Engels als Stratege des Sozialismus

30.11.2020, Lesezeit 20 Min.
Übersetzung:
1
Marito Ce

Engels war ein herausragender Stratege, sowohl des Kriegs, als auch des revolutionären Aufstands. Auch heute bleiben seine Analysen aktuell.

Engels war ein Vordenker in vielen verschiedenen Bereichen. Dazu zählt auch sein wichtiges Werk über militärische Fragen. In einem vor ein paar Jahren erschienenen Buch, das sich seinem Werk widmet, nannte ihn U.S. Army Major Michael Boden „den ersten roten Clausewitz“.1 Gründe dafür fehlten ihm nicht, obwohl die Meinungen darüber auseinander gehen, wer mehr Einfluss auf Engels hatte, ob Carl von Clausewitz oder Napoleons General Antoine-Henri Jomini. Tatsache ist, dass der Mitverfasser des Kommunistischen Manifests die Grundlage für ein Verständnis des Phänomens Krieg aus der Sicht des historischen Materialismus gelegt hat. Eine Forschung, die von Franz Mehring fortgesetzt wurde, der in seinem umfangreichen militärischen Werk die Beiträge Engels‘ mit denen von Clausewitz und einem seiner Anhänger, Hans Delbrück, zu verbinden suchte. Lenin und Trotzki griffen diese Überlegungen wieder auf und wandten sie auf das Feld der revolutionären Strategie im 20. Jahrhundert an. Daneben gibt es verschiedene weitere Studien über Engels‘ militärisches Werk, unter anderem von Martin Berger2, Walter B. Gallie3, Gilbert Achcar4, Sigmund Neumann und Mark von Hagen5, neben Boden und anderen.

Engels‘ Interesse an diesen Fragen war nicht rein intellektuell, sondern vollständig mit der praktischen Frage der Eroberung der Macht durch die Arbeiter:innenklasse verbunden. Die Kombination aus der Analyse des Phänomens Krieg und der Anwendung der Militärtheorie zur Lösung der strategischen, taktischen und sogar technischen Probleme der Revolution war für ihn charakteristisch. Mit einer kurzen militärischen Erfahrung in der preußischen Artillerie, die er im Alter von 21 Jahren durchlaufen hatte, beteiligte er sich 1849 an den Kämpfen während des revolutionären Prozesses in Deutschland, wo er in den Reihen der badischen und pfälzischen Aufstandsarmee kämpfte. Von da an ließ ihn die Reflexion über militärische Probleme nie mehr los. Wilhelm Liebknecht sagte über ihn: „Hätte es in seinem Leben eine weitere Revolution gegeben, hätten wir in Engels unseren Carnot6 gehabt, den Organisator von Armeen und Siegen, das militärische Genie.“7 Im Jahr 1857, als sich erneut tumulthafte Momente aufzutun schienen, war Engels von der Möglichkeit begeistert, wieder auf das Schlachtfeld zurückzukehren, aber es kam nicht dazu.

Einen großen Teil seines Lebens analysierte er die wichtigsten Konflikte seiner Zeit, die Zusammenstöße der Revolutionen von 1848-49 in Frankreich und Deutschland, den Krimkrieg (1853-56), Englands Kolonialkriege, Garibaldis Feldzug in Süditalien und Sizilien. Er gehörte zu den ersten, die auf die historische Bedeutung des US-amerikanischen Bürgerkriegs (1861-1865) für die Zukunft der Kriegskunst hinwiesen, sowie auf den Wendepunkt, den der Deutsch-Französische Krieg (1870-1871) für den europäischen Militarismus darstellte. Die hohe Qualität seiner Werke führte dazu, dass die von ihm anonym publizierten Werke wichtigen Militärs seiner Zeit zugeschrieben wurden, wie zum Beispiel Engels‘ Pamphlet Po und Rhein (1859) dem preußischen General von Pfuel. Im Anti-Dühring fasste er eine ganze Reihe theoretischer Elemente über die Beziehung zwischen der Entwicklung der Technologie und ihrer Anwendung in der Kriegsführung, ihre Beziehung zu Veränderungen der Kampftaktiken und -strategien, den Platz der Politik und moralische Faktoren zusammen. Michael Boden weist zu Recht darauf hin, dass er „die gleichen Elemente in die sozialistische Diskussion einbrachte, die sein berühmtester Nachfolger, Hans Delbrück, in den Jahrzehnten nach Engels‘ Tod seinem eigenen Publikum nahe brachte.“8

