Frankreich: Hunderte Gewerkschafter:innen diskutieren über Perspektiven des Kampfes

20.04.2023, Lesezeit 15 Min.
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Foto: Révolution Permanente.

Am Dienstag, den 18. April, fand das fünfte landesweite Treffen des Netzwerks für den Generalstreik statt, an dem mehr als 250 Personen aus ganz Frankreich teilnahmen. Die Bilanzen und Perspektiven des Kampfes wurden mit viel Enthusiasmus diskutiert.

„Der Generalstreik, den wir uns wünschen, wird nicht vom Himmel fallen, sondern er muss bewusst vorbereitet werden, indem man zu den Beschäftigten in verschiedenen Sektoren geht, indem man Organe der Selbstorganisation von unten aufbaut und indem man Forderungen formuliert, die über die reine Verteidigung hinausgehen“: Schon in der Einleitung von Laura, einer Eisenbahnerin in Le Bourget, werden die wichtigsten strategischen Elemente des Netzwerks für den Generalstreik benannt.

Als sich das Netzwerk für den Generalstreik am Dienstag zum fünften Mal seit Beginn der Bewegung gegen die Rentenreform traf, waren mehr als 250 Aktivist:innen, Gewerkschafter:innen, Studierende und Arbeiter:innen anwesend, sowohl bei der Präsenzveranstaltung in Paris als auch zugeschaltet aus mehreren Städten des Landes wie Bordeaux, Toulouse, Montpellier, Le Havre, Metz, Saint Avold, Mulhouse, Straßburg, Rennes, Nantes, Savoyen, Marseille und anderen Städten. Raffineriearbeiter:innen aus mehreren Raffinerien, Müllwerker:innen aus Paris, der umliegenden Region und Rennes, Energiearbeiter:innen (aus den Kraftwerken Paluel, Nogent, La Bâtie, Le Havre), Eisenbahner:innen, Beschäftigte des Pariser Nahverkehrs, von Transdev, Suez, Sidel, Safran oder PSA waren neben Beschäftigten aus dem Gesundheitswesen, dem Kulturbereich und dem Showbusiness anwesend, der Sozialarbeit, der Luft- und Raumfahrtindustrie, der Lebensmittelindustrie, des Bildungssektors, der Logistik sowie Jugendlichen und Beschäftigtem mehrerer Schulen, Aktivist:innen der Umweltorganisation „Soulèvements de la Terre“ und der Koordination Sans Papiers 75, Anwält:innen, Künstler:innen und Intellektuellen.

Ein Treffen, um erste Zwischenbilanzen des Kampfes gegen die Rentenreform zu ziehen, aber auch um zu überlegen, wie man die Mobilisierung wieder ankurbeln und das Netzwerk für die kommenden Kämpfe strukturieren kann.

Löhne, Renten: Die Bilanz eines Kampfes, der sich auf die Rücknahme der Rentenreform konzentrierte

Im Mittelpunkt der Diskussion des Netzwerks stand die Frage nach den Forderungen der Bewegung. Die Streikenden sind der Meinung, dass die Bewegung gegen die Rentenreform trotz der Ablehnung der Reform durch 93 Prozent der Erwerbsbevölkerung nicht die gesamte Arbeitswelt erfassen konnte, weil die Gewerkschaften sich geweigert haben, Lohnforderungen in den laufenden Kampf einzubeziehen. Guillaume, ein Kanalarbeiter bei der Stadt Paris, sagte: „Wir müssen mit klaren und eindeutigen Forderungen arbeiten. Mit der Rentenreform ist es wie mit dem Wald, den man vor Bäumen nicht sieht. Wir müssen die Löhne aufwerten, gegen die Prekarisierung der Gesellschaft und die Zerstörung der Sozialversicherung kämpfen. Wenn man Studierende, Arbeitslose und prekär Beschäftigte in der Privatwirtschaft nur wegen der Rentenreform zusammenbringen will, macht man sich selbst blind.“

Seit den ersten Tagen des Kampfes ist dies eine der politischen Achsen des Netzwerks: die Notwendigkeit, die Forderungen auszuweiten, um allen Arbeiter:innen die Möglichkeit zu geben, in den Kampf einzusteigen. Bei der Veranstaltung des Netzwerks am 13. März, ein Wochenende nach Beginn des verlängerbaren Streiks, betonte Frédéric Lordon auf dem Podium in diesem Sinne: „Wann ist die Intersyndicale [Koordinierung der Gewerkschaftsführungen, A.d.Ü.] in der Lage, dem Kampf gegen die Rentenreform den Kampf für die Kaufkraft hinzuzufügen? Das ist die siegreiche, transversale, vereinigende Forderung“. Eine Strategie, die in den beiden vom Netzwerk lancierten Offenen Briefen bekräftigt wurde, von denen eine Ende Januar im JDD und die andere Anfang März in Politis (auf Deutsch bei Klasse Gegen Klasse) erschienen ist.

