Kommentar: Ein neues Urteil zur Normalisierung rassistischer Gewalt

15.11.2019, Lesezeit 9 Min.
Gastbeitrag

Am Landgericht in Berlin-Moabit wurde am Montag, den 4. Oktober, über einen anti-Roma rassistischen Mordversuch geurteilt. Während der Tat beschimpfte die weiße deutsche Angeklagte die angegriffene Familie als „Scheiß Zigeuner“ und „Dreckspack“. Im Gericht wurde trotzdem ausführlich darüber verhandelt, ob die Tat rassistischer Motivation entsprang. Das gibt Anlass über alltäglichen Rassismus - auch im Justizsystem - und dessen weitreichende Folgen für die nicht-weiße Bevölkerung in Deutschland nachzudenken.

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Foto: Umbruch Bildarchiv

Was war passiert?

Am 29. März stiegen die 59-Jährige Maria G., ihr Mann und ihr Schwager in eine Berliner U-Bahn und setzten sich hin. Unvermittelt wurden sie von einer weißen deutschen Frau rassistisch beschimpft: „Scheiß Zigeuner, was macht ihr hier?“ Dann zog die Frau ein Messer aus ihrer Tasche und attackierte alle drei mit gezielten Stichen gegen Maria G.s Nacken und in den Oberkörper von Marias Schwager. Die Täterin ließ nicht nach. Maria G., ihr Mann und ihr Schwager versuchten sich unter anderem mit einer Krücke zu schützen. Erst am U-Bahnhof Rehberge, als Maria G. und ihre Familie sich auf den Bahnsteig retten wollten, griff ein Passant ein, hielt mit großem Kraftaufwand die Angreiferin fest und konnte ihr das Messer entziehen. Sie schrie ihn an, ob er bescheuert sei, sie sei Deutsche und warum er ihr als Deutscher in den Rücken falle. Selbst als die Polizei und die Rettungskräfte eintrafen, behauptete die Angreiferin, sie sei von der Familie angegriffen worden. In der Gefangenensammelstelle beschimpfte sie Maria G., ihren Mann und ihren Schwager noch als „Dreckspack“. Wie durch ein Wunder wurde Maria G.s Halsschlagader bei dem Angriff nicht getroffen. Maria G.s Schwager erlitt mehrere Stichwunden an der linken Seite des Oberkörpers. Nur um wenige Zentimeter verfehlte die Angreiferin seine Lunge und sein Herz.

Am 23. September begann die Verhandlung am Landgericht Berlin. In sechs Verhandlungstagen wurden dabei mehrere Zeug*innen vernommen und Videomaterial gesichtet. Obwohl durch das Material und die Aussagen der Zeug*innen der rassistische Charakter der Tat eindeutig belegt werden konnte, mussten die Nebenklagevertreterinnen Nadija Samour und Ilil Friedman während der Verhandlung immer wieder detailliert argumentieren, dass ein rassistisches Tatmotiv tatsächlich vorlag. Die Verteidigung versuchte hingegen vehement die Motivation zur Tat primär auf die Borderline-Symptome der Angeklagten zurückzuführen. Die Bejahung eines rassistischen Motivs führt zu einem Mordversuch aus niederen Beweggründen. Ohne den Rassismus könnte die Angeklagte nur zu einem versuchten Totschlag und somit zu einer geringeren Freiheitsstrafe verurteilt werden.

