Ein Jahr nach der Ermordung von Jina Mahsa Amini: die Unruhen und die Krise des iranischen Regimes

28.09.2023, Lesezeit 9 Min.
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Iraner:innen zu den Protesten gegen den Tod von Jina Mahsa Amini in Trafalgar Square in London am 05.11.2022. Foto: Koca Vehbi / Shutterstock.com

Die Demonstrationen, die im Iran vor einem Jahr nach der Ermordung von Jina Mahsa Amini durch die Sittenpolizei ausbrachen, markierten eine Zeit des Aufruhrs. Der Grad der Radikalisierung, der ab dem 16. September 2022 auf den Straßen zum Ausdruck kam, war beispiellos und führte zu Forderungen, die über die Frage der Zwangsverschleierung hinausgingen und sogar die Herrschaft der Mullahs in Frage stellten.

Massenmobilisierungen, Kundgebungen, Streiks: Die Radikalisierung der Frauen-, Studendierenden- und Arbeiter:innenbewegung markierte einen Wendepunkt im Bewusstsein der Demonstrant:innen und ebnete den Weg für eine neue Serie von Klassenkämpfen und Aufständen im Land. Dabei traten noch tiefere Widersprüche innerhalb des iranischen Regimes und seines Staates zutage.

Bereits in der vorangegangenen Periode seit 2019 war die wirtschaftliche und politische Situation von Instabilität geprägt, die zu verschiedenen Formen der Mobilisierung führte. Der Massenaufstand im November 2019 gegen die steigenden Treibstoffpreise, der Streik der Ölarbeiter:innen im Jahr 2021, die Inflation, der Wertverlust der iranischen Währung und die Sanktionen gegen den Iran, die die Arbeiterklasse noch mehr in Bedrängnis brachten – all diese Faktoren spielten eine wichtige Rolle beim spontanen Ausbruch der Massen, der eine noch radikalere Form als 2019 annahm.

In ihrer ersten Reaktion schrieb die Regierung die Unruhen „ausländischen Kräften“ zu. Unter dem Druck der Reformpartei und mit dem Ziel, den Zorn der Menschen zu besänftigen und den Anfang Dezember 2022 begonnenen Generalstreik zu brechen, kündigte Generalstaatsanwalt Mohammad Jafar Montazeri die Überarbeitung des Gesetzes über die Zwangsverschleierung von 1983 an. Außerdem versprach er die Abschaffung der Sittenpolizei. Dies wurde jedoch nicht umgesetzt, sondern war nur ein Versuch, die Wut zu beschwichtigen.

Radikalisierung auf den Straßen und eine Verschärfung der bonapartistischen Offensive: Symptome einer tiefen Regimekrise

Auch wenn der Mord an der jungen Kurdin der Funke war, der das Feuer der Revolte entfachte, so markieren die Linien dieser Mobilisierung und ihre Forderungen eine Infragestellung, die über die Ablehnung der Schleierpflicht und die Abschaffung der Sittenpolizei hinausgeht.

Die Präsenz von Frauen, insbesondere von kurdischen Frauen, an der Spitze der Revolte brachte ein Gefühl der Abscheu gegenüber der Anhäufung sexistischer und ethnischer Unterdrückung, unter der das kurdische Volk zu leiden hatte, zum Ausdruck. Radikale Forderungen wie „Kein Schah, kein Mullah“, „Frau, Leben, Freiheit“ und „Tod dem Diktator“ wurde von der Regierung mit gewaltsamen Repressionen beantwortet: Mehr als 500 Tote, vier hingerichtete Aktivist:innen, 15.000 Verhaftungen, lange Gefängnisstrafen, Suspendierung von aktivistischen Studierenden sowie die Verhaftung von fast 75 Journalist:innen waren das Ergebnis.

Die Studierendenbewegung und die iranische Jugend, die zwei Drittel der iranischen Bevölkerung ausmacht, von denen 72 Prozent nur das theokratische Regime des Obersten Führers kennen, spielten eine zentrale Rolle in der Bewegung. Am 30. Oktober 2022 belagerten die Basidschs, eine freiwillige paramilitärische Truppe unter der Aufsicht der Revolutionsgarden, die Azad-Universität in Teheran, griffen die Student:innen mit Schlagstöcken und Tränengas an und transportierten sie anschließend in Pick-up-Trucks ab.