Nach drei Monaten Kampf seit der ersten Demonstration am 19. Januar zeigen die Streiks um die Löhne weiterhin, dass einer der Schlüssel der Bewegung in diesen Forderungen lag. „In den Total-Tankstellen konnten die Kolleg:innen nur einen Tag lang für die Renten streiken, aber für die Löhne haben sie es geschafft, vier Tage lang zu streiken und 36 Autobahntanktstellen zu schließen. Deshalb müssen wir über die Löhne sprechen“, erklärt Adrien Cornet von der CGT Total Grandpuits. Dasselbe gilt für die Eisenbahner:innen von Le Bourget, die Teil des Netzwerks sind und nach vier Monaten Kampf für bessere Arbeitsbedingungen und Löhne gerade einen Sieg errungen haben, oder für die Müllwerker:innen und Arbeiter:innen der Kläranlagen der SIVOM im Departement 91, die bei dem Treffen des Netzwerks anwesend waren und sich seit drei Wochen in einem Streik für Löhne und Pensionen befinden.

Pierre, der in einem Logistikunternehmen arbeitet, in dem die Beschäftigten oft neben ihrer Arbeit auch noch für Uber fahren, um über die Runden zu kommen, stellt fest: „Die Weigerung, über die Löhne zu sprechen, hat viele Kolleg:innen davon abgehalten, sich zu mobilisieren. Den Diskurs nur auf das Rentenalter zu beschränken, hält viele Kolleg:innen davon ab, sich zu mobilisieren, denn die Leute können nicht so viel Lohn für so wenig verlieren“. Alban Azaïs, stellvertretender Sekretär der Gewerkschaft SNRT-CGT, äußert sich zum Streik der Videotechniker:innen der Ligue 1 und der Top 14 wie folgt: „Sie sind wegen Lohnfragen in den Kampf gezogen, und wenn man sich auf die Parolen zu den Renten beschränkt, sind wir verloren. Die Inflation macht den Leuten Sorgen. Sie sind bei den Löhnen mit Arbeitsniederlegungen eingestiegen, und am nächsten Wochenende wird es um Löhne und Renten gehen“.

„Die Strategie der Intersyndicale ist die Strategie der ständigen Beschwichtigung“

Neben der Frage der Forderungen werden von vielen Aktivist:innen auch die von der Intersyndicale vorgeschlagenen Aktions- und Streikmethoden in Frage gestellt. „Ich höre die Leute sagen: „Die Arbeiter:innen sind nicht mobilisiert genug“, bedauert Anasse Kazib. „Aber was soll man machen? Es gab Demonstrationen mit drei Millionen Teilnehmer:innen an den Tagen nach der Verabschiedung des 49.3, mehr als 1995 oder 2010, man sagt uns, dass es das seit 1968 nicht mehr gegeben hat, und trotzdem sagen die Leute, dass es nicht genug Streikende gab. Aber was ist in den Raffinerien, im Energiesektor, bei den Eisenbahner:innen los? Es gab all diese Streiks, dazu die branchenübergreifenden Mobilisierungstage, es gab genug zu tun, und was ist das Problem? Sind es die Menschen? Nein, es liegt daran, dass nicht die richtige Methode vorgeschlagen wurde, um gewinnen zu können“. Gegenüber denjenigen, die die Last der Niederlage auf die Schultern der Arbeiter:innen abladen wollen, die angeblich nicht genug gestreikt hätten, wird vom Netzwerk für den Generalstreik stattdessen die Strategie der Führung der Bewegung, der Intersyndicale, in Frage gestellt.

