„Ich schieße dir in den Kopf“: Polizei tötet Jugendlichen bei Verkehrskontrolle

28.06.2023, Lesezeit 5 Min.
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Bild: Anonyme Citoyen / Twitter

Bei einer Verkehrskontrolle im französischen Nanterre erschoss die Polizei am Dienstagmorgen einen 17-jährigen Jugendlichen. Entgegen üblicher Behauptungen ist dies keine Ausnahme. Erst Anfang Juni ereignete sich in Nordrhein-Westfalen ein Fall, der einige Parallelen aufweist.

Bilder von Polizist:innen, die Menschen im Straßenverkehr erschießen, kursieren immer wieder, zumeist im Kontext von Polizeigewalt in den USA. Aber eben nicht nur in den USA. Am Dienstagmorgen erschoss die französische Polizei einen 17-jährigen Jugendlichen bei einer Verkehrskontrolle in Nanterre, einem Vorort von Paris. Auf einem Handyvideo, das sich zunächst vor allem über Twitter verbreitete, ist zu sehen, wie ein Fahrzeug am Straßenrand angehalten wird. Als dieses wieder anfuhr, richtete eine:r der Polizist:innen, die neben dem Fahrzeug standen, aus nächster Nähe die Waffe auf den Fahrer des Autos, eröffnete das Feuer und tötete ihn. Das Fahrzeug krachte wenig später in ein Verkehrsschild und kam so zum Stehen. Ein weiterer Insasse, ebenfalls minderjährig, wurde festgenommen, ein anderer konnte vor der Polizei fliehen. Als wären diese Szenen nicht schon verstörend genug, ist in dem Video außerdem ein Satz zu hören, der kaltblütiger nicht sein könnte: „Ich schieße dir in den Kopf.“ Anstelle des Kopfes traf der Polizist die Brust des Jugendlichen, am Ergebnis änderte das nichts.

Und wie so oft in solchen Fällen ließ das Narrativ der Polizei nicht lange auf sich warten: Der Fahrer sei auf die Polizist:innen zugefahren; dies wird durch das Video klar widerlegt. Von Seiten der Polizei-„Gewerkschaft“ hieß es weiterhin, der Jugendliche sei wegen früherer Verkehrsdelikte sowie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte bereits polizeilich bekannt gewesen. Außerdem gefährdeten solche Situationen das Leben der Polizist:innen und der Bevölkerung. Zu dieser Bevölkerung scheint der Getötete wohl nicht gezählt zu werden, vielmehr zeigt sich schonungslos, dass Befehlsverweigerung anscheinend eine Lizenz zum Töten ist. Wohlgemerkt durch die Polizei, denn sie ist es, die das Leben der Bevölkerung nicht nur gefährdet, sondern teilweise beendet. Der Beamte, der geschossen hatte, wurde zunächst wegen Verdacht auf Totschlag in Polizeigewahrsam genommen. Gegen ihn ermittelt nun die Polizeiaufsicht.

Als Reaktion auf die Polizeibrutalität demonstrierten zahlreiche Menschen, darunter vor allem Jugendliche, am Dienstagabend bis in die Nacht hinein in Nanterre sowie weiteren Vororten gegen diesen erneuten Mord durch die Polizei, die mit Tränengas und Gummigeschossen dagegen vorging.

Ob Rechtsextremismus oder Polizeigewalt – immer sind es die berühmten Einzelfälle; eine dreiste Lüge, hinter der sich Polizei, Justiz und Politik verstecken. Auch in Deutschland gab es erst Anfang Juni einen Fall, der beachtliche Parallelen aufweist. Ein 19-jähriger Jugendlicher ohne Führerschein lieferte sich im nordrhein-westfälischen Herford eine Verfolgungsjagd mit der Polizei. Schließlich bog er in eine Sackgasse in einer Siedlung in Bad Salzuflen ein und kam dort mutmaßlich zum Stehen beziehungsweise wendete das Auto. Laut Aussage der Polizei kam der Jugendliche der Aufforderung, das Auto zu verlassen, nicht nach, sondern habe beschleunigt, um mit angeblich erhöhter Geschwindigkeit auf diese zuzufahren. Sechs Polizist:innen feuerten daraufhin 34 Schüsse auf das Fahrzeug und dessen Insassen ab. Dieser überlebte schwerverletzt, bleibt aber vermutlich querschnittsgelähmt. Die ohnehin umstrittenen Bodycams zeichneten den Einsatz wie so oft nicht auf, was Innenminister Reul damit begründet, dass sie dafür gedacht seien, zu deeskalieren und nicht, um Beweise zu sichern. 34 Schüsse auf einen Fahrer ohne Führerschein sind eine recht interessante Interpretation von Deeskalation. Auch eine Rettungskraft, die vor Ort war, bezweifelt die polizeiliche Version, insofern es laut ihrer Aussage erstens recht unwahrscheinlich sei, dass man in einem so kurzen Wendehammer so beschleunigen könne, dass eine hohe Geschwindigkeit erreicht werde. Weiterhin stellt sie die Frage, ob dann nicht der Airbag hätte auslösen müssen, was er nicht tat. Sie sieht vielmehr Anzeichen für „exzessive Polizeigewalt“. Gegen die sechs Beamte wird nun wegen Körperverletzung im Amt ermittelt. Gegen den schwerverletzten Jugendlichen hingegen hat die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen versuchten Mordes in Verdeckungsabsicht eingeleitet.

Polizeigewalt ist weder Zufall noch Versehen

Für wenige ist die Polizei tatsächlich „Freund und Helfer“: Sie ist es für die herrschende Klasse, deren Interessen sie durchsetzt. Eine Polizei ohne Gewalt kann es daher in den bestehenden Verhältnissen nicht geben. Für alle anderen ist die Polizei eben genau das: eine Instanz, die die Interessen des Kapitals hochhält, mit Schlagstöcken, Tränengas und Pfefferspray durchsetzt und auch vor Mord nicht zurückschreckt. Befürchten müssen Polizist:innen dabei wenig bis nichts, insofern Kolleg:innen gegen Kolleg:innen ermitteln und sich gegenseitig schützen. Bestürzte Kommentare, wie derjenige von Jean-Luc Mélenchon, den er umgehend auf Twitter veröffentlichte – „Die Todesstrafe gibt es in Frankreich nicht mehr. Kein Polizist hat das Recht zu töten, es sei denn, es handelt sich um Notwehr“ –, sind keine Lösung und keine Veränderung. Notwendig sind zunächst unabhängige Untersuchungen unter Beteiligung von Betroffenen, Angehörigen und sozialen Organisationen, die im Falle von Polizeigewalt eingesetzt werden. Außerdem gehören die Polizei und ihre „Gewerkschaften“ aus den Gewerkschaftsverbänden und aus Veranstaltungen wie dem CSD ausgeschlossen. Langfristig aber gehört die Polizei abgeschafft – der Kampf gegen die Polizei geht immer auch einher mit einem Kampf darum, wer die Macht innehat. Die Aufgabe ist es daher, für eine Welt zu kämpfen, in der die Kontrolle bei den Arbeiter:innen liegt und in der Ausbeutung und Unterdrückung durch Kapitalist:innen beendet sind.

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