Frankreich: Protestmarathon gegen Reformmarathon

08.05.2018, Lesezeit 6 Min.
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Seit seinem Amtsantritt vor gut einem Jahr setzt Macron in Frankreich eine Reform nach der anderen durch. Von Anfang an sind sie immer wieder von Protest begleitet. Seit Anfang April hat dieser eine neue Dimension erreicht. Doch wer hat am Ende den längeren Atem?

Gut ein Jahr ist es nun her, dass Emanuel Macron das französische Präsidentenamt übernommen hat. Zur Wahl angetreten war er mit einem ehrgeizigen Programm. Frankreich sollte von Grund auf „transformiert“ werden und nach Jahrzehnten des „Reformstaus“ endlich wieder wettbewerbsfähig gemacht werden. Seitdem setzt er in einem wahren Reformmarathon ein Wahlversprechen nach dem anderen um. Als Vorbild dient ihm dabei Deutschland und die Agenda 2010.

Arbeitsmarktliberalisierung, Abschaffung der Erbschaftssteuer, Senkung der Unternehmenssteuer, Stärkung des Polizeistaats und Verschärfung des Asylgesetzes sind schon durchgesetzt, die Streichung von 120.000 Stellen im öffentlichen Dienst, Sanktionierung von Arbeitslosen, Limitierung des Hochschulzugangs, Rentenreform und Umstrukturierung der Eisenbahn sollen Schlag auf Schlag folgen. Die Wirtschaftselite jubelt. Nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa. Endlich schreitet jemand selbstbewusst zur Tat und entschlackt den übergroßen und längst nicht mehr zeitgemäßen Wohlfahrtsstaat Frankreich, genau wie es einst Schröder mit dem „kranken Mann Europas“ tat, so der Tenor in der bürgerlichen Presse.

Anhaltender, aber zurückhaltender Protest

Doch die Franzosen sind teilweise alles andere als glücklich über die rasante Zerschlagung von Rechten, welche sie sich teils hart erkämpfen mussten. Schon die Wahl Macrons hatte mehr den Charakter einer Wahl gegen Le Pen als konkret für Macrons Programm. Im ersten Wahlgang stimmten nur 24% der Wähler*innen für ihn, und auch die absolute Mehrheit im Parlament ruht, dank Mehrheitswahlsystem und geringer Wahlbeteiligung, nur auf Stimmen von 13% der Wahlberechtigten.

Die ersten großen Mobilisierungen gegen Macron fanden bereits letzten Herbst statt, als die Liberalisierung des Arbeitsmarkts auf dem Programm stand. Hunderttausende gingen damals auf die Straße, um die Reform aufzuhalten. Doch Macron schaffte es damals, die Gewerkschaften zu spalten. Die Bürokratien der beiden großen Gewerkschaftsverbände CFDT und FO boykottierten den Protest. Erstere meinte, ein Kampf auf der Straße sei nicht nötig. Letztere unterstützte gar das Gesetz. Auch wenn sich viele Gewerkschafter*innen ihrer Führung zum Trotz an den Protesten beteiligten, wurde der Kampf dadurch enorm geschwächt. Gleichzeitig waren die Proteste geprägt von isolierten Aktions- und Streiktagen anstatt von zusammenhängenden unbefristeten Streiks. Die Bewegung konnte so nicht den nötigen Druck aufbauen, um Macron die Stirn zu bieten. Der bleibt fest entschlossen, seine Reformen gegen jedweden Widerstand durchzusetzen.

Seit Anfang April gibt es nun wieder ausgedehnte Proteste, und diesmal haben sie das Potential, Macron ernsthaft gefährlich zu werden. Anlass sind vor allem die geplante Reform des staatlichen Eisenbahnkonzerns SNCF. Dieser soll in Konkurrenz mit privaten Unternehmen treten. Deshalb sollen Eisenbahner*innen auch leichter gekündigt werden können und erst später in Rente gehen. Dazu kommt eine Bildungsreform, „Loi Vidal“ genannt. Statt des bisher gebräuchlichen Losverfahrens zur Vergabe der Studienplätze, sollen die Hochschulen nun mehr Spielraum bekommen, mit eigenen Auswahlverfahren die Plätze selbst zu vergeben. Die Studierenden sehen die Gefahr, dass so der Hochschulzugang erschwert wird und Universitäten wieder zu Räumen von Privilegierten werden.

