Kriegsgefahr zwischen der Türkei und Syrien?

21.10.2012, Lesezeit 25 Min.
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Als Anfang Oktober Bomben aus Syrien in der Türkei einschlugen, eröffnete die türkische Artillerie das Feuer auf syrische Ziele. Das türkische Parlament ermächtigte die Regierungspartei AKP mit Unterstützung der faschistischen Partei MHP dazu, Krieg zu führen, während die republikanische Volkspartei und die kurdische Partei BDP (Partei des Friedens und der Demokratie) sich gegen diese Kriegserklärung gestellt und mit Nein abgestimmt haben. Die Kriegserlaubnis des Parlaments ist dabei nicht auf ein Land beschränkt, es könnte irgendein beliebiges Land angegriffen werden.

Am selben Tag reagierten diverse linke und demokratische Gruppierungen mit großen Demonstrationen gegen den Krieg. Die größte fand in Istanbul mit 20.000 TeilnehmerInnen statt.

Die Büchse der Pandora: Syrien

Am 1. April dieses Jahres trafen sich VertreterInnen von 70 Staaten unter der Führung der imperialistischen Staaten in Istanbul, um Teile der syrischen Opposition in ihre Bahn zu ziehen und für einen möglichen imperialistischen Angriffsplan Zustimmung zu finden.

Der arabische Frühling ist eine Massenbewegung für Brot und Freiheit. Die ImperialistInnen haben die alten Führungen fallen gelassen, die sie nicht mehr halten konnten. Denn auch bürgerliche Demokratien können proimperialistische Politik in der Region betreiben, wofür die Türkei das beste Beispiel ist. Warum fürchten sie sich dennoch vor solchen Bewegungen?

Der Imperialismus ist verzweifelt. Einerseits steckt er selbst in der größten Wirtschaftskrise seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts, anderseits begannen auch im arabischen Raum politische Kämpfe, die den Interessen des Imperialismus zuwider laufen könnten. Falls der Öllieferant arabischer Raum außer Kontrolle geraten würde, würde die Krise noch härter als es bisher der Fall ist. Der Angriff auf Libyen hat gezeigt, dass sich schnell zwei imperialistische „Blöcke“ gebildet haben. Deutschland hat mit Russland einen Block gebildet, indessen Frankreich, England und USA einen anderen Block gebildet haben. Wenn auch dieser „Block“ sich nicht verfestigt hat, zeigt es, dass die Tendenz zur momentanen Übereinstimmung im arabischen Raum eine Täuschung ist. Russland und China verweigern sich, die imperialistischen Interessen in Syrien zu akzeptieren, dennoch sind sie weit davon entfernt, dem Imperialismus ein Gegengewicht entgegen zu stellen.

Der Krieg in Syrien fordert unmittelbar sehr viel Geld, selbst wenn langfristige Gewinne zu erwarten wären. Ein militärischer Angriff auf Syrien würde die finanziellen und militärischen Möglichkeiten des Imperialismus durchaus hart fordern. Das Geld wird gerade gebraucht, um die Semi-Kolonisierung des europäischen Raums voranzutreiben und für die vorübergehende Rettung und Stabilisierung der eigenen Banken.

Auf das Risiko, dass der syrische Konflikt schnell die Möglichkeiten und Grenzen des Imperialismus belastet, können die ImperialistInnen nicht so einfach eingehen. Einerseits ist die Einheit der syrischen Opposition nicht gewährgeleistet und anderseits kann die kurdische Bewegung diesen Konflikt auf vier Länder ausbreiten. Genauso kann die Tatsache, dass drei dieser Länder unter schiitischer Führung stehen (Iran, Irak und Syrien; während im Libanon eine starke Hisbollah aufgestellt ist), eine Kettenreaktion auslösen. Es bedarf für einen Angriff auf Syrien viel mehr Sicherheiten für den Imperialismus.

Die Türkei ist weder wirtschaftlich noch militärisch in der Lage, den syrischen Krieg zu bewältigen. Der Imperialismus kann nicht auf die Türkei mit so vielen Schwächen und Problemen zählen und möchte nicht die Büchse der Pandora aufmachen. Zur Zeit kämpfen Deutschland und die USA (mit Unterstützung von den wirtschaftlich angeschlagenen Ländern Frankreich, Spanien, Italien) um die Vormacht in europäischen Raum. Deutschland ist hauptsächlich im europäischen Raum eine direkte Konkurrenz gegenüber den USA; in den anderen Teilen der Welt ist die Vormachtstellung der USA noch nicht angetastet, geschweige denn in Frage gestellt. Trotz der Abschwächung und Dekadenz der US-Hegemonie wird dies vorerst so bleiben, bis ein ebenbürtiger Nachfolger die Macht der USA in Frage stellt.

