Große Koalition der Heuchelei

25.11.2013, Lesezeit 10 Min.
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Fast zwei Monate nach der Bundestagswahl gibt es noch keine Regierung: Die Bildung einer Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD unter Führung von Angela Merkel zieht sich rekordverdächtig in die Länge. Die herrschenden Parteien lassen sich Zeit. Doch wofür eigentlich?

Glaubt man dem Zentralorgan der deutschen Bourgeoisie, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, suchen die voraussichtlichen Koalitionspartner nach Wegen, möglichst viele Geldgeschenke zu machen: „Die große Koalition droht zu einer Spendiergemeinschaft zu werden. Die drei Parteien predigen Wasser und trinken Wein.“[1] Der verantwortliche Redakteur des innenpolitischen Ressorts der FAZ, Jasper von Altenbockum, hat Angst, dass die Union einen „hohen Preis“ für die Koalitionsbildung bezahlen wird (und meint damit unter anderem den Mindestlohn von 8,50€).[2] Was die FAZ an die Wand malt, klingt gerade in Mitten der Weltwirtschaftskrise nach der Rückkehr des verloren geglaubten Sozialstaats.

Haben sich also all die KritikerInnen (inklusive wir von RIO) geirrt, die vor einer Großen Koalition als Vorbotin von Kürzungsorgien gewarnt haben? Kurz nach der Wahl schrieben wir, dass das Wahlergebnis „weitere Attacken auf den Lebensstandard der Menschen in Europa vorankündigt“ und dass die zu erwartenden Widersprüche in der Regierung und dem gesamten Regime „zu größeren politischen und sozialen Erdbeben in Europa, aber auch in Deutschland selbst führen werden.“ [3]

An den Bedürfnissen der Massen vorbei

Als Antwort auf diese Frage müssen wir betrachten, was diese Große Koalition den ArbeiterInnen, der Jugend, den RentnerInnen und den MigrantInnen konkret vorschlägt. Denn oberflächlich gesehen sind die (offiziellen) Arbeitslosenzahlen niedrig und der DAX auf einem historischen Höchststand. Ist also in Deutschland, auch wenn im restlichen Europa immer härtere Zeiten auf die Masse der Bevölkerung zukommen, alles in Ordnung?

Mitnichten.

Denn die zwar tatsächlich weniger dramatische Situation der deutschen Wirtschaft und des deutschen Arbeitsmarkts ist gerade auf den Mechanismen aufgebaut, die vor allem Südeuropa in den Abgrund der Krise gestürzt haben, nämlich das erbarmungslose „race to the bottom“ der Reallöhne, die Ausbreitung von Leiharbeit und Werksverträgen, der Zwang zur Privatisierung usw.. Und diese Mechanismen, die sich mit der Agenda 2010 immer stärker Bahn gebrochen haben – die aber letztlich schon in der Konstruktion der Europäischen Union als erweitertem Binnenmarkt und Ressource billiger Arbeitskraft für die deutsche Wirtschaft eingeschrieben waren –, haben immer stärkere Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung, der Jugend und der RentnerInnen in Deutschland selbst. Wenn man sich die Koalitionsverhandlungen anschaut, könnte man meinen, das alles spiele fast gar keine Rolle. Stattdessen sind die zu verhandelnden Maßnahmen, vor denen die FAZ so viel Angst zu haben scheint, nichts weiter als ein Tropfen auf den heißen Stein im Feuer der Krise. Für diejenigen, die momentan mit all ihrer Kraft auf die Straße gehen, um für ihre Lebensbedingungen zu kämpfen – die Beschäftigten im Einzelhandel, bei Amazon, an den Berliner Schulen, die verschiedenen Bewegungen von Geflüchteten in München, Berlin und anderswo, die Studierenden ohne Wohnung und viele weitere –, hat die Große Koalition trotz einiger sozialer Maßnahmen keine weitergehende Perspektive anzubieten.

