Eine kurze Geschichte des jüdischen Anti-Zionismus

27.10.2023, Lesezeit 10 Min.
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"Wo wir leben, da ist unsere Heimat!" Ausschnitt eines Wahlplakats des "Bundes" um 1917.

Wenn es um den Krieg gegen Gaza geht, wird oft behauptet, dass es sich um einen ewigen Konflikt zwischen israelischen Jüd:innen und Palästinenser:innen handle. Dennoch gibt es eine lange Geschichte jüdischer Sozialist:innen, die gegen den Zionismus kämpfen, was Lehren für den heutigen Kampf bietet.

In den letzten Wochen wurden über 1000 Israelis und mehr als dreimal so viele Palästinenser:innen getötet. Wo liegt der Ursprung der Gewalt? Der Konflikt wird häufig als uralter Kampf zwischen Religionen dargestellt. Der israelische Premierminister Netanyahu sprach von „Kampf zwischen den Kindern des Lichtes und den Kindern der Dunkelheit“, die Hamas sieht den Konflikt als Konflikt zwischen Muslimen und Jüd:innen.

Tatsächlich haben Christ:innen, Muslime und Jüd:innen in Palästina, aber mehrere Jahrhunderte lang relativ friedlich zusammengelebt. Erst mit dem Aufkommen des Imperialismus, insbesondere seit der zionistischen Kolonisierung im späten 19. Jahrhundert begann der „ewige“ Konflikt.

Oft wird gesagt, dass alle Jüd:innen Zionist:innen seien, und das Jede:r die:der sich gegen Israel stellt, Antisemit:in sei. Das ist eine Lüge. In der Diaspora und in Israel hat es seit jeher Anti-Zionist:innen gegeben, die gemeinsam mit den Palästinenser:innen für ein friedliches Zusammenleben kämpften.

Frühe sozialistische Anti-Zionist:innen

Als die zionistischen Ideen Ende des 19. Jahrhunderts erstmals formuliert wurden, hielten die meisten jüdischen Arbeiter:innen diese für lächerlich. Proletarische Jüd:innen verspotteten in Liedern „Oy, Ir Narishe Tsionistn“ (“Närrische kleine Zionisten”). Die populärste jüdische Arbeiter:innenorganisation war der „Allgemeine Jüdische Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland“, besser bekannt als „Der Bund“. Anstatt auf ein Ende der Unterdrückung in einem fernen Land zu hoffen, führten sie den Befreiungskampf an den Orten, wo sie lebten, gemeinsam mit nicht-jüdischen Arbeiter:innen.

Rosa Luxemburg, eine der wichtigsten jüdischen Revolutionär:innen, schrieb in einem Brief an ihre Freundin, die SPD/USPD-Politikerin Mathilde Wurm: „Mir sind die armen Opfer der Gummiplantagen in Putumayo, die [Schwarzen Menschen] in Afrika, mit deren Körper die Europäer Fangball spielen, ebenso nahe. Weißt Du noch die Worte aus dem Werke des Großen Generalstabs über den Trothaschen Feldzug in der Kalahari: ›Und das Röcheln der Sterbenden, der Wahnsinnsschrei der Verdurstenden verhallten in der erhabenen Stille der Unendlichkeit‹, in der so viele Schreie ungehört verhallen, sie klingt in mir so stark, daß ich keinen Sonderwinkel im Herzen für das Ghetto habe. Ich fühle mich in der ganzen Welt zu Hause, wo es Wolken, Vögel und Menschentränen gibt“.

Der Bund war keine Ausnahme. Sozialist:innen und Kommunist:innen verschiedener Strömungen lehnten den Zionismus ab. Leo Trotzki nannte den sechsten Zionisten Kongress 1903 eine „erbärmliche und leere“ Veranstaltung, geführt von einem „schamlosen Abenteurer“. Neben bürgerlichen Zionist:innen wie Theodor Herzel, gab es auch solche die eine „sozialistische“ Kolonisierung Palästinas befürworteten. Organisationen wie Poale Zion und Hashomer Hatzair gründeten sich auf der Basis des sozialistischen Zionismus. Bereits im frühen 20. Jahrhundert bemerkten jüdische Marxist:innen, dass der „sozialistische Zionismus“ Kollaboration mit der jüdischen Bourgeoisie und eine Unterstützung von Kolonialismus und Imperialismus bedeutete und nur zu einem neuen nationalen Konflikt in Palästina und einer Stärkung des Antisemitismus führen würde. So schrieb etwa Karl Kautsky, dass jüdische Arbeiter:innen für „die Revolution in Russland“ kämpfen sollten, statt nach Palästina zu emigrieren.

