Frankreich: Der Tanz auf dem Vulkan (Teil 1)

25.02.2017, Lesezeit 5 Min.
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Frankreich ist im Aufruhr. Nach dem Kampf gegen das Loi Travail, Korruptionsskandalen und erneuten Banlieue-Aufständen befindet sich das politische Regime vor den Präsidentschaftswahlen in einer tiefen Krise.

Die Bourgeoisie ist eine untergehende Klasse. Sie hat weder eine Zukunft noch kann sie eine fortschrittliche Rolle spielen. Dies gilt erst recht für die französische Bourgeoisie, die eine besonders „traditionsreiche“ Geschichte hat. Ihre imperialistische Herrschaftsgeschichte zeichnet sich als besonders grausam und mörderisch aus: Zahlreiche Unterwerfungen, Massaker und Kriege gegen die ehemals kolonisierten Völker stehen ihr zu Buche.

Auch heute zeichnet sich der französische Staat durch imperialistische Interventionen wie in Mali oder Syrien aus. Immer noch hat er Stützpunkte in Übersee wie auf Martinique. In Frankreich selbst befindet sich die Bourgeoisie in einem hartnäckigen permanenten Klassenkrieg gegen die Ausgebeuteten und Unterdrückten. Erstere – die Arbeiter*innenklasse – greift der bürgerliche Staat mit Entlassungen und der Beschneidung der gewerkschaftlichen Rechte an. Letztere – die Migrant*innen, Frauen und Jugendliche, die ebenfalls mit großer Mehrheit dem Proletariat zuzurechnen sind – schikaniert und mordet er mit seinen eigenen bezahlten Banden in Uniform: der Polizei.

Ein tiefer Riss

Für die Jugendlichen in den Banlieues gehört rassistische Polizeigewalt nicht erst seit dem Ausnahmezustand zum Alltag. Jederzeit und überall kann es einen wie Theo erwischen. Dass sich dagegen allerdings auch Widerstand formiert, zeigen die Proteste, die besonders in der Pariser Vorstadt Bobigny hart ausgetragen wurden. Seit der Revolte der Jugend 2005 hat es kein französischer Staatspräsident geschafft, die Lage zu beruhigen. Im Gegenteil: Alle Präsidenten von Jacques Chirac über Nicolas Sarkozy bis hin zu François Hollande weiteten die Befugnisse der Polizei aus. Hollande war dabei 2012 auch noch mit einem Programm angetreten, wo er ein Ende der andauernden Polizeigewalt versprach. Geändert hat sich nicht viel – die Unterdrückung der mehrheitlich migrantischen Jugendlichen ist vielmehr integraler Bestandteil der französischen Staatsdoktrin.

Der diesjährige Wahlkampf um das Präsidentenamt zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass viele Ex-Minister bereits das Handtuch warfen und einer nach dem anderen sich aus dem Rennen verabschiedete: Nicolas Sarkozy (ehem. Staatspräsident), Manuel Valls (ehem. Ministerpräsident), Alain Juppe (ehem. Ministerpräsident), Arnaud Montebourg (ehem. Arbeitsminister) sowie der derzeitige Staatspräsident François Hollande, der mit Blick auf seine desaströsen Umfragewerte ebenfalls auf eine weitere Kandidatur verzichtete.

Doch auch die verblieben Kandidat*innen (und Ex-Minister*innen…) kämpfen mit Korruptionsskandalen, schwachen Umfragewerten oder mit mangelnder Erfahrung. Ein besonderes Erdbeben ist dabei die Korruptionsaffäre um den konservativen Präsidentschaftskandidaten François Fillon: Im „Penelopegate“ genannten Skandal kam heraus, dass Fillon seine Frau und seine Kinder als fiktive Mitarbeiter*innen eingestellt hat, um ihnen insgesamt fast eine Million Euro zukommen zu lassen. Am Freitag übergab die französische Staatsanwaltschaft den Fall dem Untersuchungsrichter – der bisherige Höhepunkt des Korruptionsskandals.

Doch in der Verfaultheit der herrschenden Klasse ist Fillon nicht allein, auch Front National-Kandidatin Marine Le Pen weist einen Skandal um fiktive Angestellte auf: Mehrere ihrer Mitarbeiter*innen sollen 340.000 Euro von der Europäischen Union für national-politische Zwecke verwendet haben, obwohl diese Gelder für rein EU-politische Zwecke bestimmt waren. Im Zuge dessen wurde das Parteigebäude des FN von der Polizei durchsucht und zwei ihrer Mitarbeiter vorläufig zur Befragung in Gewahrsam genommen.

Eine besondere Fragilität

“Nichts ist stabil. Es ist ein großes Chaos”, sagte der Staatssekretär und Valls-Anhänger Jean-Marie Le Guen. Auch bei den Vertreter*innen der herrschenden Klasse ist schon längst zur Gewissheit geworden, dass die diesjährigen Wahlen alles andere als gewöhnlich sind. In der Geschichte der V. Republik (nach der Verfassungsreform von Charles de Gaulle 1958) ist es zum ersten Mal möglich, dass keine der beiden großen Parteien in der entscheidenden Stichwahl vertreten sein werden. Das würde das französische Parteiensystem stark erschüttern.

Diese Fragilität des bürgerlichen Parteiensystems erklärt sich zum einen durch die Unzufriedenheit der Massen mit der derzeitigen perspektivlosen Lage (es herrscht Rekordarbeitslosigkeit). Zum anderen ist sie ein internationales Phänomen, das über die französische Konjunktur hinausgeht. In mehreren Ländern drückt sich das in einer tiefen Entfremdung von den traditionellen Institutionen des politischen Regimes aus, so auch gegenüber dem antidemokratischen System der V. Republik mit seinen übertriebenen Machtbefugnissen für den Staatspräsidenten.

Keine*r der Kandidat*innen wird es schaffen, mit gewöhnlichen Mitteln der tiefen Unzufriedenheit der Ausgebeuteten und Unterdrückten Einhalt zu gebieten. Die Analyse ihrer Programme zeigt, dass weitere, verschärfte Klassenkämpfe über die Wahlen hinaus zu erwarten sind. Die Bourgeoisie wird es dabei nicht belassen, die herkömmlichen Mittel anzuwenden, um besonders dem Kampfgeist des französischen Proletariats etwas entgegen zu setzen – die Anwendung des Verfassungsartikels 49 Absatz 3 im Mai 2016 zur Durchsetzung der Arbeitsrechtsreform per Dekret war nur ein Vorgeschmack auf die Wahl ihrer Mittel für die Zukunft.

Im zweiten Teil dieses Artikels stellen wir am Montag die Kandidat*innen vor, die sich zur Wahl um das Präsidentenamt aufstellen.

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