Denn die bisherigen Koalitionsverhandlungen verdecken mit ihrer pseudo-sozialen Heuchelei die wirklich zentralen Probleme der ArbeiterInnen und der Jugend in ganz Europa, die die herrschende Klasse in Deutschland nicht einmal ansatzweise zu lösen imstande ist. Das zentrale Wahlversprechen der SPD ist die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn von 8,50€. Die streikenden KollegInnen im Einzelhandel, die sich gerade gegen die Einführung einer neuen Niedriglohngruppe von 8,50€ (West) wehren, wissen, wie niedrig dieses „Zugeständnis“ der SPD an die Erwartungen der großen Mehrheit der Bevölkerung, die Schwarz-Gelb abgewählt haben, tatsächlich ist. Debattiert wird in den Verhandlungen zur Großen Koalition nicht, wie die Arbeits- und Lebensbedingungen der Prekarisierten, die im letzten Jahrzehnt massiv unterminiert wurden, dauerhaft wieder aufgebaut werden können, sondern im Gegenteil darüber, wie der „Mindest“-Lohn schon ausgehöhlt werden kann, bevor er überhaupt in Gesetzesform gegossen wird. Natürlich wird der Mindestlohn eine Verbesserung für einige Millionen Beschäftigte bedeuten, die bisher für Hungerlöhne oder gar umsonst arbeiten (so soll er möglicherweise auch auf PraktikantInnen angewandt werden), doch er bleibt strukturell so niedrig, dass er im Endeffekt nur eine Entskandalisierung und damit vor allem eine Zementierung des gesamten Niedriglohnsektors bewirken soll. Notwendig wäre dagegen ein Mindestlohn, der den tatsächlichen Lebensnotwendigkeiten der ArbeiterInnen und ihrer Familien entspricht, an die Inflationsrate gekoppelt ist und dessen Festlegung und Einhaltung von den ArbeiterInnenorganisationen kontrolliert wird.

Auch die anderen Sozialmaßnahmen, die von der Koalition bis zum Redaktionsdatum dieser Zeitung debattiert wurden – und die noch unter „Finanzierungsvorbehalt“ stehen –, sind Gesetzespakete, die kaum als ein Geschenk der Koalition betrachtet werden können, sondern wenn überhaupt nur die krassesten neoliberalen Kürzungs- und Privatisierungsorgien ein wenig nachjustieren sollen. Dazu zählt zum Beispiel auch die hochgelobte „Mietpreisbremse“, die im Grunde genommen nur jetzige Regelungen zur unlauteren Steigerung von Mieten etwas stärkt: So sollen Mieten „in angespannten Märkten“ nur noch in vier statt vorher drei Jahren um 15% steigen dürfen – doch gerade die realen Beispiele der letzten Jahre, in denen gerade in vielen Bezirken von Städten wie Berlin die Mieten weitaus schneller stiegen, zeigen, dass die Anwendung solcher Regelungen auch heute schon äußerst willkürlich darauf beruht, was denn nun als „angespannte“ Gegend zählt. Die Abschaffung der Übernahme von Maklergebühren durch MieterInnen ist ebenso nur die Korrektur einer unlauteren Praxis von Jahrzehnten und keine soziale Spende der neuen Großen Koalition.

Doch selbst wenn man davon ausgehen könnte, dass die beispielhaft genannten Punkte der Koalitionsverhandlungen mehr als nur verbale Gesten der SPD für ihre der Großen Koalition skeptisch gegenüberstehende Basis darstellen sollten, schwebt immer noch der „Finanzierungsvorbehalt“ über den aktuellen Diskussionen. Und dieser ist nicht leicht zu nehmen, denn ab 2016 gilt die verfassungsrechtlich festgeschriebene „Schuldenbremse“, die Neuverschuldungen auf Bundes- und Länderebene ausschließen soll, was im Umkehrschluss neue Kürzungen oder die Rücknahme von geplanten Maßnahmen bedeuten wird. Und zur Leiharbeit, zum Lohnunterschied zwischen Ost und West, zum rassistischen Asylrecht, und zu anderen zentralen Fragen der Lebensbedingungen der ArbeiterInnenklasse und der Jugend in Deutschland haben Union und SPD wenig bis nichts zu sagen.

