Großbritannien: Schnellen Schrittes Richtung Brexit?

25.07.2019, Lesezeit 6 Min.
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Wie zu erwarten war, wurde Boris Johnson am vergangenen Dienstag zum britischen Premierminister erklärt. Der von vielen als „britischer Trump“ bezeichnete Nachfolger von Theresa May bekommt nun die Möglichkeit, sein Programm durchzusetzen: Brexit oder Tod.

Drei Jahre ist es mittlerweile her, dass der ehemalige konservative Premierminister David Cameron zu einem Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union (EU) aufrief. Damit öffnete er eine Büchse der Pandora, die bis heute niemand schließen konnte. Die darauf folgende Krise führte zum Rücktritt, sowohl von Cameron als auch von seiner Nachfolgerin Theresa May, die ohne Erfolg versuchte, sowohl der EU als auch dem euroskeptischen Flügel ihrer Partei zu dienen. Am Ende sah sie sich dazu gezwungen, zurückzutreten, nachdem ihr Austrittsplan drei Mal im britischen Parlament scheiterte.

In seiner Rede als gewählter Vorsitzender der konservativen Partei nahm sich Johnson neben dem Versprechen des Austritts Großbritanniens aus der EU zum 31. Oktober zwei weitere große Aufgaben vor: das Land zu vereinen und die Labour-Partei von Jeremy Corbyn zu besiegen.

Diese drei Versprechen scheinen für einen Premierminister, der weder über Legitimation unter den Massen noch über parlamentarische Unterstützung verfügt, schier unmöglich einzuhalten. Und während er sich weiterhin für einen harten Brexit ausspricht, wird er für diese Haltung von den großen Kapitalist*innen und der City of London angegriffen. Es ist als Geste an das Unternehmer*innentum zu verstehen, dass Andrew Griffith, Manager des Pay-TV-Senders Sky, einer der ersten Namen von Johnsons Minister*innenkabinett ist.

Seine Regierung ist noch schwächer als die von Theresa May und besitzt kaum Rückhalt, was die Dekadenz des politischen Systems und des britischen Kapitalismus deutlich zeigt.

Johnson wurde nur von 92.000 der 160.000 Parteimitglieder der Konservativen gewählt, die stimmberechtigt waren. Das entspricht alleine 0,25 % der gesamten Bevölkerung von 66 Millionen, oder 0,35 % der Wähler*innen, unter denen die weißen, alten, männlichen Teile der Bevölkerung aus den oberen Schichten dominieren.

Um zu einem bereits polarisierten Klima beizutragen, sprachen mehrere Analysten (und auch konservative Parlamentarier, die das „Remain“ unterstützen) von einem „Putsch“. Für sie sind die Unterstützer*innen Johnsons keine echten Konservativen, sondern „Entrist*innen“, die sogenannten „Blukip“, die von der rechtsextremen UKIP kommen. Es besteht kein Zweifel, dass der Prozess, der Johnson zur Regierung führte, absolut undemokratisch war. Die Putscherklärung ist jedoch übertrieben. Die „Brexiter“ sind keine Marsmenschen, die die konservative Partei stürmten. Historisch gesehen hatte die britische herrschende Klasse immer einen antieuropäischen Flügel. Das Referendum, das mit dem „Leave“-Triumph endete, zeigte einen tiefen sozialen Bruch, der in den Jahrzehnten des Booms des Neoliberalismus entstand.

Johnson hat 100 Tage vor sich, um das Erbe der Krise zu verwalten, zu deren Entstehung er selbst einen großen Beitrag geleistet hat, als er im Referendum 2016 zur führenden Stimme der Leave-Kampagne wurde und eine gut organisierte Wahlmanipulationsmaschine anführte. Sein politischer Opportunismus war so weit gediehen, dass er offen gestand, keinen ernsthaften Plan zur Konkretisierung des Brexit zu haben, dessen Triumph er nicht erwartet hatte.