Darüber hinaus wurden im November 2022 mehrere Grund-, Mittel- und Oberschulen von einer Reihe von Vergiftungen heimgesucht. Mindestens 830 Opfer, zumeist Frauen, litten unter Symptomen wie Übelkeit, Erbrechen und Atemnot. Obwohl die Ursache nicht ermittelt wurde, glauben viele, dass es sich bei den Vergiftungen um ein Repressionsmittel handeln könnte, das als Reaktion auf den Student:innenaufstand, insbesondere in den Sekundarschulen, eingesetzt wurde.

In mehreren strategisch wichtigen Sektoren, wie beispielsweise insbesondere der Petrochemie, kam es zu Streiks, bei denen am 10. Oktober mehr als 4.000 Beschäftigte teilnahmen. Hiervon waren die petrochemischen Raffinerien Bushehr und Asalouyeh sowie ein Teil der Raffinerie Abadan betroffen. Anfang Dezember fand eine Reihe von Streiks, zu denen die Gewerkschaften der Basarhändler:innen aufgerufen hatten, die größte Beachtung. Angesichts dieser Streikbewegung und um die Solidarität zwischen den verschiedenen Sektoren zu brechen, verhafteten die iranischen Behörden die für die Streiks Verantwortlichen und beschuldigten sie, die Streiks unterstützt und „organisiert“ zu haben. Bis Ende April hatte die Regierung 4.000 Beschäftigte, die sich an dem Streik beteiligt hatten, entlassen.

Parallel zur blutigen Unterdrückung der Student:innen- und Arbeiter:innenbewegung kündigte der Polizeikommandant Ahmad Reza Radan Anfang Juni 2023 die Installation von „intelligenten Kameras“ zur Identifizierung von Frauen, die sich nicht an die „obligatorische“ Kleidung halten, sowie für Juli 2023 die Rückkehr der Sittenpolizei an, die nach den Mobilisierungen eine Zeit lang ausgesetzt worden war. Mehr als zweitausend Autofahrerinnen wurden seit Mitte April wegen Nichteinhaltung der Vorschriften verhaftet. Alle Frauen, die „barhäuptig“ angetroffen wurden, wurden unter Androhung von Haftstrafen und Beschlagnahmung ihrer Fahrzeuge aufgefordert, sich auf der Polizeiwache zu melden. Einige Frauen wurden gezwungen, „Schulungskurse über die Vorteile des Hijab“ zu besuchen.

Neben den bonapartistischen Methoden, mit denen die Aufstände niedergeschlagen werden sollten, verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage des Landes durch die galoppierende Inflation weiter. Im April 2023 gab die Regierung bekannt, dass sie beschlossen hatte, die Subventionen für Weizen und Mehl zu kürzen und abzuschaffen, und bezeichnete diesen Schritt als „wirtschaftliche Operation“. Diese rigide Entscheidung ließ die Preise für Lebensmittel aus Mehl um bis zu 300 Prozent ansteigen. Sie führte auch zu einem weiteren Wertverlust der iranischen Währung, die 58 Prozent ihres Wertes verlor. Zudem verdreifachten sich die Lebensmittelpreise, während fast 85 Millionen Iraner:innen unterhalb der Armutsgrenze leben. Die Mieten sind im Vergleich zu 2021 um 64 Prozent gestiegen und die Arbeitslosenquote liegt bei 9,7 Prozent. Die Regierung hat mit einer beispiellosen Verschuldung versucht, die Löhne und Gehälter auf einem sehr niedrigen Niveau zu erhöhen, das nicht mit der Inflation Schritt hält, wobei die Budgets für den Kauf von Medikamenten erheblich gekürzt wurden.

Heute, im Kontext der Inflationskrise, setzt die Regierung ihre Offensive fort und verschärft sie sogar noch. Die Verhaftung von Amjad Amini, dem Vater von Jina Mahsa, durch die Sicherheitskräfte am Jahrestag der Ermordung zeigt einmal mehr, dass die politische Situation, die sich durch die Unruhen eröffnet hat, noch nicht geschlossen ist und dass die Regierung weiterhin wachsam bleibt. Am Samstag, den 16. September, verhinderten die iranischen Behörden die Organisation von Jina Mahsas Todesfeier mit einem verschärften Vorgehen gegen alle Formen des Gedenkens.

