G20 in Hamburg, oder: Die Entblößung der bürgerlichen Demokratie

28.06.2017, Lesezeit 9 Min.
1

Die politische Herrschaft des Merkel-Regimes ist so weit verfestigt, dass Einschränkungen demokratischer Rechte praktisch widerstandslos hingenommen werden, bis zu dem Punkt, dass selbst die eigene Verfassung verletzt wird und die Justiz politische Urteile fällt, die zu massenhafter Repression führen können.

„Die Herrschaft des Finanzkapitals, wie des Kapitals überhaupt, ist durch keinerlei Umgestaltungen auf dem Gebiete der politischen Demokratie zu beseitigen. […] Aber diese Herrschaft des Finanzkapitals hebt nicht im mindesten die Bedeutung der politischen Demokratie als einer freieren, weiteren und klareren Form der Klassenunterdrückung und der Klassenkämpfe auf. Daher führen alle Ausführungen über die „Undurchführbarkeit“ im ökonomischen Sinne einer der Forderungen der politischen Demokratie unter dem Kapitalismus zu einer theoretisch falschen Definition der allgemeinen und grundlegenden Beziehungen des Kapitalismus zur politischen Demokratie überhaupt.“ – Lenin

Bürgerliche Republiken können immer so lange die demokratische Fassade ihres Schlachthauses aufrechterhalten, bis es infolge heißer Klassenkampf-Situationen zu einem Sturm des Herrschaftshauses kommt. Die mit Grund- und Menschenrechten verzierte Fassade fängt nicht nur an zu bröckeln; die Herrschenden der politischen Kaste machen sodann auch keine Anstalten, die hässlichen Seiten ihres Palastes zu verbergen. Demonstrationsverbote in verschiedenen Zonen, riesige Gefangenenlager, Campverbote, Militärhubschrauber und last but not least ein Kriegsschiff, das unter einem billigen Vorwand zur Zeit des G20-Gipfels am Hamburger Hafen anlegen soll:

Die Republik ist ein schöner Palast,
doch sie steht auf dickem Morast
von Dummheit und Reaktion.

Es ist irreführend, von einem Ausnahmezustand in der Hansestadt zu sprechen, wenn die G20 zu ihrem Rendezvous zusammentreffen werden. Der Wahnsinn und die irrsinnigen Kosten, mit denen der Gipfel mit aller Kraft durchgesetzt werden soll, prägen vielmehr das Wesen der kapitalistischen Herrschaft: auf dem Rücken unserer Klasse und mit äußerster Brutalität durchgesetzt. In diesem Sinne ist der G20-Gipfel auch eine hervorragendes Stück zur Veranschaulichung, dass selbst die westlichen imperialistischen Staaten wie Deutschland nicht davor zurückschrecken, alle Repressionsmittel zu verwenden, um antikapitalistischen Protest zu ersticken.

Ihre Demokratie und unsere

Im Zuge einiger grotesker Interviews nannte der Hamburger Innensenator Andy Grote den G20-Gipfel ein „Festival der Demokratie“. Ein Ausdruck, der unsterblich werden wird, wenn die Polizei mit Schlagstöcken und Tränengas gegen Demonstrierende vorgehen wird und die G20 inmitten von Zehntausenden Demonstrierenden am Abend des 7. Juli im Millionengrab namens Elbphilharmonie Beethovens „Ode an die Freude“ hören werden. Laut Grote sei der Gipfel vor allem zweierlei: Zum ersten kommen die Herrschenden der Welt zusammen, um über die Konflikte und Herausforderungen in der Welt zu debattieren und ihre „Lösungen“ auszuhandeln. Zum zweiten solle durch den größten Polizeieinsatz in der Geschichte der Hansestadt sichergestellt werden, dass friedlicher Protest gegen die G20 möglich sei.

Doch abgesehen davon, dass die Bewohner*innen der Stadt gar nicht danach gefragt wurden, ob so ein Gipfel in ihrer Stadt stattfinden sollte; haben auch die Protestierenden keinerlei Einfluss auf die Agenda, die im Zuge des Meetings beschlossen werden wird. Beschlüsse, die uns alle angehen werden und die höchstwahrscheinlich Dinge wie eine weitere Aufrüstung, verschlechterte Arbeitsbedingungen und erhöhte Grenzkontrollen beinhalten werden. Es gibt in Wahrheit nichts antidemokratischeres als diesen Gipfel, wo Entscheidungen selbst an Parlamenten und anderen Volksvertretungen vorbei getroffen werden.

