Kongress von RIO: marxistische Strategie für den Kampf gegen Inflation und Krieg

15.09.2022, Lesezeit 10 Min.
1
Foto: Ayrin Giorgia (KGK)

Vom 9. bis 11. September fand in München der Kongress der Revolutionären Internationalistischen Organisation statt, die Klasse Gegen Klasse herausgibt. Im Fokus standen die “Zeitenwende” mit dem Ukraine-Krieg, die sich verändernde Klassenkampfdynamik angesichts der steigenden Inflation und die Notwendigkeit, eine offensive Intervention in die Anti-Krisen-Proteste mit einem starken antiimperialistischen und sozialistischen Profil der Jugend und der Arbeiter:innenklasse zu verbinden.

Am vergangenen Wochenende versammelten sich in München mehr als 60 Genoss:innen und Sympathisant:innen der Revolutionären Internationalistischen Organisation aus verschiedenen Städten Deutschlands, um über die Aufgaben von Revolutionär:innen angesichts der historischen Krise zu diskutieren, in der die Welt sich befindet. Begleitet wurden sie von einer starken Delegation revolutionärer Aktivist:innen aus Italien, Frankreich und dem Spanischen Staat, die auf dem Kongress mit aktiven Beiträgen die Analyse und die Orientierung für die kommende Periode bereicherten und ein lebendiges Beispiel eines organischen Internationalismus zeigten.

Drei Tage lang diskutierten die Anwesenden in mehreren Sitzungen mit jeweils dutzenden Beiträgen von langjährigen und neuen Genoss:innen über die neuen Tendenzen in der internationalen Situation seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs, über die militaristische „Zeitenwende“ der deutschen Bourgeoisie und über die sich verändernde Klassenkampfsituation angesichts der Inflationskrise. Aus dieser Situation ergibt sich die Notwendigkeit, für ein antiimperialistisches und sozialistisches Programm gegen die Inflation, die imperialistische Aufrüstung und den Krieg einzutreten, entgegen der Logik des geringeren Übels des Reformismus und der falschen Alternative der extremen Rechten. Gleichzeitig wurden auf dem Kongress wichtige Resolutionen getroffen, um die Herausforderung des Aufbaus einer revolutionären sozialistischen Organisation im Herzen des imperialistischen Riesen Deutschland aufzunehmen, darunter der Aufbau in der Arbeiter:innenbewegung und der studentischen Jugend und eine Offensive für die Ideen des Marxismus. Zu all diesen Punkten werden wir in den kommenden Tagen und Wochen tiefere analytische und programmatische Artikel veröffentlichen, um die Kongressdebatten einem breiten Publikum zur Verfügung zu stellen.

Der RIO-Kongress fand zum ersten Mal in München statt, einer Stadt, die oftmals mit Prunk statt mit Klassenkampf assoziiert wird. Das Stadtviertel Giesing jedoch, in dem die ersten beiden Kongresstage stattfanden, war 1919 Schauplatz des offen ausgetragenen Klassenkampfes. Lange Zeit war es eine der Hochburgen der Arbeiter:innenbewegung der Landeshauptstadt. Als im Frühjahr 1919 die bayerische Räterepublik von reaktionären Freikorps bedroht wurde, war Giesing eines der am heißesten umkämpften Viertel, nirgends erwehrten sich die revolutionären Arbeiter:innen Münchens hartnäckiger dem weißen Terror der konterrevolutionären Truppen.

Die Rückkehr der offenen Konfrontation zwischen den Großmächten

Auch wenn wir heute noch nicht in revolutionären Zeiten wie unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs leben, ist die Weltlage längst wieder instabiler: Die Tendenzen zu offenen Konfrontationen – politisch, ökonomisch und zunehmend auch militärisch – zwischen Großmächten sind zurück, die Periode der „friedlichen“ Globalisierung (die außerhalb der imperialistischen Zentren dennoch nie friedlich war) ist an ihr Ende gelangt. Damit kommt das „kapitalistische Gleichgewicht“ ins Wanken, was nicht nur die Tendenzen zu Krisen und Kriegen erneuert, sondern auch die zu schärferen Klassenkämpfen bis hin zu Revolten und perspektivisch auch Revolutionen und Konterrevolutionen.

Der Krieg in der Ukraine hat dem deutschen Imperialismus den Anlass geboten, eine militaristische “Zeitenwende” zu verkünden. Der enormen Welle von staatlichem Militarismus aller Seiten im Ukraine-Krieg stellen wir die Losung “Weder Putin noch NATO” entgegen und werben für eine Anti-Kriegs-Bewegung in Russland, die der Ausgangspunkt für ein revolutionäres Ende von Putins reaktionärer Regierung wird, während wir zugleich in den NATO-Staaten gegen die Aufrüstungspolitik und den Militarismus der imperialistischen Mächte kämpfen. In der Ukraine selbst braucht der Widerstand gegen die russische Besatzung eine Perspektive, die unabhängig von der von Selenskyj gepredigten Unterordnung unter die NATO ist.

