Eine verschwundene trotzkistische Gruppe

18.04.2013, Lesezeit 4 Min.
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// Nachtrag zum Artikel „Hinter der Bühne der Revolte“ //

Zum Schluss muss noch auf ein Kuriosum in der trotzkistischen Geschichtsschreibung hingewiesen werden. Die französischen TrotzkistInnen waren auch deshalb im Rahmen der 68er-Bewegung sichtbar, weil sie in mindestens drei Gruppen aufgeteilt waren, von denen nur eine eine längerfristige entristische Praxis gehabt hatte.(1) Dies geschah im Rahmen einer Spaltung der internationalen trotzkistischen Bewegung im Jahr 1953 zwischen dem “Internationalen Sekretariat” (IS), das einen “tiefen Entrismus” befürwortete, und dem “Internationalen Komitee” (IK), das diese Taktik kritischer sah. Diese Spaltung soll jedoch, zumindest laut verschiedensten Darstellungen, in Deutschland keine Auswirkungen gehabt haben, da die deutsche Sektion vollständig auf der Seite des IS blieb.(2)

Doch in der Autobiographie von Oskar Hippe schreibt dieser, dass er sich nach seiner Entlassung aus der Haft in der DDR im Jahr 1955 dem IK anschloss, auch wenn er nicht viel über seine konkrete Arbeit in der Zeit schrieb, außer dass er in der SPD aktiv war.(3) Aus den Archiven der Stasi wissen wir, dass Otto Freitag, ein Agent des DDR-Geheimdienstes, der als Spitzel bei den TrotzkistInnen tätig war, eine führende Rolle bei einer Spaltung der Sektion im Jahr 1954 hatte, und dass er – zusammen mit Hippe – neben Gerry Healy und Pierre Lambert Mitglied des Internationalen Komitees gewesen ist. Während Freitag an der Ermordung des deutsch-tschechischen Trotzkisten Wolfgang Salus durch den sowjetischen Geheimdienst KGB beteiligt war, veranstaltete er auch Sitzungen des IKs in seiner Münchner Wohnung, von denen Protokolle und Berichte direkt an die stalinistischen Geheimdienste geschickt wurden.(4)

Zweifelsohne gab es eine mit der IK verbundene Gruppe in Deutschland, auch wenn selbst der Name dieser Gruppe im Dunkeln bleibt. Die Spaltung von 1954 wird allen Beteiligten in Erinnerung geblieben sein, weshalb es einen seltsamen Eindruck macht, dass ihre Existenz etwa von Jungclas oder Boepple geleugnet wird. Auch in der sehr ausführlichen Selbstdarstellung der “Partei für Soziale Gleichheit” (PSG),(5) die sich sonst sehr stolz auf ihre Tradition des “Internationalen Komitees” beruft, wird diese Episode verschwiegen.

Die PSG und ihr “Internationales Komitee der Vierten Internationale” halten bis heute an der These fest, dass führende Mitglieder des konkurrierenden „Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale“, zum Beispiel Joseph Hansen, AgentInnen von CIA und KGB waren – obwohl andere ihre Beweise für äußerst dürftig halten. Während die PSG ganze Bücher über die angebliche Spionagetätigkeit von Hansen verbreiten, haben sie zu diesem Fall aus ihrer eigenen Tradition – der einzige zweifelsfrei nachgewiesene Fall eines Spitzels in der Führung einer trotzkistischen Strömung in dieser Zeit – scheinbar nichts zu sagen.

Da sie durch ihre Archive die besten Möglichkeiten haben, Informationen über diese Zeit zu liefern, laden wir die GenossInnen der PSG dazu ein, über diese Frage Klarheit zu schaffen. Sonst könnte der Eindruck entstehen, dass ihre Spitzelvorwürfe nicht der historischen Wahrheit und dem Schutz der trotzkistischen Bewegung gegen staatliche Repression, sondern in Wirklichkeit ganz anderen Zwecken dienen.

Fußnoten

(1) Die PCI um Pierre Lambert und die Gruppe “Voix Ouvrière” arbeiteten offen. Selbst die entristische Gruppe um Pierre Frank, die auch PCI hieß, begann ab 1966 mit der Gründung der JCR, offen nach außen zu treten.

(2) Jungclas nennt die Spaltung von 1969 “die erste Spaltung der Sektion seit ihrem Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg.” Jungclas. Geschichte. S. 26. Auch Alles spricht von der “erste[n] Spaltung ihrer Nachkriegsgeschichte”. Alles: Strom: S. 237.

(3) Hippe: Fahne. S. 241-242. Auf S. 243 erklärt er, dass er in der SPD und im “Marxistischer Arbeitskreis” (MAK) arbeitete, aber Details dazu nennt er nicht. Es ist aber deswegen falsch, wenn Gellrich Hippe als “parteipolitisch ungebundener Sozialist” beschreibt. Gellrich: GIM. S. 19.

(4) Hermann Bubke: Der Einsatz des Stasi- und KGB-Spions Otto Freitag im München der Nachkriegszeit. Hamburg 2004. (= Schriftenreihe Studien zur Zeitgeschichte 38). S. 72-84. Hippe wird auf S. 83 erwähnt. Reiner Tosstorff: „The Historiography of German Trotskyism“. In: Revolutionary History. Volume 9, No. 4. London 2007. http://www.marxists.org/history/etol/revhist/backiss/vol9/no4/workinprogress.html

(5) Partei für Soziale Gleichheit: Historische Grundlagen der Partei für Soziale Gleichheit. Essen 2011. http://www.wsws.org/de/download/pdf/hd11-j14.pdf. S. 33.

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