“Erdogan bezeichnet uns als Terroristen” – Interview zu den Verhaftungen in Istanbul

27.03.2018, Lesezeit 7 Min.
1

Anlässlich der jüngsten Repression gegen Kriegsgegner*innen an der Boğaziçi-Universität in Istanbul haben wir mit Derya Koca, Vorsitzende der Gemeinschaft Marxistischer Ideen (Marksist Fikir Toplulukları, MFT) und Mitglied der Partei Sozialistischer Arbeiter*innen (SEP), über die gegenwärtige politische Situation in der Türkei gesprochen.

Kannst du uns über die Verhaftungen an der Boğaziçi-Universität aufklären?

Die Boğaziçi-Universität ist eine der wenigen Universitäten in der Türkei, wo eine linke Tradition verwurzelt ist und bis heute noch ihre Existenz bewahren konnte. Erdoğan hat seine Innenpolitik, die außenpolitisch motiviert ist, in ein kriegerisches Konzept umgewandelt. Dabei geht es ihm darum, den Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2019 zu sichern. Der Krieg in Afrin sollte sowohl zur Liqiudierung der Opposition dienen als auch die breiten Massen mobilisieren. Die historisch ungelöste kurdische Frage beantwortet er also mit einer Kriegspolitik. Als “Oberbefehlshaber” hat Erdoğan mit der Erfüllung der historischen Interessen des türkischen Staates versucht, die Unterstützung der breiten Massen zu gewinnen. Doch es ist ihm nicht gelungen, die oppositionellen Stimmen zum Schweigen zu bringen. Die Boğaziçi-Universität spielte eine führende Rolle dabei, weil diese Stimmen dort am lautesten waren. Die studentische Opposition an der Boğaziçi-Universität ist ziemlich dynamisch. Außerdem sind dort zahlreiche Friedensakademiker*innen tätig.

Nach dem “Sieg” in Afrin begannen faschistische Gruppierungen, die politisch Erdoğan folgen, an mehreren Orten große Veranstaltungen zu organisieren. Auch an der Boğaziçi-Universität haben sie Süßigkeiten verteilt. Eine Gruppe von Studierenden, die überwiegend aus Unabhängigen besteht, stellte sich mit einem Banner der faschistischen Gruppe entgegen: “An Besatzung und Massaker gibt es nichts zu feiern”. Es gab an dem Tag vor Ort keine nennenswerten Auseinandersetzungen. Doch durch die Provokation Erdogans kam diese Aktion in die breite Öffentlichkeit. Studierende, darunter auch unsere Genoss*innen wurden zur Zielscheibe. Es wurden zahlreiche Studierende verhaftet. Die Polizei hat ihre Protestkundgebung auf dem Campus, mit der sie sich an die Presse gewandt haben, gestürmt. Die Student*innen werden als “Terroristen” bezeichnet und von Erdogan mit der Exmatrikulation bedroht. Erdogan führt diesen Prozess an. Er nutzt die Gelegenheit, um einerseits die Antikriegsstimmen zum Schweigen zu bringen und andererseits innerhalb der Gesellschaft die Polarisierung und Aggression zu vertiefen. Vier Genoss*innen von uns befinden sich in Untersuchungshaft – zwei davon seit ungefähr einer Woche. Der Ausnahmezustand bildet die Rechtsgrundlage für die einwöchige Untersuchungshaft. Wir wissen noch nicht, ob sie verlängert wird.

Unsere Genoss*innen sind Sozialist*innen, die für die Einheit der Arbeiter*innen und die Geschwisterlichkeit der Völker kämpfen. Das Regime kann für die Repression keine juristische Begründung finden. Hausdurchsuchungen und Verhaftungen sollen diese Menschen zum Sündenbock machen. So versucht Erdogan die Repressionswelle gegen die Universitäten zu rechtfertigen. Doch er kommt damit nicht durch. Die sozialistische Tradition in der Türkei hat in der Vergangenheit öfters solche Angriffe erlebt. Solche Angriffe können die Sozialist*innen nicht einschüchtern.

Auf welche Resonanz stößt die Arbeit innerhalb der Jugend, während die Gegner*innen des Kriegs in Afrin zum Sündenbock erklärt werden?

Zahlreiche Bürger*innen wurden verhaftet, nur weil sie in sozialen Netzwerken zugunsten des Friedens Beiträge veröffentlicht haben. Es wird versucht, dutzende sozialistischen Aktivist*innen mit einer langanhaltenden Untersuchungshaft zum Schweigen zu bringen. Die gesamte Propagandamacht des Staates wurde in den Dienst des Kriegs der AKP gestellt. Zwar besteht keine völlige Übereinstimmung zwischen der AKP und dem Teil der Gesellschaft, der den Krieg unterstützt. Doch der AKP ist bisher gelungen, seine Basis von einer “Erfolgsgeschichte” zu überzeugen. Doch das genügt der AKP nicht. Die Antikriegsstimmen spielen dabei sicherlich eine wichtige Rolle. Trotz der brutalen Repression bereiten die Universitäten der AKP große Schwierigkeiten. Letztes Jahr haben Akademiker*innen den Entlassungen zum Trotz die Stimme des Friedens erhoben. Gegen die Repression sind die Student*innen für ihre Dozent*innen eingetreten. Die Proteste gegen die Ernennung des Rektors durch die Regierung fanden breite Unterstützung. Es beunruhigt das Regime von Erdogan sehr, dass die Sozialist*innen an den zwei größten Universitäten des Landes, der Technischen Universität des Nahen Ostens in Ankara und Boğaziçi, großes Gewicht haben.