Deutsche Großmachtambitionen

Währenddessen wird ebenfalls kaum ein Wort darüber verloren, was die Pläne der kommenden Bundesregierung in Bezug auf die anhaltende wirtschaftliche, politische und soziale Krise in Europa sind, während insbesondere in Ländern wie Griechenland oder dem Spanischen Staat die Arbeitslosigkeit weiterhin grassiert, Zwangsräumungen von Familienwohnungen an der Tagesordnung sind und die extreme Rechte immer stärker wird. Dieses Schweigen hat indes nichts damit zu tun, dass die künftige Regierung keine Politik in Richtung Europa hätte, sondern ganz im Gegenteil: Die Marschrichtung ist eindeutig. Schon vor der Wahl wurde die Notwendigkeit weiterer Einschnitte in Griechenland betont, und kurz nach der Wahl fragte Bundespräsident Joachim Gauck, ob „Deutschland seine Verantwortung ausreichend wahr[nimmt] etwa gegenüber den Nachbarn im Osten, im Nahen Osten oder am südlichen Mittelmeer?“[4] Die „Verantwortung“, von der Gauck spricht, ist indes nicht die, die Krise im Sinne der leidenden Massen zu lösen, sondern die „Verantwortung“ eines aufstrebenden Hegemons.

Spätestens seit den missglückten Kriegen in Afghanistan und Irak befindet sich der einzige nach dem Kalten Krieg übrig gebliebene Hegemon, die USA, in einem stetigen Sinkflug, ohne dass bisher eine andere Macht diesen Platz einnehmen konnte. Auch der deutsche Imperialismus kann dies noch nicht, aber in der Krise sieht die deutsche herrschende Klasse eine Chance, zumindest die unangefochtene Vorherrschaft in Europa an sich zu reißen. Das bringt aber auch die Notwendigkeit mit sich, eine soziale Ordnungsmacht in Europa darzustellen, also die herrschenden Klassen in Südeuropa, die von ihren Bevölkerungen immer wieder attackiert werden, ausreichend zu stützen. Nur: Die KapitalistInnenklasse in Deutschland hat selbst nach sechs Jahren der Krise keine einheitliche Vorstellung davon, wie sie am Besten zum Hegemon wird. In der Vergangenheit hat Deutschland im Schatten der USA agiert. Dabei nutzte sie geschickt die Lücken aus, die die Hegemoniekrise der USA boten, um ihr Einflussgebiet zu erweitern. Um aber einen qualitativen Sprung in diesem Sinne zu machen, muss Deutschland auch bereit sein, die Kosten zu tragen, mit denen die Rolle eines führenden Hegemons behaftet ist. Die Frage ist weiterhin, ob das deutsche Kapital bis zum Letzten dazu bereit ist. Diesen Widerspruch zu lösen, ist für die herrschende Klasse die Aufgabe der Großen Koalition.

Im Übrigen sorgen die Ambitionen der verschiedenen imperialistischen Mächte in der aktuellen Krise immer wieder für Spannungen zwischen diesen Mächten, was die Herausforderung für die deutsche Bourgeoisie perspektivisch weiter erhöht. Auf niedriger Ebene zeigen sich diese Widersprüche schon längst, und nicht zuletzt im aktuellen NSA-Skandal, der zu großen diplomatischen Verwerfungen zwischen Deutschland und den USA geführt hat. Die scharfe Kritik an der Überwachungstätigkeit der NSA seitens der herrschenden Parteien und der Bundesregierung ist daher nicht nur heuchlerisch (gerade in Anbetracht der geplanten Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung in der neuen Legislaturperiode und der massiven Überwachung gerade von Linken hier in Deutschland, sowie der massiven Mithilfe der deutschen Geheimdienste bei der Überwachung durch die NSA), sondern Zeichen eines veränderten Klimas zwischen den beiden Imperialismen. Diese schwelende Konfliktstellung bedeutet für die arbeitenden Massen auf beiden Seiten des Atlantiks nichts Gutes, da sie die Leidtragenden eines offenen Ausbruchs der Widersprüche zwischen beiden Mächten sein werden.

