Israelische Kriegsführung: Künstliche Intelligenz produziert Angriffsziele wie am Fließband

05.04.2024, Lesezeit 15 Min.
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Nach einem Luftangriff der israelischen Armee suchen Zivilist:innen in Gaza nach Überlebenden. Bild: Anas-Mohammed / Shutterstock.com.

Recherchen offenbaren schonungslos, wie die israelische Armee beim Bombardieren und Töten zehntausender Zivilist:innen in Gaza vorgeht – mit künstlicher Intelligenz.

Knapp sechs Monate sind seit dem 7. Oktober vergangen; genauso lang dauert nun die Bombardierung Gazas durch die israelische Armee an. Die Zahl der getöteten Palästinenser:innen nähert sich den 33.000. Zwar fordert mittlerweile selbst der UN-Sicherheitsrat – wobei sich die USA dem Votum enthielten – per Resolution einen Waffenstillstand; Konsequenzen folgten hieraus jedoch nicht. Dass Israel eine derart große Zahl an Menschen bisher getötet hat, ist kein Zufall, sondern das Resultat des Einsatzes von künstlicher Intelligenz (KI) im Kontext der Kriegsführung.

Bereits im November letzten Jahres enthüllten die Online-Magazine +972 Magazine und Local Call in einer vielbeachteten Recherche den Einsatz eines KI-Systems namens „Habsora“ – auch „The Gospel“ genannt –, durch die israelische Armee. Laut Geheimdienstinformationen handelt es sich dabei um ein System, welches es der IDF ermögliche, eine „Massenmordfabrik“ in Gaza zu betreiben. „Habsora“ verarbeitet einerseits riesige Datenmengen und übersetzt diese Daten andererseits in Angriffsziele. Der Schwerpunkt liege dabei auf „Quantität und nicht auf Qualität“; einem Militärbeamten zufolge sei Israel dadurch erstmals in der Lage, neue Ziele schneller zu generieren, als es diese angreifen kann. Zentral sind dabei sogenannte „Power Targets“: Hierzu zählen etwa private Wohngebäude, öffentliche Gebäude und Infrastruktur im Allgemeinen sowie Hochhäuser. Dahinter steht der Gedanke, dass mittels Angriffen auf Power Targets die palästinensische Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt würde; dahinter steht das Bestreben, diese würde dadurch wiederum Druck auf die Hamas ausüben. Früher habe man solche Ziele jedoch erst angegriffen, nachdem alle Zivilist:innen evakuiert worden seien – dieses Vorgehen wurde im gegenwärtigen Krieg ganz offensichtlich aufgegeben. Quellen berichten außerdem, dass verschiedene Grade an „Kollateralschäden“ festgelegt worden seien, von denen ausgehend bestimmt werde, ob ein privates Wohngebäude angegriffen werden könne oder nicht. Jedoch, so heißt es weiter, können gegenwärtig alle Häuser, in denen Mitglieder der Hamas, unabhängig von ihrem Rang und ihrer damit einhergehenden „Wichtigkeit“, leben, als Ziel markiert und somit bombardiert werden. All jene, die sich in dem Gebäude aufhalten, werden folglich getötet. Sie sind jene, die der Begriff des Kollateralschadens umfasst. 

„Lavender“: Das KI-System, das Israels Bombenangriffe in Gaza steuert

Neben „Habsora“ kommt noch ein weiteres KI-System der israelischen Armee derzeit zum Einsatz. Wieder ist es eine Recherche von +972 Magazine und Local Call, die hinter den Enthüllungen steht. Wie auch die erste, wurde sie von Yuval Abraham verfasst, jenem Journalisten und Filmemacher, dem Claudia Roths Applaus bei der Auszeichnung von „No Other Land“ auf der diesjährigen Berlinale laut eigener Aussage explizit galt – nicht geklatscht hatte sie demnach für Abrahams palästinensischen Kollegen Basel Adra. In dem Text wird der grundlegende Unterschied zwischen „Habsora“ und „Lavender“ wie folgt beschrieben: „Während ‚The Gospel‘ Gebäude und Infrastruktur markiert, von denen die Armee behauptet, dass dort die Kämpfer [der Hamas, Anm. der Redaktion] operieren, markiert ‚Lavender‘ Menschen – und setzt sie auf eine Tötungsliste.“ Schritt für Schritt legt Abraham in der Untersuchung dar, wie die automatische Produktion von Angriffszielen der IDF vor allem in den ersten Wochen des Krieges in Gaza funktionierte und welche Konsequenzen daraus folgten. Grundlegend lässt sich zunächst bereits festhalten, dass die Ermordung einer solch immensen Zahl an Zivilist:innen kein Zufall ist, sondern einerseits aus inakkuraten Berechnungen der KI folgt, andererseits aber politischen beziehungsweise militärischen Entscheidungen zuzurechnen ist. 

