In Erinnerung an Mike Davis
Der marxistische Soziologe, Historiker und Aktivist Mike Davis ist am 25. Oktober im Alter von 76 Jahren verstorben. Wir veröffentlichen einen Nachruf von Warren Montag, Professor für Englische und Vergleichende Literaturwissenschaft am Occidental College in Los Angeles in Kalifornien.
Freud erzählt mal die Geschichte eines Mannes, der vor dem Eingang zum Bahnhof Charing Cross im Zentrum Londons innehält. Irritierte Pendler müssen ihm ausweichen, ohne sich weiter zu fragen, warum sein Kopf in Trauer gesenkt ist. Er sieht sie nicht; sein Blick ist weg vom Bahnhof und auf das Kreuz gerichtet, nach dem der Bahnhof benannt ist. Er spürt die Traurigkeit der im Verborgenen ablaufenden Geschichte der lieben Königin, la chère reine, deren vorzeitiger Tod von ihrem Mann, König Edward, durch eine Reihe von Kreuzen markiert wurde, von denen das letzte heute als „Charing“-Kreuz bekannt ist. Das Kreuz wurde an den Bahnhof angebaut und dient als Orientierungshilfe. Die liebe Königin, la chère reine, ist im Namen „Charing“ verschwunden, seine ursprüngliche Bedeutung ist heute vergessen – außer für den einsamen Trauernden, der noch immer von dem betroffen ist, was er nicht vergessen kann.
Mike Davis war ein Nachfolger dieses Mannes. Die Abwesenheit, die er feststellte, war jedoch nicht die der toten Könige und Königinnen, sondern die der Rebellen, die versuchten, sie zu stürzen (oder ihre heutigen Gegenstücke). Er las die Inschriften, die in den Schutt auf den unbebauten Grundstücken und auf die leeren Schaufenster von Los Angeles geschrieben waren und lauschte aufmerksam auf die ungehörten Schreie, die aus den unmarkierten Gräbern unter Waschsalons und Schnapsläden aufstiegen. Wenn er die Gegenwart betrachtete, sah er Zeichen einer Vergangenheit, die man sonst nicht als Zeichen erkannte, deren Vergessen die notwendige Bedingung für die Legitimität der Gegenwart war. Mike fühlte sich gezwungen, diese Zeichen für uns zu lesen und zu interpretieren, um zum Beispiel zu zeigen, dass eine Stadt wie Los Angeles entlang von Autobahnen, unter Vorstädten, in rissigen Betonplatten, die als Bürgersteige durchgingen, und halb verbrannten Häusern, die seit Jahren unangetastet blieben, die Wunden und Narben von Massenkämpfen trägt. Die Stadt war für ihn eine Art fossiles Zeugnis der Katastrophen und Beinahe-Auslöschungen, die die Geschichte des Widerstands und der Revolte gegen die etablierte politische, wirtschaftliche und rassische Ordnung prägten. Die Präsenz dieser Vergangenheit anzuerkennen, und sei es nur durch die Grausamkeit, mit der sie geleugnet wird, aber auch, um sie uns sehen, fühlen und verstehen zu lassen, war Mikes besondere Gabe.
Ich sage das nicht nur als Leser von Mikes Werken, sondern als jemand, der mit ihm durch Los Angeles gefahren ist, zu Demonstrationen, Streikposten und Versammlungen. Jeder schien ihn zu kennen, und er konnte mir über jede Bewegung, jede Organisation und ihre Anführer genau berichten. Er war berühmt für seine Fähigkeit, perfekt organisierte Vorträge aus dem Stegreif über eine scheinbar unendliche Reihe von Themen zu halten (ich erinnere mich insbesondere an einen Vortrag über die Geschichte der Irisch-Republikanischen Armee, einen detaillierten Vergleich der Bewegungen von Slumbewohnern in Teheran und Mexiko-Stadt und einen Überblick über Theorien zur städtischen Kriegsführung, um 1980).
