Hunderttausende gegen Frauenmorde und Vergewaltigungen in Lateinamerika

13.06.2016, Lesezeit 4 Min.
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100.000 Menschen gehen in Buenos Aires gegen Frauenmorde auf die Straße. In São Paulo demonstrieren Zehntausende gegen die „rape culture“. Sexualisierte Gewalt ist Alltag für Frauen und LGBTI in Lateinamerika – doch der Protest dagegen wächst.

Allein im vergangenen Jahr starben in Lateinamerika 2.500 Frauen an sexualisierter Gewalt. In Argentinien waren es zwischen Juni 2015 und Mai diesen Jahres 275 Frauen. Die Kette sexualisierter Gewalt beginnt oft am Arbeitsplatz oder in der Schule durch die Belästigung von Chefs oder Autoritätspersonen, und nimmt seinen Lauf über sexistische Werbung im Fernsehen, Verfolgung und Belästigung auf der Straße bis hin zur Vergewaltigung und der Ermordung. Im Brasilien fand 2014 alle elf Minuten ein sexueller Übergriff statt.

#NiUnaMenos

In Argentinien folgten im vergangenen Jahr Hunderttausende dem Aufschrei #NiUnaMenos (Nicht eine weniger) auf die wichtigsten Plätze des Landes, nachdem er sich in den sozialen Netzwerken verbreitet hatte. Auch an diesem 3. Juni wieder Frauen und viele Unterstützer*innen im ganzen Land gegen Frauenhandel, Frauenmorde und die restriktiven Abtreibungsgesetze.

Denn sowohl die linkspopulistische Vorgängerregierung von Cristina Kirchner als auch die neue rechte Regierung unter Mauricio Macri sind für diese Gewalt mitverantwortlich: Es fehlt an Geldern für Kampagnen gegen Gewalt an Frauen und für Sexualbildung – doch besonders gravierend ist das bestehende Abtreibungsverbot, wodurch die Regierung direkt für die unnötig hohe Zahl an jährlich sterbenden Frauen verantwortlich ist. Hinter ihnen steht die Katholische Kirche, die einen enormen Druck ausübt, um die Einhaltung der tradierten Geschlechterrollen zu gewährleisten.

Eine wichtige Forderung in diesem Jahr war die Freiheit für Belén, eine junge Frau aus dem Norden Argentiniens, die nach einer natürlichen Abtreibung festgenommen und wegen Mordes angeklagt wurde. Das Abtreibungsverbot führt jedoch nicht dazu, dass weniger Abtreibungen stattfinden, sondern nur dazu, dass diese in illegalen und besonders prekären Zuständen vollzogen werden. Jedes Jahr sterben in Argentinien 300 Frauen nur an den Folgen heimlicher Abtreibungen.

Auf der Demonstration in Buenos Aires, an der besonders viele Jugendliche teilnahmen, vermischten sich die Forderungen nach mehr Rechten für Frauen mit der allgemeinen Ablehnung der Sparpolitik der Regierung, die in wenigen Monaten zu hunderttausenden Entlassungen führte und die Tarife für die wichtigsten Güter wie Strom, Gas und Wasser in die Höhe trieb.

#Portodaselas

Auch in Brasilien gab es in den letzten Wochen massive Demonstrationen gegen sexualisierte Gewalt und besonders die „rape culture“, der besonders oft arme Mädchen und Frauen zum Opfer werden. Anlass war die Verbreitung eines Videos, das zeigte, wie 33 Männer eine 16-Jährige vergewaltigen. Das von den Tätern selbst veröffentlichte Video stieß auf enorme Ablehnung und so wurde zu Demonstrationen im ganzen Land unter dem Hashtag #Portodaselas (Für sie alle) aufgerufen. Allein in São Paulo gingen Zehntausende auf die Straße.

Auch in Brasilien bezogen viele der hauptsächlich jungen Demonstrant*innen Stellung gegen die neue Rechtsregierung von Michel Temer. Dieser ist selbst bekennender Sexist und hat als solcher keiner einzigen Frau Platz in seinem Kabinett gegeben. Der erste Ermittler des Falls, Alessandro Thiers, versuchte zudem, der Betroffenen die Schuld an ihrer Vergewaltigung zuzuschieben und fragte, ob sie „aus Gewohnheit an Orgien“ teilnehme. Dies zeigt deutlich, wie die Institutionen des bürgerlichen Staates, indirekt oder direkt, eine Kultur der sexualisierten Gewalt aufrechterhalten und Straffreiheit gewähren.

Mexiko und Chile

Auch in anderen Teilen Lateinamerikas organisieren sich Frauen gegen Frauenmorde und Sexismus. So fand in Mexiko-Stadt Ende April eine große Demonstration unter dem Motto #VivasNosQueremos (Wir wollen leben) gegen die Frauenhandelsnetzwerke und die grassierenden Frauenmorde besonders an der Grenze zu den USA statt.

In Chile fand am vergangenen Wochenende ein großes Treffen von Frauen und der sexuellen Vielfalt mit 400 Menschen aus dem ganzen Land statt. Es wurde beschlossen, Kommissionen an den Universitäten aufzubauen, um gegen sexuelle Belästigung und für eine nicht-sexistische Bildung zu kämpfen. Außerdem forderten sie, an den Arbeitsplätzen für gleichen Lohn für gleiche Arbeit, für das vollständige Recht auf Abtreibung und gegen Frauenmorde zu kämpfen.

Diese Mobilisierungs- und Organisierungsprozesse in Lateinamerika sind wichtige Erfahrungen, die die Frauen im Kampf gegen ihre strukturelle Unterdrückung und die Auswirkungen sexualisierter Gewalt machen. Denn nur auf der Straße gegen den bürgerlichen Staat, seine Institutionen und die Unternehmer*innen kann der Kampf gewonnen werden. Dafür organisieren die Schwesterorganisationen von RIO in vielen Ländern sozialistische Frauenorganisationen mit dem Namen „Pan y Rosas“ (Brot und Rosen).

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