Großbritannien im Streikfieber: Lehren für Deutschland?

23.09.2022, Lesezeit 10 Min.
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Bild: RobertoBarcellona / shutterstock.com

Nach dem Staatsbegräbnis von Elizabeth II. im Vereinigten Königreich geht der Klassenkampf weiter. Die neu besetzte Regierungsbank unter Liz Truss beginnt mit ihrem Thatcher-Tribut; die Gewerkschaften gehen ebenfalls in die Offensive: mehrere Sektoren streiken zum 1. Oktober parallel.

Nach dem Staatsakt der verstorbenen Königin kehrt der Klassenkampf in Großbritannien auf die Bühne des Geschehens zurück. In einem verräterischen Akt der Gewerkschaftsführungen hatte man den Klassenkampf während der Phase der „nationalen Trauer“ fast zwei Wochen lang pausiert. Nachdem Streiks reihenweise ausgesetzt wurden und der Gewerkschaftsdachverband TUC seinen jährlichen Kongress verschob, kommt wieder etwas Dynamik in die Sache.

Auf der Seite des Kapitals dagegen hielt man die Füße nicht still: Liz Truss, die neue Premierministerin und Johnson-Nachfolgerin, bereitete eine Offensive neoliberaler Maßnahmen vor, die an diesem Freitag vorgestellt wurden. Bereits am selben Tag, als die über 70 Jahre lang regierende Monarchin Großbritanniens starb, hatte Liz Truss erste Maßnahmen zur „Entlastung“ verkündet: Es werde eine „Energiepreisgarantie“ zum 1. Oktober eingeführt, die die Kosten für Energie auf circa 80 Prozent des jetzigen Standes kappt. Bei einem durchschnittlichen Haushalt  wären dies Energiekosten von 2.500 Pfund pro Jahr. Eine Verdoppelung der Kosten im Vergleich zum Vorjahr. Zu dieser Maßnahme wurde Liz Truss mehr oder weniger gezwungen, um nicht direkt die Kampfbereitschaft der Bevölkerung zu spüren.

Nach mehreren Treffen mit den Bossen der Energiekonzerne wurde sich auf den obersten Grundsatz geeinigt: Es sollen in jedem Fall die Profite der Energiebranche nicht angefasst werden. Der Preisdeckel wird in erster Linie durch die Aufnahme neuer Staatsschulden finanziert und nicht durch eine viel höhere Besteuerung der enormen Gewinne der Konzerne. Truss lehnt nämlich eine sogenannte „Übergewinnssteuer“ vehement ab: Es hindere die Konzerne an Direktinvestitionen in Großbritannien, lautet ihre Argumentation.

Klar ist allerdings, wer am Ende wirklich zahlen soll: die Arbeiter:innenklasse in Großbritannien. Beschlüsse wie diese sind richtungsweisend für die Politik der kommenden Periode. Im heute vorgestellten Mini-Haushalt verkündete der neue Finanzminister Kwasi Kwarteng mehrere Maßnahmen, die entlang derselben Linien laufen: Eine Senkung der Grunderwerbsteuer, eine Rücknahme der Erhöhung der Unternehmenssteuer und sogar eine perspektivische Senkung. Es werden zusätzlich im ganzen Land „Niedrig-Steuer-Zonen“ etabliert, die Konzerne anlocken sollen.

Anders als ihre Vorgänger:innen steht Truss vergleichsweise offen dazu, im Dienste der Bosse und Reichen zu stehen. Die im „Nothaushalt“ enthaltenen massiven Entlastungen, vor allem für Konzerne und Reiche, verteidigt sie als „gerecht“, da diese die britische Wirtschaft ankurbeln und am Laufen halten sollen. Truss kritisiert die, von ihr so genannte, „Linse der Umverteilung“, durch die das Medienestablishment ihre Politik angeblich kritisiert: „Nur durch Wirtschaftswachstum komme Großbritannien aus der aktuellen Krise raus“. „Wir haben uns in diesem Land viel zu lange mit Fragen der Umverteilung beschäftigt“, merkte auch der neue Finanzminister Kwasi Kwarteng in seiner heutigen Parlamentsrede bei der Verkündung der Maßnahmen an. Den Prognosen des Finanzministeriums zufolge profitieren die 660.000 Spitzenverdiener am meisten vom heutigen „Mini-Haushalt“, denn der Spitzensteuersatz wurde deutlich gesenkt.

Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse

Auf die Arbeiter:innenklasse kommt derweil eine neue Welle der Repressionen und Einschränkungen der gewerkschaftlichen Organisierung zu. Die von der Truss-Regierung bereits im Vorfeld versprochenen Anti-Gewerkschafts-Gesetze, die Liz Truss sicher einen Wahlsieg bei den Konservativen einfuhren, verschob die Regierung in der Umsetzung perspektivisch auf Ende November und brach damit ihr Versprechen an die Partei und Kapitalist:innen, innerhalb der ersten 30 Tage Streiks massiv zu erschweren und einzuschränken. Dass sie aber trotzdem kommen werden, wurde heute ebenfalls von Kwarteng erneut betont.

Der bisherige Kurs Truss’ zeigt vor allem eins: Sie wird weiter auf eine Politik der Konfrontation mit der Arbeiter:innenklasse setzen und spitzt sie sogar noch weiter zu. Während sie Steuern für Reiche senkt und Bonusdeckel für Bänker:innen aufhebt, werden Angriffe auf die Gewerkschaften und Arbeitszeitgesetze vorbereitet. Die neoliberale Offensive von Liz Truss steht hierbei ganz in Thatchers Erbe, aber der „neue alte“ Kurs ist auch bei den Herrschenden nicht unumstritten. Das hat sich zuletzt an der Auseinandersetzung zwischen Akteur:innen der Truss-Regierung und der Bank of England gezeigt.

Die Nationalbank erhöhte diese Woche im Kampf gegen die Inflation den Leitzins auf 2,25 Prozent, das seit 27 Jahren höchste Niveau, und stellte eine perspektivische Erhöhung auf mehr als vier Prozent in Aussicht. Dabei nimmt die Forderung an die Bosse zur Lohnzurückhaltung die höchste Priorität ein. Es wird versucht, bewusst eine Rezession zu provozieren, um die Arbeitslosigkeit zu erhöhen und die Löhne dabei zu senken. Truss setzt dagegen auf kurzfristiges Wirtschaftswachstum durch weitere Deregulierung und kritisiert dabei das „herrschende Mindset“ sowohl im Finanzministerium als auch bei der Nationalbank. Das ist eine Auseinandersetzung zwischen zwei Seiten ein und derselben Medaille, aber eine Verdeutlichung der andauernden Krise, in der sich Großbritannien befindet.

Die neoliberale Offensive der Truss-Regierung wird dagegen von ihren Gegner:innen als ein Hochrisikospiel empfunden, das den britischen Kapitalismus noch weiter destabilisieren könnte. An das versprochene Wirtschaftswachstum glaubt niemand so recht: hier prognostiziert die Bank of England im nächsten Quartal schon einen weiteren Wachstumsrückgang und somit eine Rezession. Dass für Truss eine „Entfesselung“ der Wirtschaft mit schweren Angriffen auf die Gewerkschaften verbunden ist, kommt nicht von ungefähr. Es ist vor allem die gestiegene Streikkonjunktur und das Erwachen der britischen Arbeiter:innenklasse, das den Herrschenden in dieser Periode so viel Angst bereitet. Durch all die Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse, die immer weiter wachsende Inflation und die dadurch zunehmende Verarmung der Arbeiter:innen im Vereinigten Königreich kommt der Klassenkampf erstarkt hervor.