Kommunistische Partei Palästinas

Die erste kommunistische Organisation in Palästina wurde 1919 von jüdischen Migrant:innen gegründet. Die „Partei der sozialistischen Arbeiter“ (Hebräisch Mifleget Poalim Sozialistiim; MPS) wurde nach einer Spaltung in der internationalen sozialistisch-zionistischen Organisation Poale Zion gegründet. Der linke Flügel von Poale Zion, gestärkt durch die Oktoberrevolution, wurde kommunistisch. Im Zuge ihrer Migration nach Palästina realisierten einige jüdische Arbeiter:innen, dass das Ziel eines exklusiv jüdischen „sozialistischen“ Staates auf palästinensischem Gebiet eine reaktionäre Utopie war. Sie nahmen den Kampf gegen den britischen Imperialismus auf und bemühten sich um die Einheit von jüdischen und palästinensischen Arbeiter:innen. Ihr Ziel war die multi-ethnische Palästinensische Sowjetrepublik. Nach einer Reihe von Spaltungen und Fusionen wurde die „Palestinische Kommunistische Partei“ (PKP) 1923 gegründet.

Der Name der Partei war Yiddish, da ihre Gründer:innen die Sprache der Diaspora gegenüber Hebräisch, der offiziellen Sprache des sich formierenden Staates Israel, bevorzugten. Doch trotz der vielversprechenden Anfänge ging die PKP am Stalinismus zugrunde – nicht nur politisch sondern auch physisch. Die stalinistisch degenerierte Komintern gab einen Zickzack-Kurs vor und wies die PKP an, den bürgerlichen arabischen Nationalismus unkritisch zu unterstützen. In der zweiten Hälfte der 1930er ließ Stalin mit den Moskauer Prozessen den Antisemitismus in der Sowjetunion wieder aufleben. Anführer:innen der Oktoberrevolution, viele von ihnen jüdisch, wurden als Spione und Verräter:innen gebrandmarkt, die ihre jüdische Herkunft verheimlicht hätten. Im Zuge des Großen Terrors wurden die meisten PKP-Kader umgebracht, ebenso wie viele weitere jüdische Kommunist:innen.

Später entschied Stalin sich, die Gründung des israelischen Staates zu unterstützen. Die Unterstützung geschah nicht nur auf diplomatischem Wege, die stalinistische Tschechoslowakei lieferte Waffen an zionistische Milizen, um ethnische Säuberungen durchzuführen. Währenddessen wurden in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten extrem antisemitische Kampagnen und Schauprozesse abgehalten. Im neuen Staat Israel war die stalinisierte Kommunistische Partei nicht nur ideologisch zionistisch, sondern spielte auch eine wichtige Rolle bei der Beschaffung von Waffen für die Durchführung der Nakba.

Revolutionäre Kommunistische Liga Palästinas

Links-oppositionelle Kommunist:innen in Palästina formierten sich als „Revolutionäre Kommunistische Liga“ (RKL). Die meisten Mitglieder waren Jüd:innen, manche von ihnen geboren in Palästina, andere vor dem Faschismus geflohen. Sie stellten sich gegen den imperialistischen Plan, Palästina zu teilen und forderten einen geeigneten sozialistischen Staat, in dem arabische und jüdische Menschen zusammenlebten. Für dieses „Verbrechen“ wurden sie von der britischen Besatzungsmacht interniert.

Die RKL war allerdings keine ausschließlich jüdische Organisation. Nach dem 1939 geschlossenen Hitler-Stalin-Pakt wurde der palästinensische Kommunist Jabra Nicola Teil der Partei und blieb sein Leben lang Trotzkist. Nach Ende des zweiten Weltkriegs kehrten einige RKL-Aktive nach Europa zurück und wurden zu Anführer:innen der revolutionär-sozialistischen Bewegung. Yigael Gluckstein nahm das Pseudonym Tony Cliff an und leitete die ‘Socialist Workers Party’ (SWP) in Großbritannien. Jakob Moneta und Rudi Segall wurden wichtige Mitglieder der ‘Gruppe Internationale Marxisten’ (GIM) in Deutschland. Die RKL kollabierte allerdings nach den Schrecken der Nakba, auch wenn einige Mitglieder ihre sozialistischen Überzeugungen nie ablegten.

Matzpen: Die Israelische Sozialistische Organisationen

1962 formierte sich eine Neue Linke in Israel, nachdem kritische junge Aktivist:innen aus der pro-sowjetischen kommunistischen Partei ‘Maki’ ausgeschlossen wurden. Sie gründeten die Israelische Sozialistische Organisation, besser bekannt als Matzpen (Hebräisch für Kompass), der Namen ihres Magazins. Matzpen vereinte junge Aktivist:innen, die sich 1967-68 politisiert hatten, und die langjährigen Trotzkisten Jabra Nicola und Jakob Taut.