Und doch… fängt für uns die Demokratie nicht im Parlament an. Arno Münster paraphrasierend wird infolge antidemokratischer Urteile seitens der Klassenjustiz immer mehr Menschen bewusst, dass die Demokratie im Staat und die Demokratie des Staates stattdessen mit der Demokratie in der Arbeit, in der Universität, in der Schule und in allen lebenswichtigen Einrichtungen beginnen sollte.

Das Prunkstück der bürgerlichen Demokratie, die Unabhängigkeit der Justiz, ist eine weitere Farce, mit der demokratische Rechte der Arbeiter*innen wie z.B. beim Streikrecht beschnitten werden, ohne dass die Richter*innen irgendjemandem Rechenschaft schuldig wären. Welchen Sinn hat es, die Klassenjustiz des Oberverwaltungsgerichts entscheiden zu lassen, ob das Protestcamp im Stadtpark politischer Natur und damit unter das Versammlungsrecht falle oder nicht? Die Unabhängigkeit der Judikative ist ein Mechanismus, mit der die Richter*innen in gottähnlicher Art Entscheidungen für die Herrschenden treffen können.

Neben repressiven Gesetzen sind es die Urteile, die immer wieder den unterdrückerischen Charakter des Staates aufzeigen – besonders just in den Momenten, wo der Protest sich dagegen formt. Diese Momente zeigen auf, dass wir nicht in einer „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ leben, sondern in einem Klassenkampf, der keinerlei Versöhnungen kennt. Dieses Axiom besteht bis heute und wie Karl Marx können wir dies auch jetzt beobachten:

Die Zivilisation und Gerechtigkeit der Bourgeoisordnung tritt hervor in ihrem wahren, gewitterschwangern Licht, sobald die Sklaven in dieser Ordnung sich gegen ihre Herren empören. Dann stellt sich diese Zivilisation und Gerechtigkeit dar als unverhüllte Wildheit und gesetzlose Rache. Jede neue Krisis im Klassenkampf zwischen dem Aneigner und dem Hervorbringer des Reichtums bringt diese Tatsache greller zum Vorschein.

Es darf jedoch nicht der falsche Eindruck entstehen, dass demokratische Rechte etwa nur für eine bestimmte Zeit eingeschränkt werden. Das bürgerliche Regime betreibt vielmehr eine ständige Repression in allerlei Couleur, je nach Bedarf eingesetzt und an die Situation angepasst; die Repression ist die condition sine qua non der kapitalistischen Gesellschaft: Sie ist die Bedingung, ohne die die Herrschaft einiger weniger Kapitalist*innen nicht aufrechterhalten werden kann. Auch in Hamburg wäre es für die G20 unmöglich, ein Treffen abzuhalten, ohne dass 50 Millionen Euro und bis zu 25.000 Einsatzkräfte aus dem In- und Ausland für die Aufrüstung und Repression aufkommen würden.

Der Genosse Jean-Paul Sartre beschrieb das Wesen der Repression in einer Zeit massiver Verfolgung revolutionärer Aktivist*innen und Arbeiter*innen in folgenden Worten:

Die Repression wird von der Klasse der Ausbeuter gegenüber den von ihr Ausgebeuteten in Permanenz ausgeübt. Sie kann, wie bei Simca [einem französischen Autohersteller, A.d.A.], wo bewaffnete Schläger angeheuert worden sind, die Form der organisierten Gewalt annehmen; sie kann sich auf die ständige Drohung mit Entlassung beschränken, auf Schikanen, auf die systematische Isolierung des aktiven Gewerkschafters in seinem Betrieb: Sie ist allgegenwärtig, unausweichlich, weil allein die Gewalt — entfesselt oder einfach anwesend — jene andere, fundamentale Gewalt, die die Ausbeutung darstellt, aufrechterhalten und fortsetzen kann. So verstanden, ist alles — angefangen bei der Einstellung und der angeblichen Freiheit der Arbeitswahl — Gewalt, die zur Repression führen kann. Die blutige und bewaffnete Repression, die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung durch uniformierte Haufen, die man Ordnungskräfte nennt, ist nur eine besondere Form repressiven Handelns, dem in der Gesellschaft, in der wir leben, die Arbeiter permanent ausgesetzt sind: Das Regime ist darauf bedacht, zurückhaltend damit umzugehen, es greift nur darauf zurück, wenn es Angst bekommt und sich unmittelbar bedroht; in der Tat hat die Anwendung der Gewalt oft schlimme Folgen für die, die sie angeordnet haben.