Ein Grund dafür ist, dass Deutschland keinen militärischen Apparat zur Verfügung hat (die Annäherung mit dem militärisch starken Russland während des Libyen-Krieges war kein Zufall), mit dem er weltweit agieren könnte, wie die USA. Zweitens geschieht der entscheidende Kampf – trotz der enormen Bedeutung des arabischen Raums – für den Imperialismus im europäischen Raum und in den USA. Die USA versuchen eine inflationäre Geldpolitik innerhalb der EU durchzusetzen, wo sie sich mit einem starken Dollar gegenüber einem geschwächten Euro als Folge dieser inflationären Geldpolitik bei der Restrukturierung und Kolonisierung eigener Märkte einen Vorteil zu schaffen hoffen. Deutschland weiß auch: Wenn es seine führende Stellung innerhalb der imperialistischen Weltordnung ausbauen will, muss es erst mal die Schlacht um den europäischen Raum gewinnen: Dieser ist der Schlüssel für die anderen Gebiete im Rest der Welt, einschließlich des US-amerikanischen Marktes.

Die finanzielle Abhängigkeit der arabischen Länder von den imperialistischen Zentren ist dafür verantwortlich, dass die Herrschenden von diesen Ländern sich den imperialistischen Diktaten beugen. Es ist so, dass in diesen Ländern die Parteien an die Macht katapultiert werden, die die Interessen der eigenen Bourgeoisie mit denen der ImperialistInnen am besten in Einklang bringen können. In diesem Abhängigkeitsverhältnis müssen die bürgerlichen Parteien zwischen beiden Interessen (eigener und imperialistischer Bourgeoisie) vermitteln.

Die Interessen der Bourgeoisie in Ägypten, Syrien, Libyen, Tunesien wurden in der Vergangenheit durch die starken Staats- und Armeeapparate wahrgenommen und umgesetzt. Diese regulierte Staatswirtschaft ließ eine kapitalistische Wirtschaft nach einem Plan entstehen, die nie richtig funktionieren kann. Eine bürgerliche Wirtschaft setzt eine Konkurrenz unter Unternehmen voraus – doch stattdessen bestimmte der Staatsapparat, welche Zweige und Unternehmen gefördert oder Zugang zu den Märkten gewährt bekommen sollen. Diese Art des Kapitalismus kann in Ausnahmezuständen von der eigenen Bourgeoisie geduldet und unterstützt werden, aber nur in begrenztem Maße. Denn durch den vom Staatsapparat kontrollierten Kapitalismus wird auch die Entwicklung bestimmter Bereiche des Kapitalismus verhindert.

In Tunesien und Ägypten sollen jetzt neue Regierungen das Verhältnis zu den imperialistischen Mächten im Rahmen des Kapitalismus neu ordnen. Eine bürgerliche Demokratie setzt voraus, dass die kapitalistische Wirtschaft organisatorisch und politisch stark genug ist. Das ist hier bisher nicht der Fall. Die revolutionären Bewegungen in diesen Ländern wurden durch die ArbeiterInnen und Armen gestartet. Durch die kapitalistische Krise in die Höhe getriebene Getreidepreise lösten eine Protestbewegung der ArbeiterInnenklasse, eingeschlossen die Arbeitslosen, aus. Die Führung dieser Bewegungen wurde in Abwesenheit einer revolutionären Partei durch die bürgerlichen Parteien übernommen. Während die ArbeiterInnenklasse hauptsächlich Arbeit und Brot fordert, formulierten die bürgerlichen Parteien ihre Forderungen nach einer nationalen Ehre, mehr Demokratie, einer anderen Behandlung durch die imperialistischen Mächte. Die Erfüllung der beiden Arten der Forderungen sind mit der Absetzung der damaligen Regierungen verbunden. Daher befanden sich die beiden Klassen in denselben Reihen, obwohl sie grundsätzlich verschiedene Forderungen vertraten, durch die Gemeinsamkeit gegen die Regierung. Aber die neuen Regierungen können nicht gleichzeitig die Erwartungen aus der ArbeiterInnenklasse erfüllen und den Anforderungen der ImperialistInnen entgegenkommen. Die Wirtschaftskrise lässt den Imperialismus in der Region keine Zugeständnisse machen. Zwischen den beiden Polen werden die bürgerlichen Regierungen zermahlen.