Auf dieser Grundlage gelang es Engels in den zwölf Jahren, die er Marx überlebte, einige Konturen – andere offensichtlich nicht – der neuen Phase des Kapitalismus und des kommenden Klassenkampfes zu erahnen. Dank der Tiefe seines strategischen Denkens erahnte er unter anderem die Wahrscheinlichkeit eines Weltkriegs apokalyptischer Ausmaße, die Notwendigkeit, eine revolutionäre Partei neuer Art aufzubauen, sowie den viel massiveren Charakter, den Revolutionen im 20. Jahrhundert haben würden, neben anderen Fragen.

Zerstörerische Kräfte und Weltkrieg

Im Jahr 1896, ein Jahr nach Engels‘ Tod, nahm die sogenannte Revisionismus-Debatte Gestalt an. Eduard Bernstein war der Ansicht, dass Marx und Engels die Krisentendenzen des Kapitalismus und die Bedeutung des Klassenkampfes übertrieben hätten. Er sah ein zunehmend harmonisches Wachstum der Produktivkräfte, das eine sozialistische Zukunft ohne die Notwendigkeit einer Revolution ermöglichte. Die großen Umwälzungen, die Krisen, die Kriege und die Revolutionen schienen allmählich der Vergangenheit anzugehören, als Dinge des 19. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu dieser optimistischen Vision über die Entwicklung der Produktivkräfte als Impuls für die Befreiung der Menschheit verbrachte Engels seine letzten Jahre damit, zu analysieren, wie der Kapitalismus die Fortschritte von Technik und Wissenschaft in einem nie dagewesenen Ausmaß in neue zerstörerische Kräfte umsetzte.

Seit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870-71 beobachtete er einen qualitativen Sprung in der Entwicklung der Vernichtungsinstrumente der europäischen Mächte. Das geschulte Auge des „Generals“, wie er von Freund:innen und Verwandten genannt wurde, führte ihn zu einer der erstaunlichsten Vorhersagen über die Zukunft des Krieges. 1887 sagte er in der Einleitung zu einem Buch von Zygmunt Borkheim: „Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen […]. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, daß die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehn, wie das alles enden […] wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse.“9

1
@marcoprile
@marcoprile

So hatte Engels 27 Jahre im Voraus den globalen Charakter eines künftigen deutschen Krieges und die massiven Verwüstungen „bisher nie geahnter Ausdehnung“, die der Erste Weltkrieg mit sich bringen würde, vorhergesehen. Selbst die Details der Beschreibung sind auffällig. Die Zahl der getöteten Soldaten – fast identisch mit den offiziellen Zahlen – und die Dauer des Krieges. Auch die militärischen Folgen, die zu einer „allgemeinen Erschöpfung“ führen werden, und die politischen Folgen, bei denen Kronen über das Straßenpflaster rollen, wie es bei Kaiser Wilhelm II. von Deutschland oder Zar Nikolaus II. von Russland der Fall war. Und schließlich – das ist fundamental – die Behauptung, dass diese Situation die Bedingungen für einen schließlichen Sieg der Arbeiter:innenklasse schaffen würde. Bedingungen, die in den vielfältigen revolutionären Prozessen zum Ausdruck kamen, nicht nur in Russland, sondern auch in Deutschland, Ungarn, Finnland oder später im italienischen Biennio Rosso.

In aufeinanderfolgenden Briefen während dieser Jahre lieferte er weitere Präzisionen. Zum Beispiel schrieb er in seinem Brief an Adolph Sorge vom 7. Januar 1888: „rasch ist nichts zu erledigen, trotz der kolossalen Streitkräfte. Denn Frankreich ist durch sehr ausgedehnte Befestigungen an der Grenze im Nordwesten und im Südosten geschützt, und die Neuanlagen von Paris sind musterhaft. Das dauert also lange, und ebenso ist Rußland nicht im Sturm unterzukriegen. Selbst wenn also alles nach Bismarcks Wunsch geht, werden Ansprüche an die Nation gestellt wie nie vorher, und möglich genug ist, daß Verschleppung des entscheidenden Siegs und partielle Schlappen einen Umschwung im Innern hervorrufen.“10 Auf diese Weise nahm er die Pattsituation vorweg, die durch den Vormarsch der deutschen Truppen in Frankreich Ende 1914 und den Zweifrontenkrieg, der auch mit Russland geführt wurde, verursacht wurde, sowie die Folgen, die dies innerhalb Deutschlands haben würde.

