„Jede Sekunde leiden Pflegekräfte an den desaströsen Zuständen“

25.05.2022, Lesezeit 7 Min.
Gastbeitrag

Überlastung, Unterbesetzung, keine Unterstützung. Dieser Gastbeitrag schildert schockierende Situationen, wie sie jeden Tag in unserem völlig überlasteten Gesundheitssystem geschehen. Aber er sagt auch: Wir müssen uns organisieren, um dagegen vorzugehen.

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Symbolbild: goodbishop / shutterstock.com

„Bis morgen, Papa.“ Ein einfacher Satz. Drei Worte. Ein Sohn steht am Patientenbett einer Intensivstation und verabschiedet sich einen weiteren Abend von seinem geliebten Vater. „Schlaf gut und bis morgen“, sagt er. „Ich schaff’ es wohl erst gegen fünf vorbeizukommen.“ Der Vater, ein vom Leben gezeichneter, schwerkranker Langzeitpatient, drückt fest seine Hand. Beim Hinausgehen des Sohns dreht er den Kopf zur Seite und blickt in Richtung der daneben stehenden Person: „Muss ich jetzt wieder an die blöde Maske?“ Der Pfleger verneint. Obwohl die Blutwerte schlecht sind, wird auf Patientenwunsch nicht weiter therapiert. Dieser sagt, er könne einfach nicht mehr. Ob er die Situation realisiert und sich über mögliche Folgen dieser Entscheidung im Klaren ist, weiß keiner. Dem Patienten steht möglicherweise eine CO2-Narkose bevor. Auf dem Gang hört der Pflegende später einen Kollegen sagen: „Wenn er morgen noch lebt, kann der Sohn ihn wieder besuchen“.

Einige Stockwerke höher kommt eine Praktikantin ins Patientenzimmer. Sie findet einen in Tränen aufgelösten Patienten vor. Sie entdeckt ein großes Kreuz am Unterschenkel des älteren Herrn. Auf die Frage, was dies bedeutet, zieht die zuständige Pflegekraft an ihrem Arm und geht mit ihr vor die Tür. „Das ist eine Markierung,“ sagt sie, „das Bein wird morgen abgenommen“.

Zeitgleich, ein paar Meter weiter, liegt eine Person an Händen, Bauch und Füßen fixiert im Bett und ringt um Freiheit. Sie ist verwirrt, in einer fremden Umgebung. Sie kennt weder die sie pflegenden, noch die sie behandelnden Personen. Sie fühlt sich möglicherweise sehr unwohl. Sie kann die Situation nicht verstehen und schreit.

Eine Patientin mit angeborenem Gendefekt leidet an schwerer Adipositas. In einem Telefonat wird sie als „fette Kugel“ angekündigt.

Eine Mitarbeiterin eines ambulanten Dienstes sitzt tränenüberströmt im Auto. Sie war bei einer verwitweten, älteren Dame. Ihre Zeit für die Patientin betrug zwei Minuten, um medizinische Thrombosestrümpfe auszuziehen. Die Dame war jedoch in einem psychischen Ausnahmezustand und wollte einfach nur jemandem zum Reden. Die Zeit und den Druck im Nacken, noch die restlichen Patienten abzuarbeiten, war die Pflegehelferin gezwungen zu gehen.

Zeitgleich, in der selben Stadt, stehen vier Personen in einheitlicher Arbeitskleidung um eine Trage in einem Rettungswagen. In deren Mitte liegt ein Mann. Soeben wurde beschlossen, dass eine Weiterführung der lebenserhaltenden Maßnahmen beendet wird. Das EEG des Mannes zeigt eine Nulllinie und ein lautes unliebsames Pfeifen beschallt die Szenerie. Die Person ist hirntot.

Auf einer Station im Krankenhaus eskaliert der Spätdienst. Ein lautes Pfeifen. Noch eins. Mischungen aus Quietschen, Heulen, Sirren oder Quäken ertönen aus Geräten und Maschinen. Aus den Zimmern hört man um Hilfe rufende Patient:innen. Sechs Pflegekräfte sollten da sein. Vier sind krank. Die Patientenzahl wird nicht verringert.

In einer Senioreneinrichtung ein paar Häuser weiter wird die Notrufnummer gewählt. Ein Bewohner hat seine Zahnprothese verschluckt. Währenddessen liegt eine andere Bewohnerin seit einer ganzen Stunde in ihren Ausscheidungen. Ihre Kleider sind nass und der dünne scharfe Stuhl greift ihre Haut an. Ihre Glocke liegt am anderen Ende des Bettes. Keiner kann ihr helfen, keiner hat Zeit nach ihr zu sehen.

