„Drum kämpfen wir ums Brot und wollen die Rosen dazu!“

17.01.2019, Lesezeit 8 Min.
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Bild der New England Historical Society

Vor 107 Jahren, im Jahr 1912, begann in der Stadt Lawrence der Brot-und-Rosen-Streik. Wie organisierten sich die Arbeiterinnen und welche Lehren können wir daraus heute ziehen?

Bild der New England Historical Society

Der Brot-und-Rosen-Streik von 1912 ist eines der machtvollsten Beispiele dafür, wie Arbeiterinnen nationale Grenzen und Sprachbarrieren überwinden, um erfolgreich Bossen und der Polizei die Stirn zu bieten. Es ist ein Beispiel für junge Frauen, die weit entfernt vom Stereotyp einer fragilen Weiblichkeit gekämpft und gewonnen haben. Es ist ein Beispiel für die Organisierung der Arbeiter*innenklasse über die Hürden von Geschlecht, Ethnie oder Sprache hinweg – die Hürden, die unsere Klasse in der Regel trennen.

Der Brot-und-Rosen-Streik 1912 geschah im Kontext einer Welle von proletarischen Mobilisierungen und Streiks, insbesondere in der Textilindustrie. 1908 organisierten sich Arbeiterinnen in Chicago für einen kürzeren Arbeitstag und bessere Arbeitsbedingungen. 1909 half Clara Lemlich dabei, einen Aufstand von 20.000 Menschen in New York zu organisieren, einen massiven Streik der vor allem weiblichen und migrantischen Textilindustrie New Yorks.

In diesem Kontext der Arbeitskämpfe traten am 11. Januar 1912 vorwiegend weibliche Textilarbeiter*innen in Lawrence, Massachusetts in einen Streik, der neun Wochen lang andauern sollte. In der Spitze beteiligten sich 30.000 Menschen daran. Nachdem Massachusetts ein Gesetz verabschiedet hatte, das die Wochenarbeitszeit für Frauen und Kinder auf 54 statt 56 Stunden reduzierte, erhielten die Arbeiter*innen eine proportionale Lohnkürzung, die sie nicht akzeptierten. Die Löhne der Arbeiter*innen in den Werken waren so spärlich, dass die Lohnkürzung harte Auswirkungen hatte: Ihre Kinder blieben hungrig und sie konnten sich eine Versorgung mit den grundlegendsten Notwendigkeiten nicht mehr leisten.

Obwohl der Streik mit den polnischen Arbeiter*innen des Everett-Werks begann, verbreitete sich die Nachricht, und am nächsten Morgen hatten sich Tausende von Frauen dem Streik angeschlossen. Frühere Aktionen von Sozialist*innen und die Organisierung der Arbeiter*innen hatten dazu beigetragen, die Bedingungen für den Streik zu schaffen. Zum Beispiel hatten ein Jahr zuvor 87 Frauen eine Arbeitsniederlegung für eine Lohnerhöhung organisiert und daraus Lehren gezogen, die sie später für den Brot-und-Rosen-Streik nutzten. Nach einem kleineren Streik 1911, wandten sich die International Workers of the World (IWW) der Stadt Lawrence zu, um Kontakte zu etablieren und Treffen mit Arbeiter*innen zu veranstalten. Vor dem Streik gab es mehr als 20 verschiedene Gruppen der IWW in der Stadt. Der größte Gewerkschaftsbund zu der Zeit, die American Federation of Labor, ließ sich dort nicht blicken, da sie damals nur Fachkräfte organisierte – ausschließlich weiße Männer. Als der Streik ausbrach, lehnte ihn die AFL tatsächlich ab. Dahingegen schickten die IWW einige ihrer wichtigsten Organisatoren nach Lawrence, darunter J.P. Thompson und Elizabeth Gurley Flynn.

Lawrence war als „Immigrantenstadt“ bekannt, da sich dort Menschen aus 51 verschiedenen Ländern auf 18 Quadratkilometern drängten, um täglich in den Textilfabriken zu arbeiten. 65% der Bevölkerung der Stadt waren seit weniger als zehn Jahren in den USA. Die Bedingungen in den Fabriken waren schrecklich: Die Lebenserwartung der dortigen Arbeiter*innen betrug weniger als 40 Jahre, ein Drittel von ihnen starb innerhalb eines Jahrzehnts nach Aufnahme ihrer Arbeit. Sie starben oft an Atemwegsinfektionen wie Lungenentzündung durch den Staub und die feinen Stoffreste in den Fabriken. Mehr als die Hälfte der Kinder in Lawrence arbeitete in den Fabriken, in dem verzweifelten Versuch ihre Familien dabei zu unterstützen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Es wurde ein Streikkomitee gewählt, das die Sprachgruppen der Streikenden vertrat; für jede ethnische Gruppe wurden vier Repräsentant*innen sowie Stellvertreter*innen für den Fall einer Verhaftung gewählt. Joseph Ettor von den IWW sowie Arturo Giovannitti von der italienischen Abteilung der Sozialistischen Partei halfen bei der Übersetzung von Treffen in 30 verschiedene Sprachen. The Outlook, eine örtliche Zeitung, schrieb:

„Es gibt hier in Lawrence fast so viele Nationalitäten wie in dem Babel New York. Die Arbeiter sind Amerikaner, Engländer, Schotten, Iren, Deutsche, Franzosen, Flandern, Französisch-Kanadier, Polen, Italiener, Syrer, Russen, Armenier… Man würde nicht vermuten, dass ein gemeinsames Gefühl diese verschiedenen Gruppen beleben und zu einer Kampfeinheit verschmelzen könnte. Nichtsdestoweniger haben sie zugeschlagen – zugeschlagen als ein einzelner homogener Körper.“

Am Ende der Woche gab es große Versammlungen, in denen die Arbeiter über die nächsten Schritte für den Streik entschieden. Das Streikkomitee vertrat Arbeiter*innen diverser Nationalitäten, die sich an dem Streik beteiligten. Nach jedem der Treffen sangen die Arbeiter*innen Die Internationale. Einige der ersten Maßnahmen, die von den Versammlungen beschlossen wurden, waren die Einführung eines Streikfonds sowie massive Streikposten vor den Fabriken, was zu Auseinandersetzungen der Streikenden mit der Polizei führte.