Für Engels bestand die einzige Möglichkeit, diesen Krieg zu stoppen, darin, die Arbeiter:innenklasse mit einer Organisation, einem Programm und einer Strategie auszustatten, die die Menschheit vor der Barbarei des kapitalistischen Militarismus retten konnte. Dafür wandte er in den letzten Jahren seines Lebens einen Großteil seiner Energie auf. Gemeinsam mit Marx hatte er – natürlich nicht immer erfolgreich – viele grundlegende politische Kämpfe ausgefochten, die zur Gründung der damaligen Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands führten. Engels führe diese Arbeit im folgenden Jahrzehnt allein weiter, während die Partei durch die Verfolgung unter den antisozialistischen Gesetzen Bismarcks in den Untergrund gehen musste. In diesen Jahren dehnte sich die Partei über die Zeitung Der Sozialdemokrat, die in der Schweiz von Kautsky unter Mitwirkung von Engels herausgegeben und nach Deutschland geschmuggelt wurde, aus. Ein Modell, das Lenin Jahre später in Was tun? wieder aufgriff11. Im Jahr 1889 würde er auch die Bildung der Zweiten Internationale fördern.

Weit entfernt vom Optimismus über das evolutionäre Voranschreiten sozialer und demokratischer Rechte, der die Sozialdemokratie Jahr für Jahr immer stärker durchdrang, schätzte Engels diese Fortschritte als vorläufig ein. So schrieb er wenige Monate, nachdem die Sozialdemokratische Partei Deutschlands 1890 mit 1,4 Millionen Stimmen (19,75%) ihren ersten großen Sprung bei den Wahlen gemacht hatte, aus London an Hermann Schlüter: „Hier geht alles soweit gut, in Deutschland auch, Wilhelmchen [der Kaiser Wilhelm II.] droht mit Abschaffung des allgemeinen Stimmrechts – was Beßres könnte uns nicht passieren! Wir treiben ohnehin rasch genug entweder dem Weltkrieg oder der Weltrevolution entgegen – oder beidem.“12 Mit derselben Logik kritisierte er das von der Sozialdemokratie verabschiedete Erfurter Programm (1891) wegen des Fehlens einer klaren revolutionären Strategie – ein Problem, dem ausgewichen wurde, was sich Jahre später als sehr wichtig erweisen sollte.

Kapitalistischer Militarismus und revolutionäre Strategie

Was würde laut Engels geschehen, wenn die Arbeiter:innenklasse nicht in der Lage wäre, den Krieg zu stoppen? Er war überzeugt, dass der Krieg eine Revolution bringen würde, und äußerte sogar seine Erwartungen, dass dies in Russland geschehen würde. Er war sich jedoch bewusst, dass der Krieg in seinem Anfangsstadium harte Konsequenzen für sozialistische Organisationen haben würde. Dies drückte er in aufeinanderfolgenden Briefen aus, wie zum Beispiel im September 1886 an Bebel, wo er darauf hinwies: „Ein Umschwung in Deutschland nach einer Niederlage würde nur helfen, wenn er zum Frieden mit Frankreich führte. Am günstigsten wäre eine russische Revolution, die aber nur nach sehr schweren Niederlagen der russischen Armee zu erwarten [ist]. Soviel ist sicher, der Krieg würde unsre Bewegung zunächst in ganz Europa zurückdrängen, in vielen Ländern total sprengen, den Chauvinismus und Nationalhaß schüren und uns sicher unter den vielen unsichern Möglichkeiten nur das bieten, daß nach dem Krieg wir wieder von vorn anzufangen hätten, aber auf einem unendlich günstigeren Boden als selbst heute.“13