Großbritannien vor erstarkender Streikwelle

Nach einem heißen Sommer des Streiks im Hafen, bei der Bahn und bei der Post bahnt sich nun der dringend notwendige und als logische Konsequenz resultierende kämpferische Herbst an. Seit Montag streiken die Hafenarbeiter:innen in Liverpool für über zwei Wochen – dazu kommen heute erneut die Kolleg:innen von Felixstowe, dem größten britischen Hafen. Es ist zu begrüßen, dass die Kolleg:innen in Liverpool ihren Streik trotz des angeordneten Trauertages begannen, im Kontrast zu den verräterischen Handlungen der anderen Gewerkschaftsbürokratien, die ihre Streiks abblasen ließen.

Die Situation der Arbeiter:innen ist akut und die Ablenkungsmanöver des Kapitals ändern daran nichts. Der Kampf der Kolleg:innen am Hafen ist ein wirklich vorbildlicher Akt der Klasse und ein positives Beispiel für alle Kolleg:innen in Deutschland und Europa: In einem strategisch so wichtigen Sektor werden die wichtigsten Anlaufstellen für die britische Wirtschaft zwei Wochen lang bestreikt. Von der verlangten Standorttreue und den Verlusten für die Wirtschaft ließen sie sich bis jetzt nicht einschüchtern. Zum Vergleich: Die Gewerkschaftsbürokratie von ver.di gab sich nach zwei Warnstreiks mit den erzielten Ergebnissen an den deutschen Häfen zufrieden.

Nachdem große Erfolge durch Streiks in den einzelnen Sektoren bisher ausblieben, erhöht sich auch zunehmend der Druck durch die Arbeiter:innen auf den gewerkschaftlichen Apparat Erfolge zu sichern und steigenden Lebenskosten zu lindern. Das Ergebnis: Endlich wird der Versuch von linken Teilen der Gewerkschaften unternommen, Streiks zu koordinieren. Durch den Verrat des TUC an der Arbeiter:innenklasse und die Unterordnung des Klassenkampfs unter die nationale „Einheit“ wurde nämlich die Chance verpasst, ebenfalls Druck auf die eher sozialdemokratisch ausgerichteten Gewerkschaften, wie GMB oder Unison, auszuüben, ihre Streikaktionen im Interesse der Klasse zu koordinieren.

So streiken jedoch am ersten Oktober landesweit Beschäftigte der Post, der Bahn und lokal die Hafenarbeiter:innen von Liverpool und Felixstowe. Weiterhin gibt es Streiks bei verschiedenen Busunternehmen, im Gesundheitswesen, im Bildungswesen und der Müllabfuhr. Besonders streikbereit zeigen sich die Busfahrer:innen der Firma Aviva in London, die in einen unbefristeten Streik gehen und somit einen großen Teil des Verkehrs in der Metropolregion stilllegen.

Die Arbeiter:innen aus Sektoren, die aktuell nicht streiken und/oder wo der gewerkschaftliche Organisierungsgrad nicht hoch ist, sind allerdings nicht weniger streikbereit. So kamen bis jetzt über die Kampagne „Enough is Enough“  mehr als 500.000 Arbeiter:innen, verteilt über das gesamte Vereinigte Königreich, zusammen, die für eine Verbesserung der Lage kämpfen. Die Kampagne, initiiert durch die linken Gewerkschaftsbürokratien der CWU und RMT sowie von Teilen der reformistischen Linken innerhalb der Labour Party, hat nach eigenen Angaben in jeder Ortschaft eine Ortsgruppe bestehend aus Arbeiter:innen und ist ein notwendiger Fortschritt im britischen Klassenkampf. Die breite, arbeitende Basis und die gewerkschaftliche Verankerung stellt den Erfolgsfaktor der Kampagne innerhalb der Arbeiter:innenklasse dar. Die Kontrolle der Kampagne durch die Bürokratien stellt aber auch den größten Bremsklotz für diese dar.

