Die Weltwirtschaft vor einem neuen Wendepunkt?

14.02.2012, Lesezeit 9 Min.
1

Eine der drei wichtigsten Rating-Agenturen weltweit, die angelsächsische Agentur Moody‘s, drohte damit, die Bonität von 87 Banken aus 15 Ländern der Europäischen Union herabzusetzen. Italien musste gestern zur Erlangung von Krediten auf den Märkten einen höheren Zinssatz zahlen, als Griechenland, Portugal oder Irland zu dem Zeitpunkt zahlen mussten, als diese Länder „gerettet“ wurden. Portugal zahlte heute einen Zinssatz, der diese Zahlen fast verdoppelte. Die EU bereitet sich auf einen neuen Gipfel am 9. Dezember vor, nachdem sie die Versprechen früherer Gipfel nicht gehalten hatte. Aus den Reihen des Internationalen Währungsfonds (IWF) verlautete eine Ankündigung, die später dementiert wurde, dass der IWF 600 Milliarden Dollar beisteuern würde, um den Kollaps der italienischen Wirtschaft, der drittgrößten der Eurozone, zu verhindern. Erst neulich hatten die Federal Reserve Bank der USA (Fed), die Europäische Zentralbank (EZB) und die Zentralbanken Englands, Japans, Kanadas und der Schweiz eine koordinierte Aktion angekündigt, um die Liquidität des weltweiten Finanzsystems zu garantieren. Die Börsen der wichtigsten ökonomischen Zentren der Welt befinden sich auf einer konstanten Achterbahnfahrt, ein Vorspiel der kommenden großen Ausbrüche.

Es ist nicht nur Europa…

Der Brennpunkt der Krise befindet sich zweifellos in der Eurozone und Europa ist schon in eine Situation leichter Rezession eingetreten. Dennoch: Die Wirtschaft der USA wächst mit mageren 1,7% (gegenüber den schon schwachen 2,5%, die erwartet wurden und die überhaupt nicht ausreichen, um die Arbeitslosigkeit zu absorbieren und eine Antwort auf die Spannungen der Weltwirtschaft zu geben), und einige ihrer wichtigsten Banken sind in kritischem Zustand. Die USA sieht sich mit Insolvenzen wie der erst kürzlich angekündigten von American Airlines konfrontiert, genau wie mit Drohungen der Rating-Agenturen, ihre Bonität herabzusetzen aufgrund des Scheiterns der Kommission des Kapitols, Haushaltskürzungen für die nächsten Jahre zu vereinbaren. Die rezessiven Tendenzen und die tiefe Krise der Eurozone und Europas insgesamt genau wie die extreme Schwäche der Erholung der USA haben schon dazu geführt, dass die chinesischen Exporte in beide Regionen zurückgegangen sind. Als Konsequenz daraus hat sich in China ebenfalls das Wachstum des BIP verlangsamt – und obwohl das Wachstum weiterhin hoch ist (9,5% gegenüber 10,2% im Jahr 2010), stellt es die chinesische Wirtschaft mittelfristig vor schwerwiegende Probleme.

Die Ungleichheiten, die 2010 dazu tendierten, sich relativ „heilsam“ für das Kapital zu kombinieren, drohen jetzt, sich zu seinem Verderb zu kombinieren und dadurch die wirklichen Grenzen der falsch genannten „Entkopplung“[1] aufzuzeigen. Wir beziehen uns auf die Methode von Leo Trotzki, die vorschlägt, die allgemeinen Tendenzen der Wirtschaft nicht nur durch wirtschaftliche Indikatoren, sondern auch in Anbetracht der Beziehungen zwischen den Staaten zu analysieren. Diese hat sich, obwohl wir uns in einer Situation befinden, die von den 1920er Jahren sehr verschieden ist, erneut gegenüber all denen als korrekt erwiesen, die sich vor etwas weniger als einem Jahr dazu hinreißen ließen, die Krise für beendet zu erklären.