Mit anderen Worten sah Engels, weit entfernt von jeder evolutionären Vision der Partei, die harten Folgen, die der Krieg mit dem Aufstieg von Chauvinismus und Fremdenfeindlichkeit für die Sozialist:innen haben würde, aber er glaubte, dass die Partei „auf einem unendlich günstigeren Boden“ wieder aufsteigen würde. In diesem Sinne wies er im erwähnten Vorwort von 1887 auf die Herausforderung hin, dass der Krieg „uns vielleicht momentan in den Hintergrund drängen, uns manche schon eroberte Position entreißen [mag]. […] [Doch] am Schluß der Tragödie sind Sie ruiniert und ist der Sieg des Proletariats entweder schon errungen oder doch unvermeidlich.“14 Diese Erklärung nahm den Scheideweg vorweg, an dem sich die deutsche Sozialdemokratie angesichts des Ausbruchs eines Weltkriegs befinden würde. Die von Engels vorgeschlagene Lösung war genau das Gegenteil von der, die 1914 von den sozialdemokratischen Anführer:innen gewählt wurde: Um zu verhindern, dass der Staat die „schon eroberten Positionen“ wegnimmt, unterstützten sie Kriegskredite und wurden zu Garant:innen des „inneren Friedens“, vermieden Kämpfe des Proletariats – wozu auch die Sicherstellung der Befolgung des Streikverbots gehörte – und wurden zu Kompliz:innen in der Verfolgung des linken Parteiflügels.

Engels‘ Ansatz stand aber auch im Gegensatz zu derjenigen Interpretation seines Werkes, die Karl Kautsky schließlich 1910 unter dem Namen „Ermattungsstrategie“ „theoretisierte“, nach welcher der Schlüssel in einer stetigen Anhäufung von Kräften lag, während die revolutionäre Perspektive auf eine unbestimmte Zeit verschoben wurde. Laut Kautsky hatte Engels eine neue Strategie vorweggenommen, deren Hauptziel die evolutive Eroberung von Positionen (Gewerkschaft, Parlament usw.) innerhalb des Regimes war. Für diesen Ansatz wurde traditionell auf Engels‘ Einführung von 1895 zu Marx‘ Buch „Klassenkämpfe in Frankreich“ zurückgegriffen. Um der staatlichen Zensur zu entgehen, war Engels‘ Einleitung von Wilhelm Liebknecht beschnitten worden, wobei der Teil, der sich auf die revolutionäre Strategie zur Machtergreifung bezog, gestrichen wurde. Von Engels‘ Äußerungen über den physischen Kampf in der Revolution blieb nur die Idee übrig, dass „die Rebellion alten Stils, der Straßenkampf mit Barrikaden, der bis 1848 überall die letzte Entscheidung gab, […] bedeutend veraltet“15 war.

In dem Teil, der ausgelassen wurde, fuhr Engels jedoch fort: „Heißt das, daß in Zukunft der Straßenkampf keine Rolle mehr spielen wird? Durchaus nicht. Es heißt nur, daß die Bedingungen seit 1848 weit ungünstiger für die Zivilkämpfer, weit günstiger für das Militär geworden sind. […] [Der Kampf wird deshalb] mit größeren Kräften unternommen werden müssen. Diese aber werden dann wohl, wie in der ganzen großen französischen Revolution, am 4. September und 31. Oktober 1870 in Paris16 den offenen Angriff der passiven Barrikadentaktik vorziehen.“17 Mit anderen Worten, die von ihm vorgeschlagene Herangehensweise war praktisch das Gegenteil der des gekürzten Textes. Kein Wunder, dass Engels sich bei der Redaktion beschwerte, der Text sei „derartig zurechtgestutzt [worden], daß ich als friedfertiger Anbeter der Gesetzlichkeit“18 dastehe. Einige Monate später stirbt Engels, die Angelegenheit bleibt ungelöst, und dieser gekürzte Text wird als sein Testament angesehen. Engels‘ Beschwerdebrief wurden unter Verschluss gehalten, und erst 1930 wurde die vollständige Einleitung veröffentlicht.

Die Kritik am Barrikadenfetisch war in Engels‘ Werk nicht neu und wurde von Marx geteilt. Sie lässt sich bis zu seinen Artikeln in der Neuen Rheinischen Zeitung von 1848 über den Arbeiter:innenaufstand im Juni desselben Jahres in Frankreich zurückverfolgen. Die Barrikaden waren immer noch eines der technischen Elemente des Aufstands – und spielten eine wichtige Rolle bei der Untergrabung der Moral der Truppen -, aber sie waren keine Strategie. So entwickelte Engels in seinen Artikeln für die New Yorker Tageszeitung The New York Daily Tribunal – später zusammengestellt als Revolution und Konterrevolution in Deutschland19 – das Konzept des Aufstands als eine Kunst, welche die Vorbereitung und die Kombination sowohl des „Überraschungs“-Elements der „Verschwörung“ als auch des „Massen“-Elements der Revolution als gewaltsame Einmischung der Massen in die Regelung ihres eigenen Schicksals beinhaltet, damit der Aufstand siegreich sein kann20. Ein Konzept, das von Lenin, Trotzki und der frühen Dritten Internationale als ein Schlüsselelement der revolutionären Strategie wieder aufgegriffen wurde.