Taut verdient eine kurze Biografie: Er wuchs als Arbeiter in Berlin auf und floh 1934 nach Palästina. Er war nie pro-zionistisch, erhielt aber nirgendwo anders eine Aufenthaltserlaubnis. Taut arbeitete in der Ölraffinerie in Haifa. Dort legte eine zionistische Terrororganisation 1948 eine Bombe, die sechs arabische Arbeiter:innen tötete. Als Antwort begann ein wütender Mob, Jüd:innen zu massakrieren, Taut kam mit schweren Verletzungen davon. Dieses furchtbare Trauma konnte seinen internationalistischen Geist nicht brechen – er hielt an der Überzeugung fest, dass Jüd:innen und Palästinenser:innen durch den gemeinsamen Kampf gegen den Zionismus eine friedliche Zukunft erreichen könnten.

Matzpen war stets eine kleine Gruppe, sie erhoben aber laut ihre Stimme gegen die Besatzung der palästinensischen Gebiete in 1967, sodass alle in Israel, einschließlich dem Premierminister, über sie sprachen. Sie unterstützen auch den Aufbau der israelischen Black Panthers – eine Gruppe von Jüd:innen nordafrikanischer oder nah-östlicher Herkunft – die gegen ihre Diskriminierung kämpften.

Mitglieder von Matzpen reisten durch Europa und die USA, um der internationalen Linken die Widersprüche in Israel zu erklären. Matzpen arbeitete mit der PLO und linken palästinensischen Gruppen wie der DFLP zusammen, mit dem Ziel, eine Allianz zwischen der palästinensischen Befreiungsbewegung und unterdrückten Sektoren in Israel zu schmieden.

Mitte der 1970er spaltete sich die Organisation in die Tel-Aviv-Sektion, welche eine „undogmatische“ Politik verfolgte und die Jerusalem-Sektion, die dem Trotzkismus sehr nahe stand. Beide trugen den Namen Matzpen, letztere verwendete jedoch auch wieder die Bezeichnung RKL. Während der ersten Intifada wurde der RKL-Anführer Michel Warschawski für seine Unterstützung der palästinensischen Befreiungskämpfer:innen zu drei Jahren Gefängnis verurteilt.

2003 wurde eine spektakuläre Dokumentation über Matzpen veröffentlicht.

Jüdischer Anti-Zionistischer Aktivismus heute

Auch heute gibt es in Israel und international noch viele aktive Anti-Zionist:innen. Während der riesigen Protestbewegung dieses Jahr (welche mehrheitlich den ethnonationalistischen Charakter des israelischen Staates nicht hinterfragten), formierte sich ein Anti-Apartheid Block, in dem hunderte und manchmal tausende Aktivist:innen die Demokratie auch für Palästinenser:innen einforderten.

Viele der linken Organisation in Israel sind allerdings nicht anti-zionistisch. Maki, die kommunistische Partei, wurde in den 1960ern reformiert und ist nun non-zionitisch statt anti-zionistisch. Ma’avak Sotzialisti, die israelische Sektion der International Socialist Alternative (bis 2019 Comittee for a Workers‘ International), wurde in den 1990ern gegründet und bekennt sich zum Trotzkismus, leidet aber unter demselben Problem. Diese Gruppen glauben, dass eine Zweistaatenlösung den durch den Imperialismus ausgelösten Konflikt beheben könnte.

Wir haben erhebliche politische und strategische Differenzen mit vielen der sozialistischen Organisationen in Israel. Wir halten es jedoch für wichtig zu zeigen, dass es seit der Entstehung des Zionismus anti-zionistische Jüd:innen gegeben hat. Die Behauptung, dass alle Israelis, oder sogar alle Jüd:innen zionistisch seien, hat noch nie gestimmt. Die Schaffung eines sozialistischen, multi-ethnischen und laizistischen Palästinas, mit gleichen demokratischen Rechten für alle Einwohner:innen, als Teil einer sozialistischen Konföderation des Nahen Ostens, ist die einzige Lösung für den angeblich ewigen Konflikt.

Wie schon die südafrikanischen Trotzkist:innen 1938 sagten:

Die Fortsetzung des alten zionistisch-imperialistischen Kurses wird den Keil des Hasses und des Chauvinismus tiefer treiben, wird die Kluft zwischen Arabern und Juden vergrößern und wird ewigen Zwist und Bürgerkrieg fördern und die Existenz der jüdischen Gemeinschaft selbst gefährden. Und wenn wir dies sagen, haben wir nicht die Zionisten im Sinn. Wir meinen die große Masse der jüdischen Arbeiter und Kleinbauern. Sie können das jüdische Problem in Palästina sehr leicht lösen. Was wir brauchen, ist die Solidarität und Zusammenarbeit der jüdischen und arabischen Arbeiter und Bauern und ein vereinigter Kampf für ein unabhängiges freies Palästina der Arbeiter und Bauern, befreit von den Fesseln des Imperialismus-Kapitalismus.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Left Voice.

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