der Wiederwahl von Dilma Rousseff im Jahr 2014 hat die Justiz zunehmend eine herausragende Rolle in der nationalen Politik gespielt. Aus diesem Grund wurde sie von verschiedenen politischen Analyst*innen als „Justizpartei“ bezeichnet.

Die brasilianische Wirtschaft ist im Jahr 2012 eingebrochen und hat sich seitdem nicht erholt, was zu Unzufriedenheit in der Bevölkerung und wachsender sozialer Polarisierung geführt hat. Unter dem Deckmantel eines Anti-Korruptions-Kreuzzugs begann Richter Sérgio Moro den Prozess, der mit der Amtsenthebung von Dilma Rousseff im Jahr 2017 endete – ein Prozess, der allgemein als institutioneller Putsch anerkannt wurde.

Hinter der aufgeblähten Justiz, die die Exekutive überragt und in die demokratischen Rechte der Menschen eingreift, steht eine ermutigte Rechte, die versucht, eine härtere Sparpolitik zu betreiben und die zentralen Sektoren der Arbeiter*innenklasse durch Arbeits- und Rentenreformen zu brechen. Lulas Präsidentschaftskandidatur könnte diese Pläne gefährden.

Die Kluft wächst zwischen einer konservativen Bewegung, die von Organisationen wie der „Bewegung Freies Brasilien“ (MBL) und Vem pra Rua („Auf die Straße“) angeführt wird, und den eher verarmten und lohnabhängigen Sektoren, die sich eindeutig der Sparpolitik Temers widersetzen. Die Justiz erhebt sich immer mehr zur „Schiedsrichterin“ zwischen diesen Kräften. Ohne wirkliche Rechenschaftspflicht gegenüber den brasilianischen Massen war dieser Bonaparte entscheidend, um die PT aus der Regierung zu fegen und Temers politische Agenda voranzubringen.

Eine taube Linke

Ein Teil der brasilianischen Linken sieht keinen Wert darin, die demokratischen Rechte im Kapitalismus zu verteidigen. Die PSTU („Vereinigte Sozialistische Arbeiterpartei“) gehört dazu. Angesichts von Lulas drohender Verhaftung jubelten sie in einer Erklärung auf ihrer Website über die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs und hofften naiv auf die Inhaftierung von ihnen allen (korrupten Politiker*innen). Diese Worte zeigen nicht nur ein schwerwiegendes Missverständnis über die Rolle der Justizmacht in Brasilien in den letzten vier Jahren, sondern auch ein verblüffendes Vertrauen in den Repressionsapparat des Staates, „Gerechtigkeit“ zu schaffen. So absurd es klingen mag, die PSTU hat diese Position seit dem Putsch gegen Dilma Rousseff im Jahr 2016 beibehalten. Aufgrund dieser impliziten Pro-Putsch-Position spaltete sich die Hälfte der Partei ab und gründete die „Bewegung für eine Unabhängige Sozialistische Alternative“ (MAIS).

Die PSOL, eine linke Mehrparteienorganisation, hat es bisher nicht geschafft, eine einheitliche Position zur Inhaftierung von Lula zu beziehen. Während Teile der PSOL wie die CST Lulas Verhaftung unterstützen, protestierten andere Kräfte innerhalb der PSOL, wie die MES („Bewegung Sozialistische Linke“), gegen das Urteil und forderten seine Freiheit und sein Recht, bei den Präsidentschaftswahlen zu kandidieren.

Die „Bewegung Revolutionärer Arbeiter*innen“(Movimento Revolucionário de Trabalhadores, MRT), Schwesterorganisation von RIO in Brasilien, versteht die Entscheidung des Gerichts als Fortsetzung des institutionellen Putsches gegen Rousseff und die PT im Jahr 2016 und verurteilt den Eingriff der Justiz in die Rechte der Menschen. Während sie den Waffenstillstand der PT und die Unbeweglichkeit der Gewerkschaftsföderation CUT kritisiert, lehnt die MRT sowohl die Verhaftung als auch das Kandidaturverbot von Lula Da Silva ab.

Den Riesen wecken?

Die Anerkennung, dass der brasilianische Oberste Gerichtshof die demokratischen Rechte der Bevölkerung angreift, sollte nicht bedeuten, Lula Da Silva oder die PT zu unterstützen. Tatsächlich wurde Michel Temer 2014 von Dilma Rousseff zum Vizepräsidenten ernannt. Und der Präsident des Obersten Gerichtshofs, Cármen Lúcia, wurde von Lula ernannt. Trotz seiner Vergangenheit als Metallarbeiter ist Lula ein bürgerlicher Politiker, der während seiner Präsidentschaft keine antikapitalistischen Maßnahmen vorangetrieben hat und sich davor scheute, die einzige wirkliche soziale Kraft zu mobilisieren, die den rechten Angriff stoppen könnte: die brasilianische Arbeiter*innenklasse.

Die Gewerkschaftszentrale CUT ist mit 7,4 Millionen Beschäftigten der größte Gewerkschaftsverband Brasiliens. Obwohl die CUT weitgehend von PT-Funktionär*innen kontrolliert wird, hat der Verband keine Arbeitsniederlegungen, Streiks oder andere aktive Maßnahmen als Reaktion auf den Haftbefehl von Lula gefordert. Die PT hat keinen Aufruf veröffentlicht, auf der Straße für die Fortsetzung des sanften Putsches zu kämpfen; ihr Waffenstillstand im Terrain des Klassenkampfes ist eine Zwangsjacke für die brasilianische Arbeiter*innenklasse. Und dies ist nicht nur das Ergebnis ihrer mangelnden Bereitschaft, die Muskeln der Arbeiter*innen anzuspannen, sondern auch eine natürliche Folge ihrer Demoralisierung als Reaktion auf Dilma Rousseffs eigene Angriffe auf die Rechte der Arbeiter*innen. Die Korruptionsskandale, die ihren eigenen Apparat betreffen, machen sie nur zu einem leichteren Ziel für die Rechte. Nur über die Köpfe der Funktionär*innen der PT hinweg wird die brasilianische Arbeiter*innenklasse die Trägheit brechen, ihre Ketten abschütteln und sich ihrer eigenen Macht bewusst werden.

Dieser Artikel bei Left Voice

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