Den Quellen von +972 Magazine und Local Call – sechs israelische Geheimdienstoffiziere, die alle im aktuellen Krieg in Gaza in die Generierung von Angriffszielen mittels KI involviert waren – zufolge dient das „Lavender“-System der Markierung sämtlicher mutmaßlicher Anhänger des bewaffneten Flügels der Hamas sowie des Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ) als potentielle Ziele zur Bombardierung, das heißt auch derjenigen, die lediglich einen niedrigen Rang innehaben. Allein in den ersten Wochen des Krieges wurden dadurch bereits bis zu 37.000 Palästinenser für mögliche Luftangriffe markiert. Vor der Operation „Iron Swords“, die die IDF nach dem 7. Oktober startete, galt die Anordnung, lediglich hochrangige Militärs in ihren Häusern zu bombardieren. Quellen zufolge beinhaltete dies einen aufwändigen Überprüfungsprozess, ob die betreffende Person auch tatsächlich einen solchen Rang im bewaffneten Flügel der Hamas innehat. Dadurch, dass jene Anordnung wegfiel, wurde die Tötungsliste auf mehrere Zehntausend Personen ausgeweitet, wobei die Armee laut Quellen die Genehmigung zur automatischen Übernahme derjenigen Listen erhielt, die „Lavender“ generierte; die Genauigkeit hinsichtlich der sich darauf befindlichen Ziele soll zuvor bloß stichprobenartig überprüft worden sein. 

Vereinfacht beschrieben funktioniert „Lavender“ wie folgt: Die Software analysiert Daten, die über die meisten der mehr als zwei Millionen Bewohner:innen des Gazastreifens durch ein Massenüberwachungssystem gesammelt wurden. Anschließend gibt sie eine Bewertung auf einer Skala von eins bis 100 ab, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine jeweilige Person dem militärischen Flügel der Hamas beziehungsweise dem PIJ zuzurechnen sei. Wie jedes andere KI-System wurde auch „Lavender“ zuvor trainiert, wobei die KI lernen soll, Merkmale, auch „Features“ genannt, von bekannten Hamas- und PIJ-Anhängern zu erkennen und diese wiederum in der allgemeinen Bevölkerung beziehungsweise den zu analysierenden Daten zu lokalisieren. Hierauf basiert jenes zuvor beschriebene Ranking. Quellen berichten, dass die Ergebnisse der KI im Wesentlichen so behandelt wurden, als stünde eine menschliche Entscheidung dahinter. Ein hochrangiger Offizier der IDF, der in der Recherche nur B. genannt wird, beschreibt, dass das Protokoll nur wenige Sekunden für die Soldat:innen vorsah, um die von „Lavender“ markierten Ziele zu verifizieren. Sie seien lediglich angewiesen worden, zu überprüfen, ob es sich um Männer handle – Frauen hätten keine entsprechenden Positionen in der Hamas oder dem PIJ inne. Dabei sei großer Druck ausgeübt worden, so B. weiter: „An einem Tag, an dem es keine Ziele gab, [deren Merkmalseinstufung ausreichte, um einen Angriff zu genehmigen], griffen wir auf Basis einer niedrigeren Schwelle an. Wir wurden ständig unter Druck gesetzt: ‚Bringt uns mehr Ziele‘. Sie schrien uns regelrecht an.“

Es ist bekannt, dass KI-Systeme hochgradig fehleranfällig sind, was ebenso auf „Lavender“ zutrifft. Interne Tests zeigten, dass die Kalkulationen der KI zu 90 Prozent akkurat seien – im Umkehrschluss bedeutet das, dass mindestens zehn Prozent der ausgewählten menschlichen Ziele falsch waren, das heißt, dass die Personen nicht nur keine hochrangigen Funktionäre des bewaffneten Flügels der Hamas oder des PIJ waren, sondern ganz einfach gar keine Mitglieder. Solche Fehler entstehen etwa dadurch, dass Personen ähnliche Kommunikationsweisen wie Hamas- und PIJ-Anhänger aufweisen, oder weil ein Telefon, das der für den Angriff ausgewählten Person zugerechnet wurde, längst den Besitzer gewechselt hatte, was im Krieg ständig der Fall ist. Weiterhin wiesen bereits die Trainingsdaten einen Bias auf, wie eine Quelle bestätigt, was ebenfalls zu den „klassischen“ Problemen beim Training von KI-Systemen zählt und mitunter weitreichende Folgen hat. 

