Lasst uns über Frankreich reden!

15.04.2017, Lesezeit 7 Min.
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Am 23. April findet in Frankreich die erste Runde der Präsidentschaftswahlen statt. In den letzten Wochen konnte der Ford-Arbeiter Philippe Poutou mit einem antikapitalistischen Programm Millionen von Menschen erreichen. Warum die deutsche Linke nach Frankreich schauen sollte.

Man stelle sich folgendes im deutschen Bundestagswahlkampf vor: Ein Industriearbeiter, der noch dazu gerade gegen Entlassungen in seiner Fabrik kämpft, präsentiert ein radikales, in weiten Teilen antikapitalistisches Programm und erreicht damit Millionen von Menschen. Er verurteilt die Korruption der bürgerlichen Politiker*innen; er schlägt einen durchschnittlichen Arbeiter*innenlohn für Parlamentarier*innen und ein Rotationsprinzip vor; er entwirft ein Programm der Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich; er stellt sich gegen den eigenen Imperialismus; und er betont, dass Veränderungen vor allem im Kampf auf der Straße und in den Betrieben erreicht werden.

In Frankreich ist das aktuell Realität. Philippe Poutou, Arbeiter bei Ford und Kandidat für die Neue Antikapitalistische Partei (NPA), erreicht nach seinem fulminanten Auftritt bei der letzten TV-Debatte der Präsidentschaftskandidat*innen in Umfragen aktuell 2,5 Prozent der Stimmen: Das sind fast 900.000 Wähler*innen.

Das politische Regime des Landes befindet sich aktuell in Mitten einer riesigen Legitimitätskrise: Der scheidende Präsident François Hollande geht mit extrem niedrigen Umfragewerten aus dem Amt. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird keine der beiden großen politischen Kräfte, die die französische Politik seit Jahrzehnten dominieren, in die Stichwahl einziehen – ein politisches Erdbeben. Immer noch befindet sich Frankreich in einem polizeilichen Ausnahmezustand, der nach den Anschlägen von Paris Ende 2015 ausgerufen wurde. Das Land wurde im vergangenen Frühjahr und Sommer von einer riesigen sozialen Bewegung gegen die Arbeitsmarktreform erschüttert – mit massiven Streiks und einer Führungsrolle der Arbeiter*innenklasse in der zweiten Hälfte der Bewegung. Kurzum: Das französische Regime wird von vielen Seiten in Frage gestellt, und die Polarisierung steigt.

Große Polarisierung

In diesem Kontext könnte Marine Le Pen von dem ultrarechten Front National(FN) in die Stichwahl einziehen. Das wäre eine ungeheuerliche Erschütterung, die auch im restlichen Europa große Auswirkungen hätte.

Vor diesem Hintergrund schlagen viele Linke aktuell vor, bei den Wahlen den Kandidaten der Front de Gauche (FdG), Jean-Luc Mélenchon („JLM“), zu unterstützen, der in die zweite Runde kommen könnte. Ein Kandidat, der viele soziale Forderungen aufstellt, aber gleichzeitig für eine Stärkung des französischen Imperialismus – unter den Slogans der „Unabhängigkeit“ von der Europäischen Union und „mehr Produktion in Frankreich“ – einsteht. Das Paradoxe: Dieselben, die Mélenchon statt Macron wählen wollen, obwohl letzterer die größten Chancen hat, in die Stichwahl gegen Le Pen einzuziehen, argumentieren gegenüber der Wahl Philippe Poutous mit der Logik der „nützlichen Stimme“, im Sinne einer „strategischen Wahl für das geringere Übel“.

Mélenchons Programm setzt nicht auf die Kraft der Bewegung, wie sie im letzten Jahr im Kampf gegen die Arbeitsmarktreform zum Ausdruck kam, sondern auf gesetzliche Veränderungen im Regime. Doch dass sich ein Massensektor links von der traditionellen Sozialdemokratie eröffnet hat, was sich unter anderem in der Wahlunterstützung für Mélenchon ausdrückt, eröffnet der radikalen Linken eine großartige Chance, ihre Ansichten einem Massenpublikum zugänglich zu machen. Gerade deshalb wäre es ein Fehler, vor dem Gespenst des Front National mit der Wahlempfehlung für „JLM“ zu antworten.

Das Scheitern des Linksreformismus

Denn das Problem ist: Ein gewichtiger Teil der Regimekrise stammt gerade daher, dass die unteren Schichten der Bevölkerung sich immer weniger von der „traditionellen Linken“, also der sozialdemokratischen Parti Socialiste (PS), vertreten fühlen. Denn diese setzte in den letzten Jahrzehnten europaweit immer schärfere Austeritätsprogramme durch. So scharf, dass aus ihnen linksreformistische Abspaltungen entstanden, wie die Front de Gauche in Frankreich oder die Linkspartei hierzulande.