Es ist nicht klar, in welche Richtung er gehen wird, nicht einmal die Zusammensetzung seines Kabinetts ist bekannt. Aber vorerst ändern sich die Szenarien für die kommende Periode nicht. Es gibt mindestens drei mögliche Auswege, die eine gewisse Wahrscheinlichkeit besitzen.

Das erste ist das des „harten Brexit“, dessen wichtigster Verteidiger Johnson selbst ist. Um dies zu erreichen, müsste er nichts tun als die Zeit verstreichen zu lassen. Dies ist die extremste Variante und würde die Polarisierung und Spaltung nicht nur zwischen den Vertreter*innen und Vertretenen, den Großstädten und der ländlichen Bevölkerung, den Alten und Jungen, sondern vor allem zwischen den Interessen der großen Kapitalisten und dem politischen Establishment verschärfen. Deshalb ist dies nicht unbedingt die einzige oder gar die wahrscheinlichste Option.

Die zweite Möglichkeit ist die Neuverhandlung des Abkommens, das die EU mit Theresa May abgeschlossen hat, ohne den Charakter des „weichen Brexit“ zu verändern. Dieses Szenario wirft zwei grundlegende Widersprüche auf. Intern würde es zu einer schnellen Enttäuschung von Johnsons tollwütiger Pro-Brexit-Basis führen, die zu extremeren Varianten wie Nigel Farages Brexit Party übergehen würde. Einiges davon ist bereits bei den Europawahlen geschehen, bei denen die konservative Partei den fünften Platz belegte. Nach außen hin gibt es immer noch keinen Grund für die EU, Johnson zu gewähren, was sie May nicht gewährt hat. Dies verstärkte sich besonders nach den Wahlen zum Europäischen Parlament, bei denen die rechten euroskeptischen Populismen unter Führung von Mateo Salvini (und mit einer gewissen Entfernung von Trump) nicht so große Erfolge feierten wie erwartet, und Pro-EU-Parteien wie die Grünen oder die LibDem gestärkt aus der Krise der traditionellen Parteien hervorgingen.

Der dritte mögliche Weg ist der der vorgezogenen Wahlen. Dieses Szenario versucht sowohl die konservative Führung, als auch die großen Geschäftsleute zu vermeiden oder so weit wie möglich zu verzögern. Damit wollen sie vermeiden, was bis vor kurzem als ein fast sicherer Sieg des Vorsitzenden der Labour Party, Jeremy Corbyn, angesehen wurde. In Wirklichkeit hat die Großbourgeoisie jedoch weniger Angst vor Corbyn, der sich bisher als stabilisierender Faktor im Rahmen des Brexit-Chaos erwiesen hat, als vor den Illusionen, die sein Programm der Renationalisierungen und bestimmter Umverteilungsmaßnahmen in weiten Teilen der Jugend hervorriefen und die sich daraufhin massiv der Labour-Partei zugewandt haben. Außerdem waren sie Teil der Zehntausenden oder Hunderttausenden, die in den letzten Monaten auf die Straße gegangen sind, obwohl sie immer noch von pro-europäischen Sektoren angeführt werden.

Boris Johnson in Großbritannien, wie Trump in den Vereinigten Staaten, sind die Versuche der rechten Flügel der Bourgeoisie, die mehr oder weniger tiefgreifenden Tendenzen zur organischen Krise, als Folge der kapitalistischen Krise von 2008 und des Endes des Globalisierungszyklus, zu schließen.

Doch bei mehreren Wahlüberraschungen von „populistischen“ bürgerlichen Politikern der letzten Jahre wird eines deutlich: Es sind zwei unterschiedliche Dinge, über die technische Expertise zu verfügen, mit einer Kampagne die Wahlen zu gewinnen – wie beim Brexit-Referendum – und die Regierbarkeit zu gewährleisten, wenn man dabei die bestehenden Spaltungen innerhalb der Gesellschaft vertieft. Oder, um es theoretischer auszudrücken, ohne über die nötige Hegemonie zu verfügen, was sich früher oder später im Klassenkampf zeigen wird. Es sind turbulente Zeiten, die vor uns liegen.

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