Am ersten Oktober veranstaltet „Enough is Enough“ erstmals einen landesweiten Aktionstag, bei der zur Unterstützung von Streikposten sowie zu zahlreichen großen Protesten aufgerufen wird. Ein einzelner Aktionstag wirkt hierbei allerdings nur symbolisch, wenn er die Ausnahme bleibt. Die Kampagnenleitung kündigte zwar schon weitere Proteste an, allerdings bleibt klar, dass die Bürokratien der linken Teile der Gewerkschaften befürchten, die Kontrolle über die Bewegung und Dynamik in der aktuellen Situation zu verlieren. Sie machen es nicht freiwillig. Sie müssen der Dynamik ein Ventil auf den Straßen geben und können sie nicht, wie sonst, bremsen. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland bleiben bis jetzt von allen Seiten unangetastet, obwohl sie die bisher größte Triebkraft hinter der Inflation sind. Somit belässt es die Bürokratie der linken Gewerkschaften bei rein ökonomischen Forderungen und lässt die politischen Fragen außer Acht.

Während all der Arbeitskämpfe und der neoliberalen Offensiven der Conservative Party wird die Labour Party schnell aus den Augen verloren. Auf dem kommenden Parteitag vom 25. bis 28. September wird es viel um das öffentliche Image der Partei gehen. Während die Parteilinken darauf setzen, dass der Flügel um den ehemaligen Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn irgendwann wieder einmal die Partei übernimmt, möchten die Parteirechten alles dafür tun, um Teile der britischen Kapitalist:innenklasse für sich zu gewinnen. Durch Spenden von namhaften Großkapitalist:innen will die Parteirechte mögliche ausbleibende Finanzierungen der Gewerkschaften kompensieren. So wird dieses Jahr auch erstmals die Nationalhymne „God save the king!“ gesungen, was ein Hohn auf die internationale Arbeiter:innengeschichte ist. Die Parteiführung gibt alles, um den Kapitalist:innen zu zeigen, dass sie eine „seriöse Alternative“ zur Conservative Party und keine Gefahr für die Profite der Konzerne darstellt.

Da die Labour Party ursprünglich aus Gewerkschaften heraus gegründet wurde, ist sie bis heute fest mit ihnen verbunden. Allerdings kommt der offen kapitalfreundliche Kurs unter dem Vorsitzenden Keir Starmer bei den linken Gewerkschaften nicht gut an. Deshalb drohen sie immer wieder mit ausbleibender Finanzierung, wenn der Rechtskurs der Parteispitze selbst ihnen zu weit geht. So auch und besonders dieses Mal. Der Vorsitzende von Unite kündigte erneut an, nicht zum Parteitag zu kommen, da die Gewerkschaft mit dem aktuellen Kurs nicht zufrieden ist. Doch die Labour Party hatte schon immer den Wunsch, das Kapital zu verwalten. Die symbolischen Akte der „linken“ Bürokrat:innen genügen nicht – es müssen endlich Taten folgen. Die Gewerkschaften müssen mit der Partei brechen, anstatt sich in einer historischen Krise an Formulierungen bei Labour-Beschlüssen aufzuhängen.

Die kommenden Arbeitskämpfe und der Kampf gegen die Anti-Gewerkschaftsgesetze stellen ein neues Schlüsselereignis im britischen Klassenkampf dar. Durch den Druck von Teilen der kämpfenden Avantgarde wurden Teile der linken Gewerkschaftsbürokratien dazu gezwungen, erstmals sektorenübergreifend Streiks zu koordinieren. Das ist ein neuer Erfolg für die Arbeiter:innen und stellt einen wichtigen Schritt für einen möglichen Generalstreik zur Abwehr der Attacken der britischen Kapitalist:innenklasse dar. Diese Arbeitskämpfe braucht es auch in Deutschland. Sie sind ein positives Beispiel. Es ist essentiell, dass „Enough is Enough“ nicht bei einem einzigen Aktionstag bleibt und auf lokaler Ebene Streikende aus allen Sektoren unterstützt. Die kommenden Monate werden eine Zerreißprobe für das britische Kapital und können wegweisend für uns hier in Deutschland sein.

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