In Libyen griffen die ImperialistInnen sehr schnell Gaddafis Herrschaft an. Das hing damit zusammen, dass die Führung der Protestbewegung von den Kräften übernommen worden ist, die sich mit den ImperialistInnen gegen Gaddafi verbündeten. Die NATO war bereit in Kauf zu nehmen, Libyen in zwei Stücke zu teilen. Die Opposition gegen Gaddafi wurde unter die Schirmherrschaft der ImperialistInnen gestellt. Dass in Libyen keine politische Einheit herrschte, sondern eine Einheit durch die ImperialistInnen, zeigte sich durch den kürzlichen Überfall auf das US-Konsulat. Die Einheit zerfiel, sobald Gaddafi wegfiel. Das Land ist seitdem im Chaos. Syrien ist der nächste Halt der imperialistischen Invasionen. Libyen hat nicht ausgereicht, die Massenbewegungen im arabischen Raum zu zügeln und unter Kontrolle zu bringen.

Die „Freunde Syriens“ schreiben in der Abschlusserklärung der Istanbuler Konferenz unter Punkt 8 das Folgende: „during the political transition, it is essential that Syrian institutions be preserved and reformed.“ Eine klare Warnung an die syrischen Massen, keinen Schritt weiter zu gehen. Dabei konnten die Freunde Syriens aber die verarmten Massen und die KurdInnen nicht für sich gewinnen.

Syrien und die kurdische Frage

Besorgniserregend ist der syrische Konflikt für die Türkei nach der Herausbildung der kurdischen Regionalregierung im Irak. Die türkische Regierung befürchtet, dass sich eine neue regionale, kurdische Macht in Syrien bilden könnte, wenn sie wie im Irak nicht intervenierte.

Nach den ersten Kämpfen gab die Regierung in Damaskus der kurdischen Bevölkerung in Syrien volle BürgerInnenrechte, bis dahin hatten die KurdInnen in Syrien keine Staatsbürgerschaften. Zur Zeit halten sich die KurdInnen von beiden Fronten (Regierung in Damaskus und Freunde Syriens) fern. Die kurdischen Peschmargas sind bereits in Westkurdistan einmarschiert und wollen die kurdische Bevölkerung vor Angriffen seitens der Türkei, Syriens oder der syrischen Opposition verteidigen.

Die Bewegung der ArbeiterInnen und Arbeitslosen konnte sich bisher nicht auf die Zentren, wie zum Beispiel Damaskus, ausweiten. Ein Teil der syrischen Bourgeoisie unterstützt die Assad-Regierung, dieser Teil ist alawitisch, christlich und sunnitisch. Die Türkei argumentiert, um die eigene sunnitische Basis aufzuhetzen, dass die sunnitische Minderheit unter alawitischer Diktatur unterjocht sei.

Nach jahrelanger Besetzung des Iraks haben die USA eine Regierung an die Macht gestellt, die nicht bereit ist, eine antiiranische Haltung einzunehmen. Die schiitische Mehrheit im Irak hat bisher nicht die Angriffspläne der ImperialistInnen auf Iran und Syrien akzeptiert. Die libanesische Hisbollah ist auch eine Kraft, die mit der syrischen Regierung in Damaskus sehr enge Beziehungen hat. Diese kurze Ausführung zeigt nur, dass ein möglicher Angriff auf Syrien unberechenbare Folgen haben könnte. Um diese unberechenbaren Folgen zu zähmen, suchen die ImperialistInnen eine vereinheitliche Opposition in Syrien.

Die Türkei lernte nach dem Abschuss eines ihrer Flugzeuge durch syrische Abwehrkräfte ihre Grenzen kennen. Sie wollte einen Krieg provozieren, indem sie in die Offensive ging. Die Türkei wurde darin aber nicht von den imperialistischen Mächten unterstützt, geschweige denn, dass ihre Führungsansprüche in irgendeiner Weise akzeptiert worden wären. Die Türkei musste ihre aggressive Politik verwerfen. Dennoch hat die Türkei in den letzten Wochen wieder eine aggressive Haltung eingenommen. Die Frage ist warum?

