Kolossale Heuchelei

06.06.2015, Lesezeit 5 Min.
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// BND-Affäre: Die Kooperation zwischen der NSA und dem BND schlägt immer neue Wellen. Die Konflikte innerhalb der Bundesregierung spitzen sich zu. //

Vorwürfe von „Koalitionsbruch“, Forderungen nach „Neuwahlen“, „Ultimatum an Merkel“: Liest man dieser Tage die Schlagzeilen zu der Geheimdienstaffäre rund um die Abhörtätigkeiten von BND und NSA in Deutschland, könnte man meinen, die Koalitionsregierung aus CDU/CSU und SPD stünde kurz vor ihrem Ende. In der Intensität, mit der die BND-Affäre bezüglich des Abhörprojekts „Eikonal“ in den Medien verhandelt wird, erscheint sie als die größte öffentliche Meinungsverschiedenheit zwischen den Koalitionsparteien seit ihrem Amtsantritt vor etwas mehr als anderthalb Jahren.

Massive Überwachung

Seit den Enthüllungen über das Ausmaß der Spionage-Tätigkeiten der NSA durch den ehemaligen Geheimdienstler Edward Snowden im Jahr 2013 steht die Überwachungspraxis der USA, aber auch die Kollaboration des BND mit den US-Geheimdiensten unter massiver Kritik. Zunächst reagierte die deutsche Bundesregierung mit gespielter Empörung gegen die Abhörung des „Merkel-Handys“ durch die NSA. Daraufhin wurde ein Untersuchungsausschuss zur NSA-Affäre eingesetzt, der allerdings herausfand, dass der BND jahrelang die NSA in ihren Tätigkeiten unterstützte. Er selbst war und ist massiv daran beteiligt, die deutsche und europäische Bevölkerung abzuhören und nimmt ebenfalls an der Überwachung „befreundeter“ Regierungen teil. Die Heuchelei der Bundesregierung, die sich gegen die Überwachung von „Freunden“ ausgesprochen hatte, wurde damit offensichtlich.

Schon im vergangenen Jahr wurden die Lauschaktionen des BND unter dem Namen „Operation Eikonal“ enthüllt. Mindestens seit 2004 hat der BND große Mengen Rohdaten am Frankfurter Internet-Knoten abgefangen und direkt an die NSA weitergeleitet. Besonders heikel: Bei dieser Operation wurden weder das Parlamentarische Kontrollgremium (PKG) noch die zuständige Bundestagskommission für die Genehmigung von Abhöraktionen (G-10-Ausschuss) jemals informiert. Angeblich sei die Aktion Ende 2008 eingestellt worden, doch der BNDler „W.K.“ bestätigte am 13. November 2014 im NSA-Untersuchungsausschuss die Fortsetzung der Methode. Ende April 2015 kam zudem heraus: Über 800.000 Schlüsselwörter, IP- und E-Mail-Adressen, Telefonnummern und Geokoordinaten wurden von der NSA an den BND geschickt. Laut BND wurden dabei bestimmte Daten herausgefiltert, die „deutsche Interessen“ berührten und die Ergebnisse teils zurück an die NSA geleitet.

Heuchelei der Regierung

Die bürgerlichen Presse debattiert im aktuellen Skandal aber nicht die massenhafte Verletzung von Grundrechten unter dem Paradigma der „nationalen Sicherheit“, sondern konzentriert sich darauf, die Einmischung der USA in „deutsche Interessen“ zu kritisieren. Zuweilen wird eine größere demokratische Kontrolle der deutschen Geheimdienste gefordert, damit sie nicht – wissentlich oder unwissentlich – diesen „deutschen Interessen“ zuwider handeln.

Es geht hier aber sicherlich nicht um die Interessen der ArbeiterInnen und der Jugend Deutschlands und weltweit, die seit dem Beginn des „Kriegs gegen den Terror“ 2001 immer skrupellosere Angriffe gegen ihre demokratischen Rechte und ihre Privatsphäre erleben mussten. Stattdessen geht es um Informationen, die den Profitinteressen des deutschen Kapitals im In- und Ausland dienen. Besonders deutlich wird das in den Kommentaren des bürgerlichen Leitmediums Frankfurter Allgemeine Zeitung, die sich gegen jede Kritik am BND verwehren und sogar fordern, BND und Co. müssten mehr Geld und Kompetenzen zur „Terrorabwehr“ (besonders auch des „linksextremen Terrorismus“) bekommen.

Die Geheimdienst-Affäre seit 2013 wirft deshalb mit voller Klarheit die Doppelmoral des bürgerlichen Staates im Allgemeinen und der deutschen Bundesregierung im Besonderen auf. Während sie die Spionage der USA gegen die eigene Bevölkerung und verbündete Regierungen kritisierte, wurde die Komplizenschaft der deutschen Geheimdienste immer wieder heruntergespielt oder ganz vertuscht. Und wenn nun die SPD-Spitze von Merkel „Aufklärung“ fordert, verschweigt sie im gleichen Atemzug, dass der damalige SPD-Kanzleramtschef Frank-Walter-Steinmeier 2003 die rechtlichen und politischen Grundlagen für die Zusammenarbeit von NSA und BND aushandelte. Der aktuelle „Koalitionskrach“ ist deshalb kaum mehr als Schall und Rauch, um von der eigenen Verantwortung abzulenken.

Abschaffen!

Auch die Verwicklung der deutschen Geheimdienste in die Mordanschläge der faschistischen Vereinigung „Nationalsozialistischer Untergrund“ ist längst noch nicht vollständig aufgearbeitet. Hier zeigt sich ein zentraler Aspekt, der in der aktuellen Debatte völlig ignoriert wird: Bürgerliche Staaten brauchen Geheimdienste nicht nur zur Wahrung ihrer Interessen im Ausland, sondern auch direkt gegen die eigene Bevölkerung. Dabei schrecken sie nicht davor zurück, faschistische Banden zu unterstützen, wenn es in ihren Augen der Bekämpfung „linksextremer“ Strukturen dient. Besonders gilt das für Perioden verschärften Klassenkampfes, in denen der bürgerliche Staat selbst tendenziell in Frage gestellt wird.

Aus diesem Grund führt kein Weg daran vorbei, alle Geheimdienststrukturen abzuschaffen. Der aktuelle Skandal ist nicht, dass NSA und BND verdeckt zusammengearbeitet haben, sondern der herrschende Konsens über die Rechtmäßigkeit der massenhaften Überwachung der gesamten Bevölkerung.

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