„Wir stellen die einzige Strategie in den Vordergrund, die wir für möglich und gewinnbringend halten, den verlängerbaren Streik. Das ist das Gegenteil von dem, was Laurent Berger [Vorsitzender des Gewerkschaftsdachverbands CFDT, A.d.Ü.] ständig sagt, dass er gegen die Blockade des Landes und gegen die Verlängerbarkeit ist. Er war gegen den Streik der Müllabfuhr und der Raffineriearbeiter:innen im Oktober letzten Jahres, und sein Hauptanliegen ist es, die Olympischen Spiele nicht zu verhindern, die ein ‚großes Volksfest‘ sein sollen“, fährt Adrien Cornet fort. Angesichts der Strategie der Gewerkschaftsführungen, sich auf Aktionstage mit 24-stündigen Streikaufrufen zu beschränken, die jeglichen Anstieg des Kräfteverhältnisses verhindern und den Streik durch lange Zeiträume erschöpfen, an denen keine Demonstrationen stattfinden, verteidigt das Netzwerk den Aufruf zu einem allgemeinen, verlängerbaren Streik. Natürlich muss dieser Aufruf mit der Frage der Forderungen verknüpft werden, um möglichst viele Menschen zu erfassen.

Viele Gewerkschafter:innen setzen sich dafür ein, dass die Bewegung insbesondere nach dem 1. Mai wieder an Fahrt gewinnt: „Wir dürfen nicht aufgeben, auch wenn das Gesetz verabschiedet ist. Der Kampf ist ein Marathon, er ist noch nicht vorbei. Wir müssen an der Basis Impulse geben, denn die Gewerkschaftsführungen sind dem Kampf nicht gewachsen. Sie sind eher dazu da, um zu kanalisieren und zu beteuern, und nicht wirklich, um die Basis zu vereinen“, erklärt Jenny Grandet von der CGT Safran Le Havre. „Wir müssen den 1. Mai zu einem Kampftag gegen dieses verrottete System machen: Macron hat keine Legitimation, und wir möchten, dass unsere demokratische Macht nicht nur dann zum Ausdruck kommt, wenn man einen Stimmzettel in die Urne wirft, und dass dann für den Rest der Amtszeit die gewählten Vertreter:innen tun, was sie wollen. So sollte es nicht funktionieren“.

Laura Varlet, Fahrdienstleiter der Eisenbahn in Le Bourget, bedauert dies ebenso. Für sie hat die Intersyndicale versucht, den Kampf so weit wie möglich zu entpolitisieren: „Der kleinste gemeinsame Nenner rund um die 64 Jahre hat sich mit einer Strategie der isolierten Aktionstage verbunden. Je länger es dauerte, desto härter wurde es für diejenigen, die sich im verlängerbaren Streik befanden. Noch am Abend der Anwendung des 49.3-Dekrets erklärte die Intersyndicale, dass man abwarten müsse, ohne an den Tagen der Misstrauensanträge zu Demonstrationen aufzurufen. Sie haben verhindert, dass sich eine politische Wut gegen die Regierung ausdrückt“.

Trotz dieser Feststellungen sind sich die Aktivist:innen des Netzwerks bewusst, dass es nicht möglich ist, die Intersyndicale zu umgehen, ohne gegen sie zu kämpfen: „Wenn wir es ohne sie besser machen könnten, würden wir es auch ohne sie machen“, erklärt Mathieu, ein Eisenbahner. „Die Bedeutung der Intersyndicale liegt darin, dass der Bahnhof drei Tage lang geschlossen war, als es am 7. März einen verlängerbaren Streik gab, weil die UNSA zum Streik aufgerufen hatte. Wenn es keinen Aufruf der CFDT und der UNSA gibt, streiken einige Kolleg:innen nicht, und viele Arbeiter:innen folgen diesen Aufrufen. Deshalb müssen wir diese Gewerkschaften auffordern, ihre Basis in Bewegung zu bringen“.

Gegen eine Intersyndicale, die von oben herab agiert: Organisation von Komitees für den Generalstreik an der Basis

Gegen die Politik der Intersyndicale-Gewerkschaftsführungen verteidigt das Netzwerk also die Notwendigkeit, überall in Frankreich Aktionskomitees aufzubauen. Jahan, Student in Bordeaux, berichtet vom Aufbau eines Komitees im Departement Gironde: Zusammen mit Aktivist:innen der CGT Energie organisierten sie ein „Dorf der Kämpfe“, Banner Drops, eine kostenlose Mautaktion sowie eine Lebensmittelverteilung für prekär beschäftigte Studierende. Das Ziel: den Streik der Energieversorger:innen zu unterstützen, aber auch zu versuchen, die Mobilisierung an den Universitäten auszubauen.