„Where’s Daddy?“: Ein Programm, um Personen und Familienhäuser für die Bombardierung zu verknüpfen

Die Bombardierung der Ziele erfolgt nicht durch „Lavender“; diese Aufgabe haben immer noch Soldat:innen der IDF inne. Daher müssen sie zunächst identifizieren, wo sich die Personen aufhalten, die angegriffen werden sollen. Seit Monaten wird behauptet, Hamas-Anhänger würden Schulen und Krankenhäuser nutzen, um sich darin oder in Tunnelsystemen darunter zu verschanzen – auch in der bürgerlichen Presse hierzulande wird dieses Narrativ wieder und wieder ausgebreitet, um Massaker wie beispielsweise im Al-Shifa-Krankenhaus zu rechtfertigen. Die Quellen der Recherche wiederholen dies teilweise, erklären jedoch gleichzeitig, dass jene in dieser Form noch nie dagewesene Anzahl von Toten daraus resultiere, dass die markierten Personen vor allem bombardiert würden, wenn sie sich in ihren Privathäusern befinden. Dies sei keine Ausnahme, sondern eine Regelmäßigkeit. 

Zur Ortung der Zielpersonen verwendet die IDF ebenfalls moderne Technologie; konkret handelt es sich dabei um Programme, die tausende Menschen gleichzeitig verfolgen können. Sie erkennen, wenn diese sich zu Hause befinden und senden dann einen automatischen Alarm an die Zielfoffiziere, die das Haus zur Bombardierung freigeben. Eines dieser Programme trägt den Namen „Where’s Daddy?“. Eine Quelle äußert sich zur Anwendung: „Man gibt Hunderte [von Zielen] in das System ein und wartet ab, wen man töten kann. […] Das nennt man ‚Broad Hunting‘: Man kopiert die Listen, die das Zielsystem erstellt.“ Die Tötungslisten also, die zuvor mittels „Lavender“ erstellt wurden und mitunter Minderjährige umfassten. 

Hieran wird bereits ein wesentlicher Faktor deutlich, der zu der ungeheuer großen Anzahl von getöteten Frauen und Kindern führt: Neben den angeblichen Anhängern des bewaffneten Arms der Hamas befinden sich in den bombardierten Wohnhäusern oftmals überwiegend Frauen und Kinder, die ebenfalls oder ausschließlich getötet werden. 

Kollateralschäden

Im Dezember 2023 berichtete CNN, dass nach Schätzungen des US-Geheimdienstes 45 Prozent der bis dahin eingesetzten Munition sogenannte „dumb bombs“, das heißt Freifallbomben, die ungelenkt in ihren ballistischen Flugbahnen auf Ziele fallen, waren. Durch ihre Ungenauigkeit erhöhen die Bomben auch die Zahl der Kollateralschäden, demnach getötete Zivilist:innen. Drei israelische Geheimdienstquellen berichteten, dass bei der Bombardierung von Personen, die von „Lavender“ als Ziel mit niedrigem militärischen Rang markiert wurden, ausschließlich solche ungelenkte Bomben zum Einsatz kamen – im Interesse des Einsparens teurerer Rüstungsgüter. Nach den ersten ein oder zwei Wochen sei die Bombardierung solcher Ziele eingestellt worden, teilt eine Quelle namens E. mit, um keine Bomben zu verschwenden: „Es gibt eine Munition-Ökonomie. […] Sie hatten immer Angst, dass es im Norden [mit der Hisbollah im Libanon] einen Krieg geben könnte.“ Jedoch wurden die Luftangriffe gegen hochrangige Hamas-Kommandanten nicht gestoppt, was ebenso fatale Folgen für die Bevölkerung in Gaza hat, insofern das israelische Militär das Töten von hunderten Zivilist:innen je ausgewähltem Ziel autorisierte. 