Im Kreißsaal wird eine Mutter mit ihrem noch blutverschmierten Kind alleine gelassen. Es benötigen noch vier andere Frauen die Unterstützung der einzigen anwesenden Hebamme.

Eine 94-jährige Patientin wird wegen einer Skabies-Infektion isoliert. Sechs Wochen später diagnostiziert ein Dermatologe einen noch ungeklärten Hautausschlag. Ihm nach bestehen keine Infektanzeichen. Die Patientin wurde sechs Wochen lang umsonst von der Außenwelt isoliert.

Ein viermalig geimpfter Patient verstirbt an einer Covid-Infektion.

Ein Patient mit akutem Compartment-Syndrom liegt auf einer Intensivstation. Er telefoniert mit seiner geistig behinderten Tochter. Seine dringend notwendige OP wird schon zum dritten Mal verschoben. Er ist nicht von hier und sehnt sich nach seiner Familie. Am darauffolgenden Tag setzt sein Herz plötzlich aus. Der Mann stirbt. Seine Tochter wird ihn nie wieder sehen.

Ein Neurochirurg fixiert eine externe Ventrikeldrainage bei einer desorientierten, jedoch wachen und schmerzempfindlichen Patientin ohne die Nutzung eines Lokalanästhetikums. Die Patientin stöhnt und verzieht das Gesicht während der Tortur. Der Arzt wirft ihr einen zynischen Blick zu und macht weiter. Anschließend geht er kommentarlos.

Einer Auszubildenden im Krankenhaus wird erklärt, sie könne ja den Beruf wechseln, wenn ihr die Belastung zu viel sei.

Doch was bedeuten all diese Geschichten?

Dies sind nur einige von vielen unbeschreiblichen, fordernden und nur schwer realisierbaren Erfahrungen und Erlebnissen von Arbeiter:innen im Gesundheitswesen. Im deutschen Gesundheitssystem wird systematisch mit der seelischen Gesundheit der Beschäftigten gespielt. Pflegende werden vom Arbeitgeber, von der Gesellschaft und letztlich vom Kapital mit ihrem Glauben an die Menschheit, ihrer Nächstenliebe und ihrer Stressresistenz erpresst. Die geschilderten Situationen zeigen mit welcher Belastung dieser Beruf einhergeht. Jeden Tag, jede Nacht, jede Sekunde leiden Pflegekräfte an den desaströsen Zuständen in diesem Beruf.

Dass die Pflege selbst auf einen Abgrund zusteuert, ist bekannt. Die Politiker:innen wissen es. Die Arbeitgeber:innen wissen es und die Beschäftigten wissen es auch. Doch die Gesellschaft hat es verdrängt. Niemand will sich ausmalen müssen, was passiert, wenn es urplötzlich dem eigenen Körper schlecht geht und die eigene Versorgung im Krankenhaus nicht gewährleistet werden kann. Niemand will sich damit auseinandersetzen, was tagtäglich in Krankenhäusern, Rettungswagen, Seniorenheimen oder Kreißsälen abgeht. Niemand will sich mit der Gesundheit der dort Beschäftigten auseinandersetzen. Warum auch? In der Zeitung steht ja gar nichts mehr darüber. Und bei „Greys Anatomy“ ist das ja gar nicht so schlimm. Und wer ein Problem in seinem Job hat, soll sich eben einen anderen suchen.

Das Pflegepersonal darf solche Lösungsansätze nicht ignorieren. Keine Frage. Dies sind gezielte Angriffe auf die Identität des Pflegeberufs. Die Gesellschaft – und ja, das sind wir alle – ist in der Verantwortung darauf aufmerksam zu machen. Ein Gesundheitssystem muss funktionieren! Es darf nicht sein, dass unsere Probleme sind, welches Auto wir fahren oder welche Schuhe wir tragen. Wir müssen für Gerechtigkeit und Gleichbehandlung einstehen. Das bedeutet zwangsläufig, dass wir uns politisch engagieren müssen.

Wählt nicht rechts! Wählt nicht die Union! Doch vergesst nicht, dass es Karl Lauterbach war, der dem Gesundheitssystem die Fallpauschalen mit eingebrockt hat. Darum verlasst euch nicht darauf, dass die Ampel in unserem Interesse handeln wird. Auch SPD und Grüne haben die Pflege verraten.

Geht auf die Straße und organisiert euch! Wir für euch, ihr für uns!

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