Das Urteil: Unzureichend

Das Gericht urteilte erstaunlicherweise zwar, dass bei Marias G.s Schwager ein rassistischer Mordversuch vorlag, dass der Angriff auf Maria G. jedoch nur als schwere Körperverletzung zu werten sei. Die Stiche seien nicht gezielt genug erfolgt, dass von einer Tötungsabsicht gesprochen werden könne. Eine absurde Argumentation für die Nebenklagevertreterinnen sowie für die anwesenden Zuschauer*innen. Insgesamt hat das Urteil einen vermittelnden Charakter, denn einerseits wurde im Sinne der Nebenklage zumindest bezüglich einer Tat ein versuchter Mord aus niederen Beweggründen aufgrund rassistischer Motivation bejaht, im Sinne der Verteidigung wurde jedoch nicht die höchstmögliche Gesamtstrafe verhängt. Hinzu kommt, dass die Täterin durch die gesamte Verhandlung hindurch von ihrem Verteidiger, dem Staatsanwalt und dem psychologischen Gutachter als verwirrte Frau mit wenig Bildungszugang, jedoch ohne rassistisches Weltbild dargestellt wurde. Immer wieder wurden ihre Beziehungen zu migrantischen Männern als Merkmal für ihren nicht-Rassismus herangezogen. Die Nebenklagevertreterinnen erklärten jedoch erneut in ihren Abschlussstatements, dass genau diese falsche Perspektive auf das, was Rassismus wirklich ist, dazu führt, dass viele rassistische Gewalttaten und Mordversuche gar nicht als solche gewertet werden. „Rassismus ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, so Ilil Friedman. Außerdem ist es durchaus gängig bei rassistischen Denkmustern, gegenüber bestimmten Menschen, die als Teil einer bestimmten Gruppe wahrgenommen werden, rassistische Aggression zu hegen, und nicht gegen andere. Dass sich das Gericht in der Urteilsverkündung erneut auf die romantischen Beziehungen der Angeklagten mit migrantischen Männern bezog, um zu behaupten, dass kein rassistisches Weltbild bei der Angeklagten festzustellen sei, zeigt die Ignoranz des Berliner Gerichts gegenüber der menschenverachtenden ideologischen Formation, die Rassismus 2019 in Deutschland darstellt. Und diese Ignoranz im Richtermantel führt genau zu den geringen Verurteilungszahlen bei anti-Roma Rassismus, welche Roma-Organisationen wie Amaro Drom seit Jahren anprangern.

Die deutsche Justiz: Verharmlosung von rassistischer Gewalt

Das Problem liegt im konkreten Fall nicht unbedingt an fehlerhaften Gesetzen. Das Problem hier ist, wie die Gesetze des bürgerlichen Rechtsstaates ausgelegt werden. Als Mörder tötet in Deutschland nach gängigen Definitionen eine Person, deren Motive „nach allgemeiner sittlicher Anschauung verachtenswert sind und auf tiefster Stufe stehen“. Was ist diese allgemeine sittliche Anschauung? Was sind danach Motive, die auf unterster Stufe stehen und verachtenswert sind? Ebenso soll aus niedrigen Motiven handeln, wer das Opfer „aus Rassenhass“ oder „Ausländerfeindlichkeit“ tötet. Bei derartig offensichtlich rassistischen Motivgründen, über deren Vorliegen so weit und breit verhandelt wird, fragt man sich, welche Vorstellung von Rassismus und Ausländerfeindlichkeit das deutsche Justizsystem hat. Dies wurde in der Verhandlung auch durch die Aussagen des psychologischen Gutachters deutlich. Dieser glänzte mit verallgemeinernden Aussagen, die kein wissenschaftliches Rassismusverständnis aufzeigen. So argumentierte er, die Angeklagte könne kein rassistisches Weltbild haben, denn sie sei ja schon mal mit Ausländern zusammen gewesen. Als er über ein Ereignis in ihrem Lebenslauf berichtet, sagte er, dieses habe „vor dem Araber“ stattgefunden. In keinem Moment wurde aber einer der deutschen Ex-Partner der Täterin als „der Deutsche“ bezeichnet. Die Vorstellung, Rassismus manifestiere sich allein in einer rechtsextremen, faschistischen Ideologie mit extremen „Ausländer-„ oder „Rassenhass“, zeugt davon, dass der alltägliche Rassismus der deutschen Gesellschaft wenn nicht gänzlich negiert, so zumindest runter gespielt wird. Migrantischen und nicht-weißen Menschen in Deutschland wird somit jede schmerzhafte bis traumatisierende Erfahrung mit Rassismus im Alltag – bei Behörden, bei der Wohnungssuche, auf dem Arbeitsmarkt, in der Kita und Ausbildungsstätte, in Bahn und Bus –, der gewöhnlich nicht von Rechten oder Nazis kommt, abgesprochen.

