„Frauen an vorderster Front“ – Veranstaltung mit Andrea D‘Atri in Paris

23.02.2019, Lesezeit 6 Min.
Gastbeitrag

Am Freitag sprachen Gelbwesten-Aktivistinnen und ehemals streikende Arbeiterinnen bei einer großen Veranstaltung mit der argentinischen Feministin Andrea D‘Atri in Paris. Ihre Berichte zeugten nicht nur von einem unglaublichen Kampfgeist, sondern auch von der Notwendigkeit, sich gemeinsam zu organisieren. Ein Gastbeitrag von Amelie Müller.

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Es ist Freitagabend in einem unscheinbaren Pariser Hinterhof. Mehr als 350 Arbeiter*innen, Schüler*innen und Student*innen sind gekommen, um einem der letzten Abende von Andrea D’Atris Europareise beizuwohnen. Bei Veranstaltungen im Spanischen Staat, in verschiedenen Städten Frankreichs und auch in München hat sie ihr Buch bereits präsentiert, in dem die Erfahrungen der feministischen Massenmobilisierungen in Argentinien gegen das Abtreibungsverbot, sowie das Programm für einen neuen sozialistischen Feminismus im 21. Jahrhundert festgehalten sind. An diesem Abend soll sie zum Thema « Von den grünen Halstüchern in Argentinien bis zu den Gelbwesten in Frankreich – Frauen an vorderster Front ?” referieren. Was an diesem Abend geschieht, geht jedoch weit über eine Buchvorstellung hinaus.

Die französische Schwesterseite von KGK Révolution Permanente, die sich im Laufe der Gelbwestenbewegung als eine der wichtigsten Informationsquellen für tausende Gilets Jaunes und deren Sympathisant*innen etabliert hat, hat neben Andrea auch die Streikführerin Fernande Bagou und die Gelbwestenanführerin Francie eingeladen. Fernande erzählt gleich zu Beginn von ihren Auseinandersetzungen mit dem Reinigungskonzern Onet (wird ironischerweise so ausgesprochen wie “hônnet”, zu deutsch “ehrlich”), welcher als Unterauftragnehmer für andere Großkonzerne (u.a. die Bahngesellschaft SNCF) die prekäre Beschäftigung von 70.000 Reinigungs- und Sicherheitskräften weltweit verwaltet. Nach einer Folge von Angriffen auf die ohnehin schon unzumutbaren Arbeitsverhältnisse in der Bahnhofsreinigung gingen die Kolleg*innen in den Streik :

Das war meine erste Streikerfahrung: Während 45 Tagen haben wir den Müll liegen gelassen und stattdessen Kundgebungen gehalten. Sie nennen uns “kleine Hände”, aber wir halten den Laden am Laufen. Wir haben unsere Rechte eingefordert, uns organisiert und den Streik letztendlich gewonnen. Allen anderen prekär Beschäftigten will ich sagen: wir müssen aufstehen, kämpfen und bis zum Schluss durchhalten. Wir Frauen haben uns selbst organisiert, für alle Streikenden gekocht, am lautesten Lärm gemacht. Davor wusste ich nicht, wie man an einem Mikrofon spricht. Nach unserem Kampf habe ich vor nichts und niemandem mehr Angst.

Auch drei Reinigungsangestellte der Pariser Luxushotelkette Hyatt sind an diesem Abend gekommen, um von ihren Streikerfahrungen im letzten Herbst zu berichten:

Das billigste Zimmer in unserem Hotel kostet 700€ pro Nacht, das teuerste 3.000€ – das sind für uns zwei Monatsgehälter. Wir wurden rassistisch und respektlos behandelt und als wir uns bei der Hotelleitung beschwert und Forderungen gestellt haben, wurden wir mit neuen Reinigungskräften ersetzt. Die einzige Möglichkeit uns zu wehren, war, vor dem Hotel Radau zu machen. 85 Tage haben wir auf der Rue de la Paix, einem der reichsten Boulevards von Paris ausgeharrt und es war physisch und emotional sehr anstrengend. Die Solidarität der anderen Hotelangestellten – der Kofferträger, des Küchenpersonals, der Rezeption – haben uns die Kraft gegeben, durchzuhalten. So ein langer Streik zehrt an der Moral. Viele von uns sind Mütter und wir wussten nicht, wo unser Streik hinführen würde. Von anfangs 53 haben 41 Frauen bis zum Schluss durchgehalten. An Weihnachten wurde der Druck auf die Hotelleitung durch unseren Streik zu groß und wir wurden unter Erfüllung unserer Forderungen wieder eingestellt. Wir Frauen müssen uns bewusst werden, wie stark wir sind.

Pascaline, Gelbwestenanführerin aus Sulz, einem 8.000-Seelendorf aus dem Elsass ist extra nach Paris gereist, um ihre Erfahrungen mit den Gelbwestenfrauen auf dem Land zu teilen. Sie erzählt:

Am Ortseingang unserer kleinen Gemeinde haben wir einen Kreisverkehr – aber einen riesigen. Den hat die Gemeindeverwaltung „Beginn der Menschheit” getauft – also dachte ich, wieso fangen wir nicht da mit der Revolution an? Meine Gruppe aus Gelbwestenfrauen gehört zum untersten Rand. Wir arbeiten als Haushalts- und Reinigungshilfen, bei den meisten reicht es kaum bis zum Monatsende. Viele von uns haben sich am Anfang hinter ihrem Mann versteckt, wollten nicht allein auf die Straße gehen. Einige haben auch mit dem Front National sympathisiert. Das haben wir im Laufe der Zeit alles überwunden. Bei gemeinsamen Kundgebungen, Frauenplena, Karaoke- und Grillparties auf dem Kreisverkehr haben wir diskutiert und Frauensolidarität aufgebaut. Die Männer mussten jetzt akzeptieren, dass es eine Gelbwestengruppe nur für Frauen gab, die stark war und ihre eigenen Forderungen stellen konnte. Auf einmal kamen von den Frauen Sätze wie: «Du bist doch Arbeiter, du kannst doch nicht rechts sein.» Viele Widersprüche lösten sich mit der Zeit einfach auf. Wir müssen nur weiterkämpfen und uns als Anführerinnen mit unserem eigenen Programm in die vorderste Reihe stellen.

Torya, eine die im Frühjahr 2018 gegen die Privatisierung der SNCF unter Macron gestreikt hat, meint:

Es ist doch ironisch – die Regierung macht das wohl ökologischste Fortbewegungsmittel, nämlich die Bahn, durch Privatisierung für uns Normalsterbliche unerschwinglich und fordert dann eine Benzinsteuer. Gerade wir alleinerziehenden Frauen sind auf bezahlbare Mobilität angewiesen. Aber das interessiert die dort oben nicht.

Nach den Vorträgen von Andrea fragen sich viele unter uns, ob und wann die proletarische Frauenbewegung aus Lateinamerika auch in Europa ankommen wird. Die Antwort ist: Sie ist schon längst da. Und ihr Gesicht ist migrantisch, prekär und entschlossen. Viele Redebeiträge von jungen Migrantinnen, alleinerziehenden Müttern und älteren Frauen fanden an diesem Abend eine Bühne. Ihre Klarheit, Selbstsicherheit und Kampfgeist hinterließen eine beeindruckende Stille im Raum. Gemeinsam formulierten alle diese Frauen eine jahrzehntealte Erkenntnis neu: “Diejenigen, die am meisten unter dem Alten leiden, werden mit der größten Kraft für das Neue kämpfen.”

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