Irans regionaler Einfluss wird durch die Radikalisierung der Aufstände im Nahen Osten konterkariert

Es liegt auf der Hand, dass die instabile innenpolitische Lage in Verbindung mit der brutalen Unterdrückung auch die Situation des Irans in der Regionalpolitik und den internationalen Beziehungen widerspiegelt. Das Vereinigte Königreich, Frankreich und Deutschland haben kürzlich angekündigt, dass sie die Sanktionen gegen den Iran nicht gemäß dem im Atomabkommen von 2015 festgelegten Zeitplan aufheben werden. Diese Entscheidung könnte Teheran verärgern und den Fortbestand des Abkommens weiter gefährden.

Dies könnte sich auf die Regionalpolitik des Irans auswirken, der seit dem Sieg der islamischen Revolution bestrebt ist, seinen militärischen und religiösen Einfluss im Nahen Osten auszuweiten. Der Einsatz der libanesischen Hisbollah als zentraler Verbündeter im Libanon sowie die Intervention Irans in Syrien zur Unterstützung von Bashar al-Assad gegen die Volksaufstände sind Ausdruck einer regionalen Politik zur Verteidigung seiner Interessen als reaktionäres Regime. Darüber hinaus ist die jüngste Integration des Landes in die BRICS-Staaten zwar ein Erfolg im Kampf gegen seine Isolation aufgrund der wiederholten Offensiven westlicher Länder, doch ist sie mit Widersprüchen behaftet, insbesondere aufgrund der gegensätzlichen Interessen der Mitglieder des Blocks.

Eine so tiefgreifende Verschlechterung der inneren Lage des Landes, die bereits erwähnte Serie von Protesten sowie Proteste in anderen Ländern, in denen der Iran einen starken Einfluss ausübt – wie im Libanon, 2019 im Irak und in jüngster Zeit in Syrien mit der Wiederkehr von Aufständen gegen das Regime und seine Verbündeten Iran und Russland –, zeigen jedoch die tiefen Grenzen des Projekts der Ausweitung des iranischen Einflusses in der Region.

Der gemeinsame Faktor zwischen den verschiedenen Aufständen im Iran, Irak, Syrien und Libanon ist nicht einfach die Ablehnung des iranischen Einflusses und seines reaktionären religiösen Projekts. Hier zeigt sich vielmehr eine radikalere Tendenz, die mehr politische Forderungen mit sich bringt, die über die Ablehnung der religiösen Vorherrschaft hinausgehen und den Wunsch zeigen, sich für bessere materielle Bedingungen zu organisieren und das bürgerliche politisch-ökonomische System, für das die Religion nur als Tarnung dient, in Frage zu stellen.

In einem solchen Kontext ist es entscheidend, unsere Analyse des Klassenkampfes im Iran nicht von den Kämpfen in den Nachbarländern zu isolieren. Die Arbeiter:innenklassen in den Ländern des Nahen Ostens und im Iran müssen die Lehren aus den oben genannten Vorgängen ziehen und ihre Wut und ihren Protest durch ein Bündnis aus Arbeiter:innenklasse, Feminismus und Antirassismus gegen die Bourgeoisie organisieren. Diese greift auf ein tief verwurzeltes und reaktionäres religiöses Projekt zurück, um jede Allianz zwischen den Unterdrückten und Ausgebeuteten zu verhindern und ihr Regime und ihre Profite zu verteidigen.

Zwischen den aufeinander folgenden Krisen und der Schwächung des iranischen Regimes könnten die Schwäche der herrschenden Klassen im Nahen Osten und die Widersprüche des Imperialismus in der Region den Weg für eine echte Intervention der Arbeiter:innenklasse öffnen. Dazu müssen die iranischen Arbeiter:innen ein echtes Programm für die Emanzipation aller Unterdrückten im Iran, wie Frauen oder ethnische Minderheiten, annehmen und gegen die aufeinanderfolgenden Offensiven des Regimes kämpfen, das seine tiefe Beunruhigung zum Ausdruck bringt.

Dieser Artikel erschien zuerst am 25. September 2023 auf Spanisch bei La Izquierda Diario.

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