Seine intellektuellen Fähigkeiten hinderten ihn jedoch keineswegs daran, bei der Anwesenheit „des Feindes“ vor Wut zu kochen, selbst wenn er sich in physischer Gefahr befand. Einmal griff er im Alleingang eine Gruppe von Nazis an, die sich einer von der Koalition gegen Polizeigewalt organisierten Demonstration entgegenstellen wollten. Die bloße Anwesenheit von Polizisten brachte ihn in Rage, und er unterließ es nicht immer, sie mit obszönen Worten zu beschimpfen. Bei der historischen Demonstration „Gerechtigkeit für Reiniger:innen“ in Century City (einem Teil von Los Angeles) im Jahr 1990 erschien Mike in Anzug und Krawatte. Er sagte mir, dass er nicht mitlaufen würde, weil er endlich den Bürgermeister von Los Angeles davon überzeugt hatte, einem Interview zuzustimmen und es nicht verpassen wollte. Er war unnachgiebig: Er konnte einfach nicht verhaftet werden. Als er in einiger Entfernung stand, ging die Polizei brutal gegen die Demonstration vor. Mike wurde wütend, und als er begann, einige in seiner Nähe stationierte Polizisten mit Obszönitäten zu bewerfen, wurde er verhaftet und ins Gefängnis von West Los Angeles gebracht. Der Bürgermeister überzeugte die Polizei später, ihn freizulassen, damit das Interview stattfinden konnte.
Von all den Dingen, die ich von Mike gelernt habe, war vielleicht das Wichtigste, dass es keine Herrschaft ohne Widerstand gibt; er war immer bestrebt, die Kräfte zu identifizieren, die gegen Ausbeutung und Unterdrückung kämpfen, und sich ihnen anzuschließen. Er tat dies nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil es für ihn einfach unmöglich war, anders zu handeln. Die Tatsache, dass er in seinem revolutionären Marxismus nie wankte, schränkte weder seine intellektuelle Kraft noch die zu ihr gehörende Vorstellungskraft ein, sondern bildete die Grundlage für seine Kreativität als Denker. Er schöpfte seine Kraft aus den antiimperialistischen und antirassistischen Bewegungen, an denen er aktiv beteiligt war.
Ich stelle ihn mir jetzt vor, wie er während des wilden Teamster-Streiks von 1970 gewesen sein muss, als er neben dem 18-Rad-Wagen stand, den er zusammen mit so vielen anderen Lastwagen mitten auf dem 101 Freeway in der Innenstadt von Los Angeles geparkt und damit einen der wichtigsten Frachtknotenpunkte des Landes lahmgelegt hatte. Ich sehe sein Gesicht vor Stolz auf das riesige Panorama der Arbeitermacht strahlen, bereits von den Büchern träumend, die er schreiben würde.
Extra İnformation; Seine Bücher:
Prisoners of the American Dream: Politics and Economy in the History of the U.S. Working Class (1986, 1999, 2018)
City of Quartz: Excavating the Future in Los Angeles (1990, 2006)
Ecology of Fear: Los Angeles and the Imagination of Disaster (1998)
Casino Zombies: True Stories From the Neon West (1999, German only)
Magical Urbanism: Latinos Reinvent the U.S. Big City (2000)
Late Victorian Holocausts: El Niño Famines and the Making of the Third World (2001)
The Grit Beneath the Glitter: Tales from the Real Las Vegas, edited with Hal Rothman (2002)
Dead Cities, And Other Tales (2003)
Under the Perfect Sun: The San Diego Tourists Never See, with Jim Miller and Kelly Mayhew (2003)
Land of the Lost Mammoths (2003
Pirates, Bats, and Dragons (2004)
The Monster at Our Door: The Global Threat of Avian Flu (2005)
Planet of Slums: Urban Involution and the Informal Working Class (2006)
No One Is Illegal: Fighting Racism and State Violence on the U.S.-Mexico Border, with Justin Akers Chacon (2006)
Buda’s Wagon: A Brief History of the Car Bomb (2007)
In Praise of Barbarians: Essays against Empire (2007)
Evil Paradises: Dreamworlds of Neoliberalism, edited with Daniel Bertrand Monk (2007)
Be Realistic: Demand the Impossible (2012)
Old Gods, New Enigmas: Marx’s Lost Theory (2018)
Set the Night on Fire: L.A. in the Sixties, co-authored by Jon Wiener (2020)
Dieser Artikel erschien in seiner Originalversion zuerst auf leftvoice.org.