Die veränderte Weltlage als Folge des Krieges in der Ukraine führt zu einer beispiellosen Energiekrise und einer seit Jahrzehnten nicht mehr gekannten Inflationsspirale in den imperialistischen Zentren. Hierzulande ist es besonders die Gaskrise, die die sogenannte Fortschrittskoalition im Interesse der Konzerne auf die Massen abwälzen will. Auch die Pandemie ist in ihrem dritten Jahr nicht besiegt und fordert weiterhin tagtäglich etliche Tote. Die Flut in Pakistan und die Hitzewellen in Europa führen uns drastisch vor Augen, dass die Klimakrise bereits heute stattfindet.

Diese tiefgreifenden Veränderungen haben aus dem imperialistischen Deutschland, das jahrzehntelang eine „Insel der Stabilität“ in der EU war, ein Zentrum der Unsicherheit gemacht, mit rezessiven Tendenzen in Verbindung mit hoher Inflation und einer tiefen Krise des deutschen Exportmodells: Die deutsche Wirtschaft hat sich zum einen auf billiger Arbeitskraft, oft aus Osteuropa, mit dem europäischen Binnenmarkt und mit der Währungsunion aufgebaut. Zum anderen auf billigen Rohstoffen, etwa Gas aus Russland, und dem Waren- und Kapitalexport in Länder wie China. Dieses Modell steht nun grundlegend in Frage. Das ist – trotz aller konjunkturell stabilisierender Maßnahmen, die die Ampelkoalition in Form von Entlastungspaketen und Rettungsschirmen durchführt – ein tiefgreifender Etappenwechsel, eine “Zeitenwende” nicht nur im militärischen, sondern auch im ökonomischen Sinne.

Die Rückkehr des Klassenkampfes

Angesichts der Inflationskrise haben sich in verschiedenen Ländern Europas Tendenzen zu Streiks quer durch alle Sektoren entwickelt, insbesondere in Großbritannien mit der Teilnahme von hunderttausenden Arbeiter:innen. Diese Streiks reihen sich ein in eine Tendenz zur Rückkehr des Klassenkampfes, die – nur zum Teil unterbrochen durch die Pandemie – seit 2018 mit den Protesten der Gelbwesten in Frankreich oder der Revolte in Chile 2019, der BLM-Bewegung in den USA und in diesem Jahr mit Revolten unter anderem in Panama und Sri Lanka stattfindet.

Auch in Deutschland haben in den vergangenen Monaten eine Reihe von Streiks stattgefunden, die zum Teil sehr hohe Lohnforderungen zum Ausgleich der Inflation stellten oder Sektoren wie die Überseehäfen bewegten, die seit Jahrzehnten nicht gestreikt hatten. Zugleich halten die reformistischen Bürokratien der Gewerkschaften die Forderungen und Methoden der Streiks zurück, um den “sozialen Frieden” im Interesse der Ampelregierung aufrechtzuerhalten. Nichtsdestotrotz beginnt dieser “soziale Frieden” Risse zu bekommen, und ein “heißer Herbst” kündigt sich an. Die kommenden Streiks und Kämpfe zu begleiten und ihnen mit unserer Zeitung Klasse Gegen Klasse eine Bühne zu bieten, Solidarität zu organisieren und Lektionen für die kommende Phase des Klassenkampfs zu ziehen, um entgegen der Bürokratien Schritte im Aufbau einer antibürokratischen Strömung in den Gewerkschaften zu gehen, nehmen wir uns dabei als eine zentrale Aufgabe für die kommenden Monate vor.

Anfang September fanden zudem schon erste Demonstrationen gegen die Inflation und die Energiepreise statt, die noch eher klein waren, aber bei Analyst:innen und bei der Regierung die Sorge vor “sozialen Unruhen” schüren. Während die extreme Rechte diese Proteste demagogisch vereinnahmen will, versucht auch ein Teil der Linkspartei, mit sozialen Mobilisierungen aus der historischen Krise der Partei herauszukommen. Während die große Mehrheit der Parteiführung – innerhalb und außerhalb von Landesregierungen – die “nationale Einheit” während der Pandemie aufrecht erhalten und sich im Ukraine-Krieg hinter die Linie des deutschen Imperialismus gestellt hat, stellt sich der Flügel um Sahra Wagenknecht als soziale und pazifistische Alternative dar. Wagenknechts Linkspopulismus stellt jedoch die Interessen der deutschen Industrie vor die Interessen der rassistisch und sexistisch Unterdrückten.