Daraus ergibt sich folgendes:

So ist also die offene, offizielle Repression nur ein Moment des permanenten Krieges, den das Regime gegen die Arbeiter führt, der Augenblick der Wahrheit, in dem es sich völlig unverhüllt zeigt.

Das große Aufgebot ist Reaktion und Provokation zugleich. Es müssen tausende Delegierte geschützt werden, und zwar vom Anfang bis zum Ende. Dies ist eben der Grund für die blaue Zone, welche fast die halbe Stadt umfasst und in der 550.000 Menschen wohnen. Anders als mit dieser notwendigen Repression wäre es unmöglich, den Gipfel abzuhalten, der angeblich deswegen in die Hansestadt geholt wurde, weil Hamburg einerseits das „Tor zur Welt“ repräsentiere und andererseits als Großstadt die Infrastruktur und Logistik stemmen könnte. Die politischen Ambitionen des Bürgermeisters Scholz tun das Übrige. Feststeht aber auch, dass für ihn am 7./8. Juli gemeinsam mit seinem Innensenator Andy Grote die politische Zukunft auf dem Spiel steht.

Dabei galt spätestens seit der Ermordung Carlo Giulianis bei den G8-Protesten 2001 in Genua ein solcher Gipfel, bei der wichtigsten Massenmörder*innen (bis auf Benjamin Netanyahu) zusammenkommen werden, als undurchführbar in einer Großstadt. Zu groß war die Furcht vor radikalen Massenprotesten, die gar den Gipfel selbst gefährden könnten. Angela Merkel kündigte im Februar 2016 in Abstimmung mit dem Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) die pure Antithese an: Der kommende G20-Gipfel sollte nicht nur in Hamburg stattfinden, sondern in den Messehallen und damit in direkter Nachbarschaft zum traditionell linken Stadtteil Sternschanze. Eine Provokation sondergleichen und ein geradezu waghalsiges Unternehmen aufgrund der gewaltigen Sicherheitsvorkehrungen, die ob der Staatschefs wie Donald Trump, Recep Tayyip Erdoğan, Wladimir Putin etc. getroffen werden müssen.

Konklusion

In den letzten Wochen ist alles dafür getan worden, die Proteste zu kriminalisieren und mit allen Mitteln davor abzuschrecken, nach Hamburg zu kommen. Alles vergebens. Die „Empfehlung“ des Polizeipräsidenten, bei Möglichkeit die Stadt über das Wochenende zu verlassen, wurde in den Wind geschlagen. Mehr als 30 Demos sind angekündigt, Protestierende aus vielen verschiedenen Ländern werden anreisen und am Samstag, den 8. Juli die internationale Großdemo mit über angekündigten 60.000 Menschen abhalten. Kein Geld der Welt kann Proteste wie diese aufhalten – zu groß die Wut, die Entschlossenheit der Teilnehmenden, gegen die G20 zu protestieren.

Möglicherweise werden die Proteste in Hamburg einen Wendepunkt markieren. Schon jetzt hat sich besonders die rot-grüne Regierung in Hamburg diskreditiert und bei der Mehrheit der Bevölkerung eine Ablehnung des G20-Wahnsinns hervorgerufen. Der Staat hat einmal mehr gezeigt, dass er ein Werkzeug der herrschenden Klasse ist, der nicht transformiert oder reformiert werden kann. Dies sind schon jetzt die Lehren, die wir aus dem G20-Protest ziehen können und die umso notwendiger den organisierten Widerstand gegen die Bourgeois-Ordnung auf die Tagesordnung setzen.

Mehr zum Thema