Klassenpolitik und das Virus

27.04.2020, Lesezeit 4 Min.
Gastbeitrag

Angesichts der großen Veränderungen im Alltag vieler Menschen werden auch in der Linken die Abgesänge an den Kapitalismus laut. Doch das Heraufbeschwören einer Krisenstimmung wird unsere Klasse umso mehr enttäuschen, wenn die Normalität der Ausbeutung zurückkehrt. Eine verantwortungsvolle Klassenpolitik sollte sich nicht auf die Gelegenheit des Virus verlassen, sondern auf Ihre Kritik unserer Lebensweise an ihren Wurzeln verweisen können. Ein Gastbeitrag von Florian Geisler.

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„Dass jede Nation verrecken würde, die, ich will nicht sagen für ein Jahr, sondern für ein paar Wochen die Arbeit einstellte, weiß jedes Kind“, schreibt Marx 1868. Seit ein paar Tagen erprobt die Welt eine Miniaturversion dieses Zustands: Arbeitszeiten werden verkürzt, Verkehr und Konsum beschränkt, Produktion heruntergefahren. Stehen wir also, wie jetzt vermutet werden könne, bereits mit einem Bein im Kollaps der Volkswirtschaften? Mehrere prominente linke Ökonomen, von Michael Roberts bis David Harvey, vermuten in diese Richtung.

Doch wie vergangene Krisenmomente gezeigt haben, ist keinesfalls garantiert, dass sich wirtschaftliche Probleme eins zu eins in politisch fortschrittliche Projekte umsetzen lassen. Doch gerade diese Übersetzungsleistung stellt eine Kerndisziplin der Linken dar. Wenn wir nun vor der Situation stehen, dass der Kapitalismus in den über 150 Jahren seit Marx’ entnervtem Diktum eben gerade nicht zusammengebrochen ist, so heißt das auch, dass wir diese Disziplin schmählich vernachlässigt haben. Wir können uns nicht auf die Krise verlassen, und wir können uns auch nicht auf den Virus verlassen.

Das ist, genau betrachtet, auch nur intuitiv. Warum sollte unsere moderne Konsumgesellschaft auch in eine bedrohliche Krise stürzen, nur weil unsere Klasse für ein paar Wochen damit aufhörte, neue Autos zu bauen, die nur ungenutzt auf der Straße stehen? Häuser niederzureißen und wieder aufzubauen, nur um Anlagemöglichkeiten für Privatinvestoren zu verbessern? Nein, Verwerfungen wie zu Kriegszeiten stehen im Spätimperialismus nicht in Aussicht. Wenn wir darauf hoffen, dass es ein ‚Zurück zum Normalzustand‘ nicht geben kann und wird, machen wir es uns zu einfach.

Stattdessen müssen wir uns der Herausforderung stellen, dass die herrschende Produktions- und Lebensweise sowohl vor als auch während der Krise trotz allem auch in unserer Klasse eine ganz erhebliche Akzeptanz erfährt. Diesen Zustand dürfen wir nicht ignorieren und hoffen, dass von hier aus eine gerade Brücke zu ihrer Mobilisierung führt. Anstatt den Krisenjargon der bürgerlichen Soziologen zu übernehmen, anstatt zu versuchen, die Epidemiologie und die Gesundheitsministerien mit unglaubwürdigen Forderungen zu übertrumpfen, sollten wir unsere Kritik nicht nur auf das Ereignis richten, sondern auf den Zustand, der dem Ereignis vorausgeht.

Ob der Kapitalismus und seine politischen und finanziellen Organe in eine ernste Zwangslage geraten, oder der Betrieb einfach wieder voll eröffnet wird und möglicherweise noch gestärkt in einen neuen Aufschwung übergeht, ist noch nicht abzusehen. Besonders der ideologische Druck, dass jetzt nach einer Ruhephase wieder verstärkt produziert werden müsse, wird unsere Klasse angreifen, flankiert von einer aufgeputschten Kontrollmaschine, die sich nicht ohne weiteres in ihre Kasernen zurückziehen wird. Vermeintliche Hilfsprogramme werden gerade genau soweit greifen, die Betroffenen in noch größere Abhängigkeit von Krediten und Rückzahlungen zu bringen. Direkte Vergleiche etwa mit der Wirtschaftskrise von 1929 hinken insofern, als dass es den Machtblöcken des „Westens“ möglich geworden ist – auf der Außenseite durch die Globalisierung, auf der Innenseite durch eine Verfeinerung der Machttechniken – die Folgen kapitalistischen Wirtschaftens erheblich zu externalisieren. Das Abwälzen der Kosten auf die Positionen der Produktionsketten, die weitgehend unsichtbar bleiben, ist nicht nur für eine schmale Elite zum Normalzustand geworden.

Wenn wir uns daher jetzt mit unserer Politik auf das Terrain der Krise zwingen lassen, wenn wir mit den Herrschenden um Forderungen und Notstandsmaßnahmen streiten und uns als bessere Krisenmanager präsentieren, laufen wir auch Gefahr, uns selbst unsere Merkmale als radikale Alternative zu nehmen: Wir wollen nicht nur der Widerstand sein, der das Kapital durch die Krise und auf einen moderneren Kurs lenkt – sondern die Macht, die selbst die Kontrolle über Produktion und Reproduktion, Kapital und Arbeit, Wohnen und Leben übernimmt. Das dürfen wir auch in Krisenzeiten nicht vergessen.

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