Warten auf die Große Koalition?

Das Rekordergebnis von CDU/CSU hat bei den Wahlen paradoxerweise zu einer schwierigeren statt einfacheren Regierungsbildung geführt. Das aktuelle Warten auf die Große Koalition könnte in diesem Sinne durchaus ein Vorzeichen für eine schwierige Regierungszeit sein. Wenn es nach der Union gegangen wäre, stünde die Große Koalition längst fest. Die Verzögerung liegt an den Notwendigkeiten der SPD-Spitze, ihrer Basis – die voraussichtlich im Dezember über den Koalitionsvertrag abstimmen soll, was in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie vorgekommen ist – zu zeigen, dass sie ihr „Bestes“ getan hat, um die ohnehin laschen Wahlversprechen der SPD gegen die CDU durchzusetzen. Außerdem wird die SPD-Führung, wenn sie im Rahmen der Großen Koalition unsoziale Politik durchsetzt, sich mit einem Verweis auf den Mitgliederentscheid aus der Affäre zu ziehen versuchen, nach dem Motto: „Ihr habt es doch so gewollt.“ Dass dies keine leichte Aufgabe sein wird, zeigen die Wahlergebnisse der SPD-Spitze auf dem kürzlich abgehaltenen SPD-Parteitag, die von KommentatorInnen einhellig als „Denkzettel“ für die Koalitionsverhandlungen gewertet wurden.

Dazu kommt, dass die neue Kraft am bürgerlich-konservativen Sternenhimmel, die „Alternative für Deutschland“, gerade auf die CDU einen anhaltenden rechten Druck ausüben wird, der gerade wegen der engen Bindung von konservativen Teilen der Intelligenz an diese Partei zu einer noch lauteren medialen Kritik von rechts gegen eine „sozialdemokratisierte“ CDU führen könnte. Entscheidend für die Zukunft der AfD werden die Europawahlen im März 2014 sein – dort wird sich zeigen, ob sich eine Partei rechts von der CDU dauerhaft etablieren kann.

Gleichzeitig befindet sich die SPD in einem Prozess der schwindenden Unterstützung seitens der Gewerkschaftsbürokratie, was sich in einer großen Koalition weiter beschleunigen könnte. So wird die SPD immer wieder eine sozialere Rhetorik nötig haben, um diese Unterstützung nicht allzu sehr aufs Spiel zu setzen. So ist auch die auf dem Parteitag angekündigte „Öffnung“ zur Linkspartei zu verstehen.

Die ArbeiterInnenklasse und die Jugend haben von der SPD in der Großen Koalition dennoch nichts zu erwarten. Im Gegenteil: Die aktuellen Kampfbeispiele, die es in Deutschland durchaus gibt, wenn auch noch auf niedrigem Niveau, sind Zeugen davon, dass die ArbeiterInnen, die Jugend, die RentnerInnen, die MigrantInnen, gemeinsam und entschlossen auf die Straße gehen müssen, wenn sie selbst ihre grundlegendsten Forderungen – gleichen Lohn für gleiche Arbeit, keine Prekarisierung, bezahlbaren Wohnraum, keine Altersarmut, Bleiberecht, usw. – durchsetzen wollen, und zwar gegen die Regierung und das hinter ihr stehende Kapital, welche die neue Vormachtstellung Deutschlands in Europa auf dem Rücken der Massen der gesamten Region aufbauen wollen.

Fußnoten

[1]. FAZ: Auf großem Fuße. 29. Oktober 2013.

[2]. Jasper von Altenbockum: Ein hoher Preis. FAZ. 18. Oktober 2013.

[3]. Stefan Schneider: Merkel, ein Koloss auf tönernen Füßen.

[4]. Joachim Gauck: Rede zum Tag der Deutschen Einheit. 3. Oktober 2013.

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