Obwohl Engels‘ Position in der Einleitung von 1895 darin bestand, auf die Vorzüge der Nutzung des allgemeinen Wahlrechts und des Parlaments als Beitrag zur Sammlung der Kräfte hinzuweisen, damit der außerparlamentarische Kampf „größere Kräfte“ für den „offenen Angriff“ habe, wurde versucht, aus seiner gekürzten Version die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die Eroberung von Positionen innerhalb des Regimes (Parlament, Gewerkschaften usw.) ein Ziel sei, das an sich schon zum Voranschreiten der Positionen des Sozialismus außerhalb des Klassenkampfes führe. Der Erste Weltkrieg zeigte, dass diese Illusionen keine Grundlage hatten und stattdessen Engels‘ Perspektive eines Wiederaufstiegs der Sozialist:innen auf einer viel günstigeren Grundlage an der Tagesordnung war und sich tatsächlich in Russland und Deutschland konkretisierte, obwohl in Deutschland der linke Flügel der Sozialdemokratie dies nicht rechtzeitig in der Revolution von 1918-19 ausnutzen konnte.

Das Vermächtnis von Engels

Auf diese Weise sah Engels in seinen letzten Lebensjahren, wie eine Epoche zu Ende ging und eine neue begann, die Lenin als eine Epoche der Krisen, Kriege und Revolutionen bezeichnete. Natürlich bedeuten seine beeindruckenden Vorhersagen über den Ersten Weltkrieg nicht, dass er sich bei anderen nicht geirrt hat. Wie Trotzki sagte, können „nur sehr naive Menschen […] meinen, dass die Größe eines Marx, Engels oder Lenin in der automatischen Fehlerlosigkeit aller ihrer Urteile besteht. Nein, auch sie irrten. Aber bei ihrer Beurteilung der größten und verwickeltsten Fragen pflegen sie weniger Fehler zu machen als alle anderen.“21 Zudem würde sich schon bald nach seinem Tod vieles ändern: Er erlebte weder den Aufstieg der Gewerkschaftsbewegung noch die anschließende Entwicklung der Bürokratie in den Gewerkschaften und in der deutschen Sozialdemokratie. Er erlebte auch nicht den Sprung in der Aktivität der Arbeiter:innenbewegung mit ihren eigenen Methoden (Massenstreiks) in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts und auch nicht die qualitative Zunahme der strategischen Positionen der Arbeiter:innenklasse, die zwischen einem Jahrhundert und dem nächsten stattfand. Auch gelang es ihm nicht, seine Hypothesen über die Entwicklung von Massenarmeen mit ihrer späteren Entwicklung zu kontrastieren.

Sein Blick nahm jedoch einige der großen Dramen des 20. Jahrhunderts vorweg. Bernsteins Illusionen in die friedliche Entwicklung eines gezähmten Kapitalismus wie auch Kautskys Illusionen in die fortschreitende Akkumulation von Positionen und Rechten innerhalb des bürgerlichen Regimes erwiesen sich als ohne jegliche Grundlage und hatten katastrophale Folgen. Trotzdem sind sie heute, ein Jahrhundert später, mehr in Mode, als man erwarten würde. Kautsky wurde von einem bedeutenden Teil der US-amerikanischen Linken rund um die DSA (Democratic Socialists of America) und die Zeitschrift Jacobin explizit wieder aufgewertet, indem ihre Hauptfigur, Baskar Sunkara, eine Rückkehr zu einer „Sozialdemokratie vor 1914“ vorschlägt. Im Falle Bernsteins lassen sich über die Anleihen hinaus, die wichtige Referenzen des Neo-Reformismus wie Ernesto Laclau bei ihm nahmen, seine Idee eines friedlichen Kapitalismus und seine teleologische Vision von der Entwicklung der Produktivkräfte weitgehend bei den Theoretiker:innen des „Postkapitalismus“ in ihren verschiedenen Versionen – einige mehr, andere weniger optimistisch – wiederfinden.

Angesichts dieser „Revivals“ hat uns Engels‘ Vermächtnis noch viel darüber zu sagen, wie wir verhindern können, dass das neue Jahrhundert zur Bühne von Krieg und kapitalistischer Barbarei wird.