Rassistisch handeln heißt nicht, Anhänger*in von rechter Ideologie zu sein. Rassistische Aussagen und Handlungen passieren im Alltag überall. Es manifestiert sich im aufdringlichem Bohren, woher eine Person denn „wirklich“ herkommt, in Vergleichen der Hautfarbe Anderer mit Lebensmitteln, in der Annahme, eine nicht-weiße Person müsse gebrochen Deutsch sprechen, in der Aufforderung, Migrant*innen müssten alle perfekt Deutsch sprechen, in den verallgemeinernden und demütigenden Kommentaren zu „den Muslimen“, „den Migranten“ oder „den Flüchtlingen“.

Diese Art von Rassismus kriegen viele weiße Deutsche gar nicht mit – er ist oft inexistent in ihrer Lebensrealität. Und wenn er sich doch über Eltern, Freund*innen oder Genoss*innen zeigt, sind die Reaktionen meist persönlich beschämt. Ohnmacht setzt ein. Selten folgt daraus auch für weiße Linke, sich verstärkt mit Rassismus in der eigenen Familie und in den eigenen Reihen auseinanderzusetzen, um zu selbstermächtigenden Erfahrungen zu gelangen, die unsere privaten und politischen Räume sicherer für alle und somit gemeinsam kämpfen realer machen.

Deutsche Gerichte stellen also keine Ausnahme dar, sondern die Regel. Eine weiße deutsche Richterin empfindet es wahrscheinlich gar nicht als rassistisch, dass Personen durch ihre Nationalität charakterisiert werden, sofern sie nicht Deutsch sind. Das konsequente Ignorieren von alltäglichem bis möglicherweise tödlichem Rassismus ist tief in die deutsche Gesellschaft eingeschrieben. Die Justiz spiegelt dies nur.

Gefährliches Rassismusverständnis

Mit Maria G. und ihrer Familie wurde während des gesamten Prozesses sehr wenig empathisch umgegangen. Das Urteil vom 4. November stellt eine rassistische Kontinuität deutscher Behörden dar. Rassismus allein auf die evidenteste Form zu beschränken ist falsch und gefährlich. Tun Gerichte das, tragen sie zur Verharmlosung rassistischer Gewalt bei und geben den Täter*innen ein Gefühl der Sicherheit. Wenn Richter*innen und Gerichte rassistisch motivierte Taten immer wieder durchgehen lassen, immer mit niedrigem Strafrahmen bestrafen, wie bei Carsten S., der für die Beihilfe zum Mord im NSU-Fall eine geringere Strafe bekam, als eine Person, die beim G-20 Gipfel eine Flasche warf, fühlen sich rassistische Täter*innen sicher, wenn nicht gar bestärkt. Das sendet klare Signale an alle, die zukünftig rechte und/oder rassistische Angriffe planen. Im Umkehrschluss wird das Leben für migrantische und nicht-weiße Menschen in Deutschland immer gefährlicher. Das Verschwinden von Rita Ojungé, einer kenianische Frau, die gezwungen war in einem abgelegenen Aslysuchendenheim in Brandenburg zu leben, interessierte die dort ansässige Polizei kaum. Als der Vater der zwei gemeinsamen Kinder sich bei der Vermisstenstelle meldete, wurde er abgewiesen – auch wenn Ritas Sohn bezeugte, dass ein Mitbewohner seine bewusstlose Mutter aus dem Heim schleifte. Erst zwei Monate, nachdem sie als vermisst gemeldet wurde, begann die Polizei mit einer Suchaktion. Wäre eine weiße deutsche Frau verschwunden, hätten die Behörden mit großer Sicherheit anders reagiert.

Die Anhänger*innen des deutschen Rechtsstaates sind oft stolz auf die deutschen Grundrechte, betonen Artikel 1 und die in ihm garantierte Menschenwürde. Wenn Gerichte jedoch tagtäglich rassistische Taten abtun und ignorieren, tragen sie zu einer ungleichen Gesellschaft bei und verstoßen selbst gegen die in der Verfassung normierten Grundsätze. Nicht jede*r erfährt in Deutschland das gleiche Recht. Dies gilt für Illegalisierte genauso wie für Asylsuchende, für Geduldete und schlussendlich für jede Person, die sich keine teuren Anwält*innen leisten kann.

Urteile wie dieses führen zu einer gesellschaftlichen Normalisierung von rassistischer Gewalt und Unsicherheit. Es ist ein Signal, dass nicht jeder*r ein gleich würdevolles Leben führen kann in diesem Land.

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