Hinzu kommt, dass die IDF zur Kalkulation der Anzahl an Zivilpersonen, die pro Haus getötet würden, automatische und wenig akkurate Tools einsetzte. Um Zeit zu sparen, blieb eine tatsächliche Überprüfung der Häuser und der sich darin befindlichen Bewohner:innen aus. Berechnungen erfolgten dabei mitunter losgelöst von der Realität, so eine Quelle: „Es gab keine Verbindung zwischen denjenigen, die sich jetzt, während des Krieges, im Haus aufhielten, und denjenigen, die vor dem Krieg als dort wohnhaft angegeben waren. [Bei einer Gelegenheit] bombardierten wir ein Haus, ohne zu wissen, dass sich darin mehrere Familien versteckt hielten.“ Darüber hinaus existierte teilweise ein signifikanter Unterschied zwischen dem Zeitpunkt, in dem Systeme wie „Where’s Daddy?“ Alarm schlugen, dass eine Zielperson das Haus betreten hat, und dem Moment, in dem tatsächlich bombardiert wurde. Da auch keine Verifizierung in Echtzeit angeordnet wurde, passierte es durchaus, dass eine Zielperson das Haus längst wieder verlassen hatte, als die Bombardierung erfolgte – nicht aber ihre Familie, die dadurch zu einem weiteren Kollateralschaden wurde. 

In den ersten Wochen des Krieges sei die genehmigte Rate der Anzahl der getöteten Zivilist:innen pro Zielperson mit niedrigerem Rang auf 15 beziehungsweise 20 festgelegt worden. Einer Quelle namens A. zufolge habe die Abteilung für internationales Recht der Armee nie zuvor eine solche pauschale Genehmigung für ein solch hohes Maß an Kollateralschäden erteilt. Einen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebe es in der Praxis nicht. Laut der Quelle B. wurden nach einer Woche diesbezügliche Restriktionen erlassen; als aber klar wurde, dass Häuser dadurch nicht bombardiert werden konnten, wurden diese ganz einfach wieder aufgehoben. 

Zu den nahezu 33.000 bisher bekannten getöteten Zivilist:innen in Gaza dürften weitere hinzukommen, die sich momentan noch unter den Trümmern der zerbombten Häuser befinden.

Stoppt den Genozid in Gaza!

Neben der schonungslosen Enthüllung der – wie +972 Magazine und Local Call es nennen – „Massenmordfabrik“, das heißt des Genozids, den der israelische Staat und seine Armee an der palästinensischen Bevölkerung in Gaza begehen, zeigt die Recherche eines sehr deutlich: UN-Resolutionen ohne Konsequenzen werden den Krieg nicht beenden, sodass Israel den Genozid fortsetzen kann. Ganz im Gegenteil sind westliche imperialistische Staaten wie die USA und Deutschland an dessen Aufrechterhaltung beteiligt, insofern sie die Hauptlieferanten von Waffen an Israel sind. Darüber hinaus haben sie dem israelischen Staat vor allem in den ersten Monaten des Kriegs einen Freifahrtschein – das alles sei Selbstverteidigung gewesen – für die Bombardierungen und das Töten erteilt; für jenen Zeitraum also, auf den sich die Recherche hauptsächlich bezieht. 

Der Widerstand dagegen war von Anfang an groß: Weltweit gingen und gehen Millionen Menschen auf die Straße, um gegen den Genozid in Gaza und für ein befreietes Palästina zu demonstrieren. An zahlreichen Universitäten weltweit gründeten sich Komitees in Solidarität mit Palästina, Arbeiter:innen von kämpferischen Gewerkschaften führten Blockade-Aktionen gegen Unternehmen, die Waffen an Israel liefern, durch. 

Insbesondere in den imperialistischen Ländern braucht es eine antiimperialistische Bewegung der Arbeiter:innenklasse und der Jugend, die sich selbst organisiert und die Aufrüstung sowie die Waffenlieferungen stoppt. Gegen Apartheid und Unterdrückung durch den israelischen Staat braucht es einen gemeinsamen Kampf der palästinensischen Bevölkerung mit der arabischen Arbeiter:innenklasse in Israel sowie der jüdischen Arbeiter:innenklasse, die dafür mit dem Zionismus brechen muss. Das Ziel dabei muss ein befreites, laizistisches, multiethnisches und sozialistisches Palästina der Arbeiter:innen im Rahmen einer sozialistischen Föderation im Nahen Osten sein – ein Palästina, in dem alle Menschen gut und frei leben können. 

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