Irak: Ölfelder bestreikt – Internet abgeschaltet

11.11.2019, Lesezeit 6 Min.
Gastbeitrag

Während die Proteste sich im Irak weiter radikalisieren und landesweit Streiks das Land lahmlegen, schaltet die Regierung das Internet ab und droht mit harten Maßnahmen gegen die Proteste. Unterdessen organisieren in Deutschland Koordinierungskomitees in Solidarität mit den Aufständen Proteste in ganz Deutschland. Ein Bericht von Ammar Almayali.

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Im Irak gab es bis zum 1. Oktober 2019 zwei rote Linien: die eine, die sich Religion nennt und die andere, die sich Tradition nennt. Diese zwei roten Linien schützten die korrupte Elite des Landes. Niemand durfte diese roten Linien überqueren. Wer Religion und Tradition hinterfragte, beging einen Frevel. Die Regierung zu kritisieren, glich einem Sakrileg. Die Religion ist nach wie vor stark in der Politik vernetzt und ermahnt immer wieder die Massen, die herrschende Autorität anzuerkennen. Traditionalist*innen versuchen immer wieder, den Personenkult um politische Anführer zu verfestigen. Doch diese roten Linien gibt es seit dem 1. Oktober nicht mehr. Seit zwei Jahrzehnten ist die irakische Jugend im Krieg, mit Anschlägen, Terrorismus, Diebstahl und Zerstörung groß geworden. Die Jugend, die heute in den ersten Reihen gegen das Regime steht, hat gesehen, wie ihre Zukunft wie auf dem Basar verkauft worden ist. Sie hat kein Vertrauen mehr in Religion und Tradition.

Basra – Ölquelle des Imperialismus

So gingen die Proteste im Irak auch dieses Wochenende weiter. Im Verlauf der letzten Woche verschärfte sich die Situation sogar. Grund dafür ist Basra. Oder vielmehr, die Arbeiter*innen von Basra. Denn sie bestreikten im Zuge der landesweiten Proteste den wichtigen Hafen der Stadt sowie die Ölfelder, die über etwa zwei Drittel der irakischen Ölquellen verfügen. Auch hier gingen Polizei und Milizen der Parlamentsparteien mit rigoroser Brutalität gegen die Streikenden vor, versuchten Streikbrecher*innen in die Raffinerien zu schleusen. Hunderte Verletzte und mehrere getötete Menschen waren die Folge. Die Krankenhäuser Basras konnten aufgrund der hohen Zahl an Verletzten die Versorgung der Menschen nicht mehr aufrecht erhalten. Einige der Toten waren aufgrund mangelnder Medikamente und fehlendem Personal für Operationen zu beklagen. Um auf die Situation aufmerksam zu machen, appellierten die Krankenhausführungen an die Vereinten Nationen. Ohne großen Erfolg.

Unmittelbar nach den Streiks kam es dann zum abrupten Ausfall des Internets. Diese Situation hält bis heute an, mit kurzen Unterbrechungen. Der Sprecher des Oberbefehlshabers der Streitkräfte, Generalmajor Abdul Karim Khalaf, behauptete, der fehlende Zugang zum Internet sei ein Mittel, um Gewalt und Hass zu verbreiten und die Iraker*innen dazu zu bewegen, sich gegen die Regierungen zu behaupten. Eine offensichtliche Lüge, denn abgeschnitten sind diejenigen, die auf den Straßen auf die katastrophale Versorgungslage aufmerksam machen wollen, nicht die Regierung. Eine Versorgungslage, die besonders deshalb so katastrophal ist, weil die Gewinne des im Irak geförderten Öls nicht zum Aufbau der öffentlichen Infrastruktur verwendet, sondern nach Europa und in die USA exportiert werden. Eine Verbreitung der Nachricht über Streiks in der Erdölförderung musste verhindert werden, um Nachahmer*innen zu stoppen und um in den zentralen Ländern des Imperialismus die Versorgung mit Öl zu garantieren. Die Toten von Basra sind damit unmittelbar Opfer der imperialistischen Gewalt. Nur im kurdischen Norden gab es noch Verbindungen zur Außenwelt. Dass diese Zeilen geschrieben werden können, ist auch Leuten zu verdanken, die die 350 km von Bagdad nach Erbil hinter sich brachten, um weiterhin Videos, Fotos und Nachrichten an Verwandte und Bekannte im Ausland zu schicken.