Dieser Artikel erschien zuerst am 29. November 2020 auf Spanisch bei Ideas de Izquierda.

Fußnoten

1 Boden, Michael, “First Red Clausewitz”: Friedrich Engels and Early Socialist Military Theory, Auckland, Pickle Partners Publishing, 2014.
2 Berger, Martin, Engels, Armies, and Revolution: The Revolutionary Tactics of Classical Marxism, Hamden, Archon Press, 1977.
3 Gallie, Walter B., Philosophers of Peace and War: Kant, Clausewitz, Marx, Engels and Tolstoy, Cambridge, Cambridge University Press, 1978.
4 Achcar, Gilbert, Engels: theorist of war, theorist of revolution, 2002.
5 Neumann, Sigmund, und von Hagen, Mark, “Engels and Marx on Revolution, War, and the Army in Society,” In: Paret, Peter (Hrsg.), Makers of Modern Strategy: From Machiavelli to the Nuclear Age, Princeton, Princeton University Press, 1986.
6 Lazare Carnot (1753-1823) war während der Französischen Revolution Mitglied des Ausschusses für Volksgesundheit und gründete die 14 Armeen der Republik. Er war bekannt als der „Organisator des Sieges“.
7 Liebknecht, Wilhelm, 1897, zit. nach Achcar, Gilbert, a.a.O..
8 Michael Boden, a.a.O.
9 Friedrich Engels, Einleitung zu Sigismund Borkheims Broschüre „Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten. 1806-1807“, 1887.
10 Friedrich Engels, Brief an Adolph Sorge, 7. Januar 1888. In: MEW Bd. 37.
11 Vgl. Albamonte, Emilio, und Maiello, Matías, Estrategia socialista y arte militar, Buenos Aires, IPS-CEIP, 2017.
12 Friedrich Engels, Brief an Hermann Schlüter, 14. Juni 1890. In: MEW Bd. 37.
13 Friedrich Engels, Brief an August Bebel, 13./14. September 1886. In: MEW Bd. 36.
14 Friedrich Engels, Einleitung zu Sigismund Borkheims Broschüre „Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten. 1806-1807“, 1887.
15 Friedrich Engels, Einleitung zu Karl Marx‘ „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“, 1895.
16 Am 4. September 1870 wurde in Frankreich durch die revolutionäre Aktion der Volksmassen die Regierung von Louis Bonaparte gestürzt und die Republik ausgerufen. Am 31. Oktober 1870 unternahmen die Blanquisten einen Aufstandsversuch gegen die Regierung der nationalen Verteidigung.
17 Friedrich Engels, Einleitung zu Karl Marx‘ „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“, 1895. Eigene Hervorhebung.
18 Friedrich Engels, Brief an Karl Kautsky, 1. April 1895. In: MEW Bd. 39.
19 Friedrich Engels, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, 1852.
20 Engels schrieb: „Nun ist der Aufstand eine Kunst, genau wie der Krieg oder irgendeine andere Kunst, und gewissen Regeln unterworfen […]. Diese Regeln […] sind so klar und einfach, daß die kurze Erfahrung von 1848 die Deutschen ziemlich bekannt mit ihnen gemacht hat. Erstens darf man nie mit dem Aufstand spielen, wenn man nicht fest entschlossen ist, alle Konsequenzen des Spiels auf sich zu nehmen. Der Aufstand ist eine Rechnung mit höchst unbestimmten Größen, deren Werte sich jeden Tag ändern können; die Kräfte des Gegners haben alle Vorteile der Organisation, der Disziplin und der hergebrachten Autorität auf ihrer Seite; kann man ihnen nicht mit starker Überlegenheit entgegentreten, so ist man geschlagen und vernichtet. Zweitens, hat man einmal den Weg des Aufstands beschritten, so handele man mit der größten Entschlossenheit und ergreife die Offensive. Die Defensive ist der Tod jedes bewaffneten Aufstands; […] um mit den Worten Dantons, des größten bisher bekannten Meisters revolutionärer Taktik zu sprechen: de l’audace, de l’audace, encore de l’audace! <Kühnheit, Kühnheit, und abermals Kühnheit!>“. Friedrich Engels, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, 1852.
21 Leo Trotzki, Engels‘ Kriegsaufsätze, 1924.

Mehr zum Thema