Die Bombenangriffe wegen 10 KM

Die syrische Opposition kann seit Monaten keine Erfolge erzielen. Sie kontrolliert lediglich die Grenze zur Türkei, wird dabei von der türkischen Regierung unterstützt. Doch die braucht formelle Anlässe, um offensiver werden zu können. Die Raketenangriffe, ob von der syrischen Regierung durchgeführt, oder nicht, boten die gesuchte Rechtfertigung.

Um aus der Krise herauszukommen, braucht die Türkei eigene Märkte. Der Kampf um die Märkte in Syrien ist ein Überlebenskampf der türkischen Bourgeoisie. Falls das Assad-Regime fällt, wird die Türkei an sehr viele staatliche Aufträge kommen und die türkische Bourgeoisie kann ihre Krise überwinden.

Die türkische Bourgeoisie schwankt daher zwischen beiden Polen: einerseits die wirtschaftliche Notwendigkeit, Syrien anzugreifen und die Opposition in Syrien zu unterstützen; anderseits die momentane Stärke der PKK in der Türkei, die Existenz einer de facto kurdischen regionalen Macht in Syrien, der Widerstand gegen einen Angriff in der Türkei und die fehlende Unterstützung durch die ImperialistInnen für einen Angriff. Die Handlungsräume der türkischen Bourgeoisie sind außerdem noch eingeengter, weil sie unter die Räder der Wirtschaftskrise geraten ist und sich zur Zeit in einer Rezession befindet.

Die Türkei kann wie bisher laut Töne von sich geben und keinen Angriff starten, was wahrscheinlich ist, oder einen Angriff auf Syrien beginnen. Das Zweite würde für die türkische Bourgeoisie bedeuten, alles auf eine Karte setzen. Die dafür nötige Anstrengung innerhalb der türkischen Bourgeoisie, um die Kraft der nationalen Bourgeoisie zu sammeln, ist dennoch nicht vorhanden. Manchmal wählt die Bourgeoisie aber irrationale Alternativen, um rationale Ziele zu erreichen. Die Türkei versucht zur Zeit, Syrien mit allen Mitteln zu provozieren. Kürzlich wurde eine syrische Passagier-Flugmaschiene von Moskau nach Damaskus von türkischen Kriegsflugzeugen gestoppt und zur Landung gezwungen. Das Ziel ist klar: Syrien dazu bewegen, einen Fehler zu machen, womit die Türkei einen Angriff rechtfertigen und auf die NATO zurückgreifen kann. Ohne imperialistische Unterstützung kann die Türkei keinen Krieg beginnen.

Der Syrien-Krieg und die Linke

Ein wichtiger Teil der Linken in der Türkei sieht in diesem Konflikt ein großes Projekt der USA und Israels. Die Mehrheit der Linken in der Türkei verteidigt Syrien, ohne Assad zu kritisieren. In der Erklärung, die am Taksim-Platz vorgelesen wurde, stand: „Wir werden nicht zulassen, dass die AKP-Regierung mit Märchen im Nahen Osten eine führende Kraft wird, und im Auftrag des Imperialismus, unser Land gegen die Nachbarvölker zu einem Krieg treibt. Wir werden keinen Krieg gegen Syrien erlauben.“ Die türkische Bourgeoisie wird nur in Person Erdogans angegriffen. Die Interessen der türkischen Bourgeoisie in diesem Konflikt werden nicht erwähnt. Der Imperialismus wird als Gespenst für alles verantwortlich gemacht.

Daher ist es vonnöten, auf die Verantwortung und die eigenen Handlungen der türkischen Bourgeoisie in einer imperialistischen Welt einzugehen. Der Hauptfeind steht im eigenen Land, auch in der Türkei. Die Türkei konnte bisher keine regionale Macht werden, geschweige denn ein imperialistisches Land werden. Dennoch will die türkische Bourgeoisie an der Durchführung der Interessen der ImperialistInnen beteiligt sein. Über die konkrete Durchführung gibt es bisher keine Einigung. Daher gibt es momentan keine scharfe Trennung, die Türkei einerseits und der Imperialismus anderseits. Die türkische Bourgeoisie handelt gerne mit dem Imperialismus, aus eigenem Willen heraus. Dennoch versucht die Türkei, begrenzt ihren eigenen Willen durchzusetzen, wo es keine Überstimmung mit den imperialistischen Zentren gibt. Das führt auch zur Anspannung zwischen der Türkei und dem Imperialismus. Das ist die graue Zone, wo sich Saddam vor dem Angriff auf Kuwait befand.