Bagdad – Zentrum der Protestbewegung

Die Proteste sind immer noch ein landesweites Phänomen. In der irakischen Hauptstadt kam es über das Wochenende zu erneuten Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und sogenannten Sicherheitskräften. Quellen aus den selbstorganisierten Teilen des Tahrir-Platzes sprechen von mindestens fünf Märtyrern und über 35 Verletzen. Dabei wurden von Regimeseite scharfe Munition und Schallbomben verwendet, um die Menschen auseinander zu treiben. Die handfesten Auseinandersetzungen finden immer noch an den Brücken über den Tigris statt, hinter denen das Regierungsviertel liegt. So wurde Khudair Abbas, ein Beamter der Ersten-Hilfe-Abteilung, in der Nähe der Al-Sinak-Brücke erschossen, als er Menschen aktiv davon überzeugen wollte, dass humanitäre Arbeit auf den Straßen ohne Probleme zu leisten sei.

Nachdem sich die zerstrittenen Parlamentsparteien in Diskussionen auf Maßnahmen einigten, um die Nöte der Bevölkerung in den Griff zu kriegen, drohte Iraks Ministerpräsident Abdel Abdul Mahdi den Demonstrierenden auf dem Tahrir-Platz nun offen. „Die Proteste haben geholfen und werden dabei helfen, Druck auf politische Parteien und die Regierung auszuüben, um sich zu reformieren und Veränderungen zu akzeptieren“, sagte Abdul Mahdi. Die Demonstrationen würden aber nun „mit allen Mitteln“ beendet werden, die Demonstrierenden „sollen zu einem normalen Leben zurückkehren“, so Abdul Mahdi weiter. Die Menschen auf den Straßen werden sich aber nicht so schnell zufrieden geben. Zu viel haben sie in den letzten Jahren erleben müssen. Die Toten durch die Repression sind weiterhin Ausdruck der Überzeugung der Massen, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Nürnberg – internationale Solidarität

Derweil wurde auch dieses Wochenende in Nürnbergs Innenstadt wieder demonstriert. Das „Koordinierungskomitee für irakische Demonstrationen in Nürnberg“ rief zur Kundgebung auf. Knapp 40 Menschen nahmen teil, darunter auch Benjamin Ruß, Mitglied der revolutionären internationalistischen Organisation, kurz RIO, der vom Koordinierungskomitee eingeladen worden war, eine Rede zu halten. Er rief zur Solidarität mit den Protesten auf und stellte klar, dass die Lösung der Probleme im Irak nicht allein die Aufgabe der Menschen vor Ort sei. Im Kampf gegen die Ausbeutung und Unterdrückung im Irak müssen besonders die Machenschaften des deutschen Imperialismus in Frage gestellt werden und, besonders vor dem Hintergrund der Massenproteste in Chile und im Libanon, auch eine internationalistische Perspektive eingenommen werden.

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Die Kundgebung verurteilte vehement die Brutalität, mit der Parteimilizen versuchen, die legitimen Proteste im Irak nieder zu schlagen . Auf der Kundgebung wurden mehrmals die elementaren Forderungen der Proteste in den Vordergrund gestellt: Rücktritt der Regierung, eine neue Verfassung, Trennung von Staat und Religion, Bereitstellung öffentlicher Infrastruktur zur Versorgung, unter Anderem mit Krankenhäusern, Strom und Wasser sowie das Ende der Korruption und der Massenarbeitslosigkeit.

Hoch die internationale Solidarität. Rede von unserem Autor Benjamin Ruß bei Kundgebung zum irakischen Aufstand in Nürnberg

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