„Das Netzwerk hat es geschafft, eine Dynamik aufzubauen, um schnell zu Blockaden mobilisieren zu können, und wir haben gesehen, dass es kraftvoll ist. Das sieht man bei den Kolleg:innen der Müllabfuhr des SIVOM, wenn sie allein auf die Gewerkschaftsführung gewartet hätten, hätten sie schon lange verloren. Man muss an lokalen, aber auch an landesweiten Koordinationen arbeiten. Das Netzwerk spielt eine große Rolle: Mit den sozialen Medien muss man das landesweite Netz verdichten, um schnelle und wirksame Aktionen zu haben“, erklärt Guillaume. Die laufenden Streiks unterstützen, sie koordinieren, die Streikkassen füllen, damit sie durchhalten: Das ist eines der großen Ziele dieser Aktionskomitees, die im ganzen Land gegründet werden sollen.

In Le Havre, wo die rechtsextreme RN eine Kundgebung für den 1. Mai plant, organisieren sich Aktivist:innen bereits, um Marine Le Pen daran zu hindern, eine solche Kundgebung am 1. Mai abzuhalten. „Sie dürfen keinen Fuß nach Le Havre setzen“, warnt ein Beschäftigter des Stromkonzerns Enedis in Le Havre. So viele zu organisierende Aktionen, die für viele auf Initiative der Intersyndicale hätten stattfinden müssen: „Die Intersyndicale hätte genau das tun sollen, was das Netzwerk für den Generalstreik tut: koordinieren, denjenigen helfen, die im Kampf sind, auf alle Streikposten gehen. Ich wäre nicht zur Normandie-Raffinerie gegangen, um den Raffinerie-Arbeiter:innen angesichts der Zwangsverpblichtungen zu helfen, wenn es das Netzwerk nicht gegeben hätte“, bezeugt Alban.

Aber keine Opposition zwischen dem Netzwerk und den Basisgewerkschaften und anderen branchenübergreifenden Vollversammlungen: Der Aufbau des Netzwerks muss für die Teilnehmer:innen eine Ergänzung zu den bereits bestehenden Instrumenten sein. „Die Aufrechterhaltung eines Netzwerks ist für unsere Gewerkschaft sehr wichtig“, erklärt Charles Carlhant vom Atomkraftwerk Nogent. „Um sich vor Ort auszutauschen und mitzuteilen, was in den anderen Sektoren passiert, ist es eine Waffe der Motivation und eine Waffe der Vorbereitung, denn die Angriffe werden hier nicht aufhören. Der Aufbau dieses Netzwerks ist kein Gegensatz zur Gewerkschafts- oder Bundesorganisation, sondern ein ergänzendes Instrument, um sich mit anderen Sektoren auszutauschen und in all unseren Kämpfen stärker zu sein“.

Angesichts der antisozialen Angriffe, auf die Emmanuel Macron in seiner Rede erneut einhämmerte, will sich das Netzwerk dauerhaft etablieren und verankern und hat in diesem Sinne einen Ausschuss aus rund 30 Aktivist:innen aus allen Sektoren, verschiedenen Städten und Gewerkschaften eingerichtet. Für den 1. Mai planen die Aktivist:innen Netzwerks, einen großen Demonstrationszug des Netzwerks bei der Pariser Demonstration zu organisieren, und sie rufen auch dazu auf, an allen Kundgebungen zur Unterstützung der von Repression bedrohten Umweltorganisation Soulèvements de la Terre und gegen die autoritäre und reaktionäre Offensive der Regierung Darmanin-Macron teilzunehmen.

Um diesen Bilanzen Gewicht zu verleihen und für eine alternative Strategie zu derjenigen zu kämpfen, die die Intersyndicale weiterhin durchsetzt, ruft das Netzwerk alle Aktivist:innen, die mit der Strategie der Intersyndicale unzufrieden sind, dazu auf, sich ihnen anzuschließen. Diese Koordination zwischen den kämpfenden Sektoren aufzubauen, alle Verbindungen, die im Kampf entstanden sind, aufrechtzuerhalten und die landesweite Vernetzung durch Aktionskomitees auszuweiten: Das ist der Weg, den es zu beschreiten gilt.

Dieser Artikel erschien zuerst am 19. April auf Französisch bei Révolution Permanente.

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