Weder die “Wiederbelebung” der Linkspartei – einer Partei, die selbst seit 15 Jahren auf Länderebene in Regierungsverantwortung ist und Outsourcing, Abschiebungen und Polizeigewalt mitverantwortet – noch die Demagogie der extremen Rechten können eine Antwort auf die Krise bieten. Stattdessen diskutierten die Teilnehmer:innen des Kongresses über die Notwendigkeit von starken Mobilisierungen für ein Notfallprogramm gegen Inflation, Krise und Krieg: Ein Programm, dass von sofortigen Preisstopps für Energie, Lebensmittel und Mieten sowie einer automatischen Anpassung von Löhnen, Gehältern, Renten und Sozialleistungen an die Inflation, ausgeht, finanziert durch hohe Steuern auf Gewinne und Vermögen und die entschädigungslose Verstaatlichung des Energiesektors unter Arbeiter:innenkontrolle. Zugleich aber auch ein Programm, welches nicht bei ökonomischen Forderungen stehen bleibt, sondern den Kampf gegen die beispiellose Aufrüstung, die Sanktionen und die Vorbereitungen zukünftiger Kriege aufnimmt, für die Streichung der Schulden der abhängigen Länder eintritt und angesichts der wachsenden humanitären Katastrophe des Kriegs sowie der erzwungenen Migration durch die Klimakatastrophe für die bedingungslose Aufnahme und volle Staatsbürger:innenrechte und Aufenthaltsrecht für alle Geflüchteten und ein Ende aller Abschiebungen fordert. Ein Programm, welches nur durch Streiks und Mobilisierungen der Arbeiter:innen und der Jugend durchgesetzt werden kann.

Schritte im Aufbau einer revolutionären Organisation

Eine starke Agitationskampagne mit einem solchen klassenkämpferischen und antiimperialistischen Programm, gegen den Krieg und die Aufrüstung des deutschen Imperialismus, gegen die Inflation und für die Enteignung der Energiekonzerne war eine der zentralen Resolutionen des RIO-Kongresses. Mit einem solchen Programm schlagen wir eine Einheitsfrontpolitik gegenüber den Gewerkschaften und gegenüber der Linkspartei vor, aber insbesondere auch in Verbindung mit der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG), deren Konferenz am 8./9. Oktober zu einem Ausgangspunkt für einen klassenkämpferischen Pol in den kommenden Streiks und Protesten werden muss. Dazu wollen wir auch ausgehend von unseren eigenen gewerkschaftlichen Positionen insbesondere im Krankenhaussektor beitragen.

Außerdem wollen wir angesichts der sich verändernden Klassenkampfdynamik bundesweit Streiks und Kämpfe begleiten und um sie herum ein bundesweites Netzwerk von Korrespondent:innen unserer Zeitung aufbauen, damit Klasse Gegen Klasse zu einem tatsächlichen Werkzeug für die fortschrittlichsten Kämpfe unserer Klasse werden kann. So haben wir es etwa bereits mit unserer Berichterstattung zu den Hafen-Streiks gemacht, wo wir Interviews mit streikenden Kolleg:innen führten und die Zeitung als politisches Instrument im Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie nutzten, welche die Streiks klein halten wollten.

Dies kombinieren wir mit einer ideologischen Offensive an den Universitäten, mit unserer Zeitung und unserem Klasse Gegen Klasse Magazin. Denn nur im ideologischen und politischen Kampf mit dem Reformismus, insbesondere der Linkspartei, und mit den vorherrschenden Ideen der zentristischen, stalinistischen und autonomen Linken können wir Schritte gehen, nicht nur hier und da in soziale Kämpfe einzugreifen, sondern eine revolutionär-marxistische Tradition wiederzubeleben und einen Beitrag zum Aufstieg des Trotzkismus in Deutschland zu leisten. Auch wollen wir die Ideen des revolutionären Marxismus den angeblich fortschrittlichen, aber nicht-strategischen Vorstellungen von Strömungen wie zum Beispiel dem Postmodernismus entgegenstellen, die die Relevanz des Klassenkampfes verwässern.

Deshalb organisieren wir uns in RIO auf revolutionärer Grundlage für die Rechte aller Arbeiter:innen und Unterdrückten, für die Rechte der Jugend, gegen Rassismus, gegen Homo- und Transfeindlichkeit, gegen Sexismus. Wir wollen einen Beitrag leisten zum Aufbau einer revolutionären Weltpartei, die für die internationale proletarische Revolution kämpft, die aus den kommenden Revolten Revolutionen machen kann und für die künftigen Generationen eine andere Lebensgrundlage als einen zerstörten Planeten voller Armut und Krieg schafft. Wir treten ein für den Wiederaufbau der Vierten Internationale, weil wir nur mit den Werkzeugen des revolutionären Marxismus und im Kampf gegen jede Verfälschung durch Reformismus und Stalinismus eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung erlangen können.

Mehr zum Thema