Die Kriegsmaschine in der Türkei ist im Rollen. Die proimperialistischen Kräfte in Syrien werden mit Geld und Waffen unterstützt. Die armen Schichten der syrischen Gesellschaft konnten bisher keine politische Führung hervorbringen. Die schwachen Tendenzen zur eignen Organisation werden von den beiden Seiten in Syrien gleichermaßen bekämpft. Die ideologische und organisatorische Akkumulation der unteren Schichten der syrischen Gesellschaft kann sich ohne eine revolutionäre Organisation in Syrien nicht entwickeln. Das führt auch dazu, dass sich einige Teile der Linken verpflichtet fühlen, zwischen zwei Positionen zu entscheiden, zwischen Imperialismus und Assad-Regierung.

Es ist daher eine revolutionäre Aufgabe in den imperialistischen Zentren, die objektiven Interessen der ärmeren Schichten der syrischen Bevölkerung zum Ausdruck zu bringen. Die ArbeiterInnenklasse ist international, das heißt, dass die Interessen der ArbeiterInnenklasse in Syrien auch die Interessen der weltweiten ArbeiterInnenklasse bilden. Eine aufklärende Massenmobilisierung eingebettet in einer anti-imperialistischen Strategie für eine unabhängige Perspektive in Syrien kann die Möglichkeit anbieten, international eine anti-imperialistische Politik zu verwirklichen. Eine internationalistische Politik in Syrien muss dabei mit der Anerkennung des Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes die Unterdrückten in diesem Land vereinen.

Der deutsche Imperialismus führt zur Zeit „Kriege“ um die Gesetzentwürfe, Sparprogramme, Verordnungen, Posten innerhalb der EU. Diese Sachen bestimmen den Grad der Ausbeutungsmöglichkeit der deutschen Bourgeoisie innerhalb der EU. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass dieser „Krieg“ auf andere Gebiete überschlägt. Die Rolle der ImperialistInnen im Syrienkonflikt ist somit auch ein Teil der Analyse der Wirtschaftspolitik der EU. Mit der Verschärfung der Krise sind die EU-Länder auch gezwungen, militärisch aggressiv zu werden, um die Gewinne aus dem Ausland zu sichern. Deutschland verspricht der eigenen Bevölkerung Wohlstand auf Kosten der ArbeiterInnenklasse im Rest der Welt. Die Wirtschaftskrise erschüttert inzwischen auch Deutschland. Die nächste Krise ist wieder in der Autoindustrie. Die „rosige“ Einschätzung, Deutschland könne so weiter die anderen Ländern kolonisieren, ist ein Irrtum. Solange Deutschland die militärische Übermacht der anderen imperialistischen Länder (USA, Frankreich, England) nicht zurückdrängen kann, kann es seine wirtschaftlichen Interessen nicht durchsetzen.

In Deutschland ist es daher heute die Aufgabe, sich gegen den Krieg in Syrien zu positionieren, aber gleichzeitig die revolutionäre Überwindung des Assad-Regimes zu fordern, und sich somit auch gegen die eigene imperialistische Bourgeoisie zu stellen.

  • Nieder mit Assad und seinem ganzen Regime!
  • Gegen jede militärische Intervention in Syrien, durch den Imperialismus oder seine Helfershelfer!
  • Weder Assad noch Imperialismus! Für eine unabhängige Perspektive der syrischen ArbeiterInnen und armen Massen!
  • Für das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes! Für ein sozialistisches Kurdistan!

Hintergrund: Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse der Türkei

Die türkische Bourgeoisie versucht, im Syrienkonflikt eine führende Rolle einzunehmen. Die positive Bezugnahme einiger islamischer Kräfte in Ägypten, Tunesien und in den anderen arabischen Ländern auf die Erfahrung der AKP-Regierung in der Türkei hat die AKP ermutigt, im Syrienkonflikt dominant aufzutreten. Die Türkei befindet sich in einem wirtschaftlichen Aufschwung, der aber bereits merklich bröckelt. Die ganze Politik der türkischen Regierung in Bezug auf Syrien ist daher ein verzweifelter Versuch, dem wirtschaftlichen Zerfall ein Ende zu setzen.