Auf den Streikposten und auf den Demonstrationen trugen die Streikenden Banner, die „Brot und Rosen“ forderten. Der Ausdruck stammt aus einem Gedicht aus dem Jahr 1911. Darin heißt es:

„Und wenn ein Leben mehr ist als nur Arbeit, Schweiß und Bauch,
wollen wir mehr: gebt uns das Brot, doch gebt uns die Rosen auch.
Wenn wir zusammen gehen, gehen unsre Toten mit.
Ihr unerhörter Schrei nach Brot schreit auch durch unser Lied.
Sie hatten für die Schönheit, Liebe, Kunst, – erschöpft – nie Ruh.
Drum kämpfen wir ums Brot und wollen die Rosen dazu.“

Da die meisten der Streikteilnehmer*innen Frauen waren, ergriff das Streikkomitee mehrere Maßnahmen, um Frauen die volle Teilnahme am Streik zu ermöglichen. Dazu gehörten Gemeinschaftskantinen und Kinderbetreuung. Die IWW organisierte auch Kindergewerkschaftstreffen und Aktivitäten für Kinder, um die Gründe für den Streik mit ihnen zu diskutieren. In den Schulen war der Streik als „unamerikanisch“ bezeichnet worden. Flynn schrieb: „Den IWW ist vorgeworfen worden, die Frauen an die Spitze zu stellen. Die Wahrheit ist, dass die IWW sie nicht zurückhält und sie selbst nach vorn gehen.“

Früh im Streik erschoss die Polizei Anna LoPizzo. Anführer*innen der IWW wurde die Schuld dafür gegeben, sie wurden inhaftiert. Der Gouverneur rief die staatliche Miliz in die Stadt und ging hart gegen Treffen und Paraden vor. Die Miliz ermordete den achtzehnjährigen John Ramey. Infolge dieser Polizeigewalt schickten Frauen ihre Kinder in andere Städte, um mit Freund*innen und Verwandten zu leben, solange der Streik anhielt. In Manhattan begrüßten 5000 Menschen die ankommenden Kinder, jubelten ihnen zu und stärkten auf diese Weise den Streik.

Als immer mehr Frauen in Lawrence ihre Kinder zum Bahnhof brachten, begann die Polizei auf sie einzuschlagen und sie vor den Augen ihrer Kinder festzunehmen. Dies führte zu einem riesigen Skandal in der Presse und stärkte die öffentliche Unterstützung für den Streik. Aus dem ganzen Land schickten Menschen Geld und Unterstützungsschreiben. Sogar aus Harvard kamen Studierende nach Lawrence, um ihre Solidarität mit dem Streik zu zeigen. Trotz der Fülle öffentlicher Unterstützung, lehnte die AFL den Streik weiterhin ab und nannte die Organisator*innen anarchistisch.

Infolge der schlechten Presse nach dem Exodus der Kinder war die Regierung zum Handeln gezwungen. Der Kongress begann am 2. März eine Anhörung zu dem Streik, was die furchtbaren Bedingungen in den Fabriken bekannt machte. Am 14. März stimmten die Fabrikbesitzer einer Lohnerhöhung von 15 Prozent sowie einem höheren Überstundenlohn zu und versprachen, keine Vergeltungsmaßnahmen gegen die Streikenden zu ergreifen.

Als Ergebnis des Brot-und-Rosen-Streiks erhielten 275.000 Textilarbeiter*innen in Neuengland ähnliche Löhne, da die Arbeitgeber befürchteten, die Arbeiter*innen könnten dem Beispiel folgen und ähnliche Streiks durchführen.

Der Brot-und-Rosen-Streik diente als Inspiration für eine der größten sozialistischen Frauenorganisationen Lateinamerikas: Pan y Rosas. Diese Organisation existiert in Chile, Bolivien, Venezuela, Brasilien, Costa Rica, Peru, Mexiko, Argentinien, Deutschland und Spanien. Allein in Argentinien zählt sie über 5000 Frauen.

Die arbeitenden Frauen, die es wagten, sich der Polizei zu stellen, ihre Arbeit und ihr Leben zu riskieren, sind nicht nur ein schönes historisches Beispiel. Diese Frauen und Männer, die sich über Geschlecht, Ethnie und Sprache hinweg organisiert haben, sind eine Inspiration für diejenigen von uns, die es in der Ära des Rechtsrucks ebenfalls wagen, das Recht auf Brot und Rosen zu fordern.

 

Literatur zum Thema
Robert Forrant: The Real Bread and Roses Strike Story Missing from Textbooks,2013.
Klein, Christopher: The Strike That Shook America, 2012.
Lawrence History Center: Bread and Roses Strike of 1912. Two Months in Lawrence, Massachusetts, that Changed Labor History, 2013.

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