Der gleichzeitige Angriff auf zwei der militantesten Gruppen in Frankreich, die Eisenbahner*innen und die Student*innen, bietet auch eine Chance: Den Kampf gegen Macrons Reformen gilt es nun auszuweiten. Die Studierendenbewegung gegen das „Loi Vidal“ hat mittlerweile das ganze Land erfasst. Inzwischen sind 30 bis 40 Fakultäten und Universitäten besetzt. Und trotz massiven physischen Angriffen von faschistischen Mobs und der Polizei geht der Kampf weiter. Erst vergangenen Donnerstag wurde mit der Pariser École normale supérieure eine weitere Hochschule besetzt. Inspiriert durch den revolutionären Mai 1968 haben sich die Student*innen zum Ziel gesetzt, den Kampf gemeinsam mit den Eisenbahner*innen zu führen. Gerade in den Universitäten Tolbiac und Paris Nord wird diese Solidarität geübt. Doch auch wenn die Studierendenbewegung wächst und langsam ihre Fühler in Richtung der kämpfenden Arbeiter*innen ausstreckt, so ist sie doch noch von ihren inneren Widersprüchen gehemmt. Bislang bleiben sie auf diese Weise hauptsächlich auf die Hörsäle und Universitäten beschränkt. Die Bewegung ist zerfasert und es fehlt eine gemeinsamen Vision des Kampfes.

Die Eisenbahner*innen sind seit dem dritten April im Streik. Besonders die Zugführer*innen können auf eine hohe Streikbeteiligung verweisen. Der Zugverkehr ist erheblich gestört. Bis Ende Juni soll der Streik andauern, jedoch als “Perlenstreik” an jeweils nur zwei von fünf Tagen – ein richtiger Marathonstreik also. Doch nicht nur bei den Streikenden kommen langsam Zweifel auf, ob ein derartig langgestreckter Kampf nicht seine Wirkung verfehlt und am Ende nur alle erschöpft und frustriert zurücklässt.

Nur gemeinsam zum Sieg

Der 1. und der 5. Mai standen in Frankreich im Zeichen des gemeinsamen Kampfes gegen Macron. Am internationalen Kampftag der Arbeiter*innenklasse waren landesweit über 200.000 Menschen gegen den Reformwahn Macrons auf der Straße. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Am Samstag gab es dann erneut eine Massenmobilisierung gegen Macron mit 160.000 Teilnehmer*innen. Organisiert hatte sie „La France Insoumise“, der Partei von Jean-Luc Mélenchon. Sowohl Eisenbahner*innen, Student*innen, als auch Arbeiter*innen aus dem öffentlichen Dienst, von der Air France und der Müllentsorgung, welche sich ebenfalls im Arbeitskampf befinden, demonstrierten – allerdings an einem Samstag. Der alleinige Fokus auf Demonstrationen, losgelöst von konkreten Streikaktionen, verkennt die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Macron wird unbeeindruckt bleiben, auch wenn Hunderttausende auf der Straße sind. Der Kampf gegen die Neolibaralisierung der Gesellschaft kann nur gewonnen werden, wenn all diese Sektoren der Arbeiter*innenklasse an einem Strang ziehen.

Doch bisher fehlt es an einer landesweiten und sektorenübergreifenden Koordination der Kämpfe, auch weil die Spitzen der Gewerkschaften sich dagegen sträuben. Landesweite, sektorenübergreifende Streikkomitees haben eine lange Tradition in Frankreich. Sie sind auch jetzt nötig – wenn es sein muss, auch gegen den Willen der Gewerkschaftsführungen. Nur wenn die Arbeiter*innen und die Student*innen gemeinsam und mit konzentrierter Kraft ihre Stärken ausspielen, wenn sie einen unbefristeter Streik bis zur bedingungslosen Rücknahme der Reformen ausrufen, anstatt sich in langgestreckten, vereinzelten und am Ende wirkungslosen Kämpfen zu verzetteln, wird Macron einknicken müssen.

Auf der Demo am Samstag wurde Macron oft, in Gedenken an 1789, mit dem autoritärer Herrscher Ludwig XVI. verglichen. Wir wissen alle, wie seine Geschichte ausgegangen ist.

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