In der Vergangenheit hat die konservative, islamische Partei AKP die Interessen der türkischen Bourgeoisie am Effizientesten durchgesetzt. Die Beschränkung der Macht des Staats- und Militärapparates und die Privatisierung des öffentlichen Sektors und vieler Betriebe führten zu einem wirtschaftlichen Aufschwung und dazu, dass die türkische Bourgeoisie sich hinter die AKP stellte, bis auf einen Sektor der Istanbuler Bourgeoisie, der seinerseits mit dem Staats- und Militärapparat eng verbunden war. Diese Umverteilung der Macht war notwendig geworden, weil die türkische Bourgeoisie insgesamt die Obhut des Apparates nicht mehr brauchte, wodurch die türkische Bourgeoisie gerade in den kurdischen Gebieten wachsen konnte, während die Macht des Militärapparats beschränkt wurde. Der Staats- und Militärapparat hatte in der Vergangenheit die Geschäfte der schwachen Bourgeoisie geregelt. Das gab diesem Apparat eine bestimmte Handlungsfreiheit. Zuletzt konnte das Militär aber 1998 die Regierung putschen, ohne die Macht zu übernehmen. Die letzten Putschversuche gegen die AKP-Regierung genossen weder in der Türkei noch in den imperialistischen Zentren Unterstützung und die PutschistInnen mussten aufgeben, bevor sie tatsächlich anfangen konnten.

Die türkische Bourgeoisie erstarkte in Folge der Privatisierungswelle und den Beschränkungen der sozialen Rechte der ArbeiterInnenklasse. In diesem Zuge begann die türkische Bourgeoisie auch in Nordkurdistan ihre Geschäfte auszubauen. Die kurdische Bourgeoisie vergab sehr viele Aufträge, gerade im Baugeschäft, an türkische Unternehmen. Aber dennoch gilt: Die Voraussetzung der Ausdehnung der türkischen Geschäfte in Nordkurdistan ist die Lösung der kurdischen Problematik in der Türkei. Die ökonomischen Zwänge der türkischen Bourgeoisie machten eine politische Lösung nötig. Der türkische Staats- und Militärapparat hatte sich gerade durch die Unterdrückung und Ausbeutung Kurdistans gerechtfertigt. Um aber eine politische Lösung der kurdischen Frage möglich zu machen, wurde die (säkulare) Staats- und Militärordnung zunehmend aufgegeben und stattdessen eine Lösung über den Umweg der Vernetzung von religiösen, sozialen und wirtschaftlichen Eliten gesucht. Die sogenannte Gülen-Bewegung, ein international ausgerichtetes, religiöses Netzwerk der türkischen Klein- und Großbourgeoisie, ist der Prototyp einer solchen Vernetzung.

Zwischen der Gülen-Bewegung und der AKP-Regierung gibt es aber in den letzten Jahren Konflikte. Die Einigkeit stieß an ihre Grenzen und die beiden Kräfte begannen, eigene Interessen zu verfolgen. Die AKP-Regierung vertritt sehr verschiedene bürgerliche Sektoren; sie ist inzwischen eine Koalition diverser Sektoren geworden. Sie hat bis auf die faschistische MHP eigentlich alle rechten Parteien erledigt und sich deren Basis einverleibt.

Die Türkei versuchte regional ihre Macht durchzusetzen, um der eigenen Bourgeoisie mehr Märkte zu erschließen und Ellenbogenraum zu schaffen, als diese Passive Revolution aufgrund der wirtschaftlichen Schwäche abgebrochen werden musste[1]. Die Türkei versucht gerade eine Ausweitung ihrer politischen Macht, ohne die wirtschaftliche Stärke zu haben, die eigentlich die Gülen-Bewegung zusammenbringen wollte; stattdessen wird wieder stärker auf den militärischen Apparat und islamische Ideologie gesetzt.

Die Türkei warf sich in eine Menge Projekte, um eine regionale Macht zu werden. Gerade in Zypern und Kurdistan sehen wir die Entwicklungslinie der türkischen Bourgeoise sehr deutlich.
Das Versprechen die Zypernfrage im Sinne der EU zu lösen, scheiterte mit dem Annanplan. Die Türkei wollte ein vereinigtes Zypern durch diesen Plan aufbauen, wollte noch eine Macht im neuen Zypern sein. Der Annanplan war ein Versuch, zwischen den Interessen der türkischen, griechischen, englischen und amerikanischen Mächte ein Gleichgewicht in Zypern zu finden.