Doch immer, wenn diese linksreformistischen Parteien in die Nähe von Regierungsverantwortung kommen, setzen sie wohl oder übel dieselben Projekte wie die zuvor kritisierte Sozialdemokratie um – aufgrund des fehlenden wirtschaftlichen Spielraums angesichts der Weltwirtschaftskrise, und weil ihre Strategie gerade nicht in der Mobilisierung für ein revolutionäres Programm auf der Straße besteht. In Griechenland haben wir gesehen wie eine linksreformistische Alternative in der Praxis aussieht: Syriza musste im Rekordtempo seine Wahlversprechen brechen und setzt heute selbst knallhart die Austeritätsdiktate der Bourgeoisie um.

Das Resultat: Die extreme Rechte steigt für breite Teile der Bevölkerung als einzige „Alternative“ gegen das Establishment auf, weil der Linksreformismus offen mit seinen Versprechen gebrochen hat.
Auch in Deutschland bekommt die Linkspartei immer mehr Regierungsverantwortung. Schon seit Langem ist die Linkspartei in Ostdeutschland in verschiedenen Landesregierungen vertreten; aktuell mit Bodo Ramelow in Thüringen sogar mit eigenem Ministerpräsidenten, oder hier in Berlin mit der Beteiligung am rot-rot-grünen Senat. Nun könnte die Linkspartei auch bald im Bund in die Regierung eintreten. Wird das die AfD stoppen? Oder wird die unweigerliche Enttäuschung über RRG nicht mittelfristig zu ihrer Stärkung führen?

Aktuell begehren in Berlin verschiedene Belegschaft in Tarifauseinandersetzungen gegen die Regierung auf, vor allem in der öffentlichen Daseinsvorsorge. Und das obwohl auch die Linkspartei mit an der Regierung ist. Das einzig richtige Programm in diesem Fall ist die Unterstützung dieser Kämpfe gegen die Regierung.

Wenn die radikale Linke in Deutschland gegen die Regierungsverantwortung der Linkspartei ist – warum sollte die Logik des „geringeren Übels“ in Frankreich zutreffen? Und umgekehrt: Wenn es in Frankreich möglich ist, mit einem radikalen antikapitalistischen Programm Millionen zu erreichen, wie es Philippe Poutou gerade demonstriert – warum sollte sich die radikale Linke hinter RRG als Regierungsoption im Bund stellen?

Die politische Unabhängigkeit unserer Klasse

Philippe Poutou ist ein Symbol: Seine Aussagen in der TV-Debatte und in zahlreichen Interviews fanden großen Anklang in breiten Teilen der Gesellschaft. Das zeigt das Potenzial eines Programms, welches offensichtlich unabhängig von der bürgerlichen politischen Kaste und den Interessen der Kapitalist*innen ist. Es zeigt die Möglichkeit, dass die Arbeiter*innen eigene Kandidat*innen ihrer Klasse aufstellen und ein Programm für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung entwerfen können. Die Arbeiter*innenklasse in Frankreich hat ihr Potenzial in den Kämpfen der letzten Etappe gezeigt – Zeit, dass dies einen eindeutigen politischen Ausdruck findet.

Dafür kämpfen unsere Genoss*innen der Revolutionär-Kommunistischen Strömung (CCR) innerhalb der NPA in Frankreich, auch mit deutlicher Kritik gegenüber der größten Strömung in der NPA selbst, zu der Philippe Poutou gehört. Ursprünglich wollte Poutous Strömung gar keine eigene Kandidatur und hätte sich am liebsten direkt hinter Mélenchon eingereiht. Nur weil konsequente Revolutionär*innen innerhalb der NPA für eine Arbeiter*innenkandidatur gekämpft haben, konnte Philippe Poutou letztlich antreten.
Poutous Programm ist noch nicht revolutionär: Er fordert zum Beispiel die Entwaffnung der Polizei statt ihrer Auflösung. Doch seine letzten Auftritte wie im TV-Duell zeigen, dass ein Programm der Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse für Millionen von Menschen attraktiv sein kann. Was ihn radikal von anderen Kandidat*innen unterscheidet: Er steht für eine Weiterentwicklung des Bewusstseins im Kampf, nicht nur für elektorale Erfolge. Die Präsidentschaftswahlen bilden einen Startpunkt, um Elemente eines Programms unserer Klasse bekannt zu machen – und für die Organisierung von Zehntausenden für ein solches Programm zu kämpfen.

Das ist das „Nützliche“ an einer Stimme für Philippe Poutou: Ein Kampf für ein Klassenbewusstsein, das auf den gegenseitig anwachsenden Klassenhass in Frankreich antworet: Die Kapitalist*innen sollen die Krise bezahlen – anstatt dass Linksreformist*innen die Krise etwas besser verwalten.
Auch die Linke in Deutschland täte gut daran, nach Frankreich zu schauen: Vielleicht lässt sich auch hierzulande dem common sense von Rot-Rot-Grün ein neuer common sense der Arbeiter*innen entgegensetzen.

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