Die Unzufriedenheit gegenüber der AKP wächst, auch wenn die AKP mit repressiven Mitteln erschwert, dass sie in der Öffentlichkeit sichtbar wird und sich bisher keine eindeutige Führung herauskristallisieren konnte. Die Jugend repräsentiert den dynamischsten Teil dieser Unzufriedenheit. Die Universitäten besitzen als “Unruheherde” wie in der Vergangenheit auch heute die Dynamik, die Gesellschaft anzuführen und in der Finsternis zu Hoffnungsträgerinnen der Arbeiter*innen zu werden.

Wie bewertest du die Friedensbewegung gegen die militaristischen Angriffe, die von Erdogan geleitet werden? Wie definierst du ihre Aufgaben?

Erdogan setzt alles daran, 2019 die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. Das bildet die Hauptmotivation seiner Manöver in der Innenpolitik. Um dieses Ziel zu erreichen, d.h. sein Regime zu konsolidieren, nutzt er selbstverständlich den Ausnahmezustand. Doch selbst dieser genügt ihm nicht, weil noch immer ein sichtbarer Teil der Gesellschaft Erdogan oppositionell gegenüber steht. Mehr noch: Es gibt einen Widerstand. Die Symbolfigur der oppositionellen Journalist*innen, Ahmet Şık, die Friedensakademiker*innen, Zuckerarbeiter*innen und Bäuer*innen, die eine Kampagne gegen Privatisierungen anführen, Metall-Arbeiter*innen und das kurdische Volk. Um diese Kräfte zu vereinen, braucht es eine Partei. Ihre Entstehung wird nur durch das Erstarken der Sozialist*innen möglich sein. In einem Land wie der Türkei, wo die Herrschaft mit Spaltungen durchgesetzt wird, ist die Einheit der Arbeiter*innen und die Überwindung dieser ethnischen und konfessionellen Spaltungen der einzige Weg, um dem autoritären Regime der AKP ein Ende zu setzen. Dieselbe Regierung versucht, mit einer nationalistischen Erregung und der Kriegsatmosphäre die aufflamenden Protesten zu ersticken. Bevor der Krieg in Afrin begann, hat sich ein der AKP nahestehender Mensch vor dem türkischen Parlament selbst verbrannt, weil er unter Arbeitslosigkeit gelitten hat. Es stellte sich heraus, dass der Unternehmer, der den Arbeiter zum Hungern gezwungen hatte, auch der AKP nahe steht.

Der Krieg in Afrin konnte gleich mehrere Ziele erfüllen: Erstens die Opposition zurückdrängen, die selbst der Ausnahmezustand nicht zum Schweigen bringen konnte. Zweitens die Unterstützung für die AKP aus der nationalistischen Basis der CHP und der MHP sichern. Drittens mit der Kriegsatmosphäre die autoritäre Regierung verstärken. Viertens Rojava zerstören, das der Bezugspunkt der kurdischen Bewegung ist. All diese Dynamiken dienen der AKP.

Das Schicksal der Anti-Kriegsbewegung hängt davon ab, inwieweit das Erdogan-Regime zurückgedrängt werden kann. Die Zurückdrängung des Regimes hängt wiederum davon ab, die Verarmten innerhalb der AKP-Basis mit einer klassenkämpferischen Rhetorik zu gewinnen. Nicht nur der Krieg, auch die dringenden Probleme wie der Abbau des autoritären Regimes, das Leben der Frauen, die Abschaffung der Unterdrückung der Presse, die Aufhebung der Notdekrete sind daran gebunden, ob die AKP zurückgedrängt werden kann. Die Erhebung der Stimme der Lohnabhängigen wird bestimmen, welche Freiheiten wir in naher Zukunft erkämpfen können. Diese Aufgabe kann nur von Sozialist*innen bewältigt werden. Der Klassenkampf muss voranschreiten, um den Gegensatz der Identitäten zu überwinden. Die Aufgabe der Linken muss es sein, eine energische und klassenkämpferische Aktionsfront zu bilden und heute damit zu beginnen, auf den Straßen diese Kraft zu organisieren. Das ist die Kraft, um der Kriegspolitik ein Ende zu setzen. Die Geschwisterlichkeit der Völker kann nur zustande kommen, wenn sie in der Klasse beginnt und sich daran orientiert, die Macht der Herrschenden zu konfrontieren.

Mehr zum Thema