Die türkische Bourgeoisie musste angesichts der Wirtschaftskrise ihre Ausbeutung in Zypern intensivieren. Die Gesetze, die die Privatisierung in Nordzypern beschleunigten und damit für die türkische Bourgeoisie Interventionsmöglichkeiten durchgesetzt haben, führten in Nordzypern zu Widerstand, sowohl der ArbeiterInnenklasse als auch von Teilen der schwachen lokalen Bourgeoisie.

Die Türkei versprach auch eine andere kurdische Politik. Unter der AKP wurden sehr viele individuelle und kulturelle Rechte der KurdInnen anerkannt. Viele linksliberale Kräfte erhofften sich durch die AKP-Regierung einen demokratischen Wandel. Aber letztlich ging es um eine Optimierung im Staatswesen nach den Interessen der türkischen Bourgeoisie, nachdem das alte System völlig gescheitert war. Die versprochenen demokratischen Rechte stehen weiterhin allein auf dem Papier, deren Durchsetzung erst durch den Klassenkampf erreicht werden kann. Und auch dieser Prozess wird von vielen Konflikten innerhalb der Bourgeoisie begleitet, denn auch wenn das koloniale Verhältnis zu den KurdInnen sowohl von der Gülen-Bewegung als auch von der AKP weitergeführt werden soll, sind sie in der konkreten Ausführung der Taktiken nicht einig.

Gleichzeitig war der Sommer 2012 der Sommer, wo der türkische Staat die Kontrolle über bestimmte Regionen in der Türkei verloren hatte und sehr viele militärische Verluste erlitten hatte. Die Türkei hatte fast zeitgleich mit der Wirtschaftskrise die kurdische Politik geändert. Die Türkei fuhr eine harte Linie gegen die Forderungen der kurdischen BDP. Die Verhandlungen mit der PKK wurden abgebrochen und es wurden sehr viele kurdische AktivistInnen verhaftet. Die türkische Bourgeoisie gab ihr Projekt auf, bzw. musste es stark umändern [2].

Die türkische Bourgeoisie träumte einmal von der militärischen Eroberung der kurdischen Gebiete. Eine große Türkei sollte dank der militärischen Stärke aufgebaut werden. Seitdem sie in die Illusionen verfallen ist, eine bestimmte wirtschaftliche Stärke (die Gülenbewegung verkörpert diesen wirtschaftlichen Wandel) erreicht zu haben, will sie unbedingt diese Gebiete wirtschaftlich kolonisieren. Da sie aber diese Gebiete wiederum nicht wirtschaftlich unterwerfen kann, weil durch die Wirtschaftskrise die türkischen Bourgeoisie an Macht eingebüßt hat, muss sie wieder auf den Militärapparat zurückgreifen. Durch die Aufstände und Massenbewegungen in den arabischen Ländern einerseits und die imperialistischen Angriffe auf diese andererseits musste auch die Türkei in Erfahrung bringen, dass sie, wenn sie nicht militärisch aktiv wird, nicht so leicht an die Aufträge in dieser Region herankommen und die alten Geschäftsbeziehungen verlieren wird, während keine neuen entstehen.

Fußnoten

[1.] Passive Revolution ist ein Begriff, der vom italienischen Kommunisten Antonio Gramsci geprägt ist. Die italienische Bourgeoisie erreichte historisch ihre nationale Vereinigung mit einem sehr langen Prozess ohne Revolutionen, von oben durchgesetzt statt durch Massenbewegungen von unten.

[2.] Die AKP führt sehr wahrscheinlich wieder geheime Verhandlungen mit der PKK. Dies legen die letzten Aussagen Erdogans nahe. Die „Zuckerbrot und Peitsche“-Methode soll die Interessen der türkischen Bourgeoisie vorantreiben. Die Unmöglichkeit, die PKK militärisch zu schlagen, zwingt die türkische Bourgeoisie zum Verhandlungstisch. Gegenüber der PKK tritt die türkische Bourgeoisie, einschließlich AKP und Gülen-Bewegung, vereint auf. Diese Zickzackpolitik verdankt die türkische Bourgeoisie ihrer Unfähigkeit, militärisch, politisch und wirtschaftlich ihre Ziele zu erreichen.

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