Deutschland und der EU-Gipfel

In diesem allgemeinen Kontext muss die sehr kritische Situation Europas und der Eurozone interpretiert werden. Deutschland verdammt heute, nachdem es während des letzten Jahrzehnts von den schwächsten Ländern der Zone gelebt hat, genau diese Länder zu einer tiefen Rezession. Bisher weigert sich Deutschland zudem, Eurobonds einzuführen und steht einer massiven Intervention der EZB ablehnend gegenüber. Kombiniert mit der Schwäche der USA und der verringerten Kapazität Chinas, Importe zu absorbieren, eröffnen sich damit die Türen zum Untergang Deutschlands gemeinsam mit seinem Hinterhof. Angesichts dieses Sturms, der sich am nahen Horizont abzeichnet, entwickeln sich intensive Verhandlungen: Diese setzen – ohne allzu große Klarheit – den Versuch voraus, in Richtung einer Fiskalunion der stärksten Länder der Zone (aller diejenigen, die ein AAA-Rating haben) voranzuschreiten. Diese Union – die nicht nur die Kontinuität der brutalen „Rettungspakete“ für die schwächsten Länder bedeuten würde, sondern auch verschärfte Kürzungsprogramme in den „stärkeren“ Ländern – würde gleichzeitig die Tore zu einer Art gemeinsamer Aktion und wahrscheinlich zu einer Art „Eurobonds“ öffnen. Diese speziellen Bonds würden aber nur von den „Starken“ ausgegeben werden und so die Kosten vermeiden, die Deutschland nach den jetzigen Modellen nicht zahlen will. Nach diesen würden sich nämlich auch die Zinssätze Deutschlands erhöhen, weil es dann eine Verbindung zu den „Schwachen“ in einer gemeinsamen Anleihe hätte. Wenn eine Fiskalunion einiger Länder zusätzlich zur Währungsunion geschaffen würde, hätte die EZB gleiche Bedingungen angesichts möglicher Bank Runs [etwa: „Ansturm auf eine Bank“] wie die anderen Zentralbanken. Die Zentralbanken der verschiedenen Länder haben ihre Staatskassen hinter sich, aber die EZB nicht. Eine Fiskalunion der stärksten Länder würde erlauben, dass die Staatskassen der Länder mit AAA-Rating für die EZB antworten, falls sich die Krise in eine ungünstige Richtung entwickelt. Offensichtlich ist die Frage der Fiskalunion ein Schlüsselelement, das Merkel durch bilaterale Abkommen zu lösen versucht, um die Notwendigkeit zu umgehen, dass alle 27 EU-Länder einer Änderung der Verträge von Lissabon zustimmen müssten, was wahrscheinlich Jahre dauern würde. Die Fiskalunion könnte so eine massive Intervention der EZB ermöglichen, worauf Frankreich, Italien, Spanien und die USA unter anderem verzweifelt warten und was die außer Kontrolle geratenen Finanzmärkte beruhigen könnte, wenn auch sicherlich nicht für sehr lange…

Die Frage aller Fragen

Auch wenn die massive Intervention der EZB Realität würde, muss man bedenken, dass diese Eindämmung der Krise dennoch weit davon entfernt wäre, das Voranschreiten der Rezession, das schwache Wachstum der USA und noch weniger das geringere Wachstum Chinas (welches Resultat der sinkenden Exporte sowohl nach Europa als auch in die USA ist) zu vermeiden. Aber wenn Deutschland (und Frankreich) die Intervention der EZB nicht ermöglichen, und auch der IWF nicht interveniert, dann würde sich die Gesamtsituation beschleunigen und schon nicht mehr zu einem neuen „Lehman Brothers“ führen, sondern zu einer Katastrophe viel größeren Ausmaßes. Der Bankrott Italiens wäre weder einem „Lehman Brothers“ ähnlich, noch wäre es vergleichbar mit dem Bankrott Griechenlands, welcher ohnehin schon sehr viel schwerwiegender als eine Neuauflage „Lehmans“ wäre. Die Tendenzen zur Liquidierung des Euros sind latent. Das Problem ist, dass falls Deutschland den Euro fallen ließe, würde es sich selbst liquidieren, sowohl vom finanziellen Standpunkt als auch vom Standpunkt des Außenhandels aus, in einer Situation, in der China schon nicht mehr eine Gegentendenz (wie mit der „Stärke“ des Jahres 2010) darstellt, sondern vielmehr selbst Teil des Problems zu werden beginnt. Das heißt also, wenn „Frau Nein“ (so wird die Bundesklanzlerin Angela Merkel teilweise genannt) weiterhin „nein“ sagt, würde die Eurozone in eine dunkle Ära eintreten, aber…

Wohin würde Deutschland selbst gehen?

Die Vertiefung der Wirtschaftskrise verursacht tiefgehende politische Krisen und Tendenzen zur Polarisierung nach links und rechts. Neben den kürzlich geschaffenen „technischen“ bonapartistischen Regierungen Griechenlands und Italiens[2], die von den Regierungen Merkels und Sarkozys vorangetrieben wurden, entwickeln sich selbst in den stärksten Ländern der Eurozone nicht nur xenophobe Tendenzen, sondern auch „europhobe“[3] Parteien sowie tiefschürfende Tendenzen innerhalb der deutschen Regierungskoalition, die klar gegen die EZB-Intervention sind. Wenn die Eurozone auseinander brechen würde, würde Deutschland in eine tiefe Rezession eintreten (schon die Wachstumsprognose für 2012 beträgt weniger als 1%). Eine solche Situation würde Deutschland in eine tiefe Krise stürzen, da es seine wichtigsten Exportziele verlieren würde, was zudem mit einem Kettenbankrott der wichtigsten deutschen Banken einhergehen würde. In diesem Kontext würde Deutschland in eine Abwärtsspirale geraten. Die angebliche Angst vor der Inflation (eine Erinnerung an die Epoche vor Hitlers Aufstieg zur Macht) als Argument gegen die Geldausschüttung durch die EZB könnte die Bedingungen für eine tiefgehende Deflation vorbereiten, die in eine ähnliche Richtung führen würde (Krise, Klassenkampf und scharfe politische Polarisierung in Deutschland selbst), wenn auch auf einem anderen Weg. Und selbst wenn sich schlussendlich ein Plan der massiven Intervention der EZB durchsetzen würde, würde er diese Perspektive nur hinauszögern.

1. Dezember 2011 – zuerst erschienen in „La Verdad Obrera“ Nr. 455

Fußnoten

[1]. Mit Entkopplung ist die Vorstellung gemeint, die sogenannten aufstrebenden Länder, allen voran China, könnten den imperialistischen Ländern, allen voran der USA, den Rang als Motoren der Weltwirtschaft streitig machen und somit ihre wirtschaftliche Rolle übernehmen, also eine von der Krise der zentralen Länder „entkoppelte“ Entwicklung durchlaufen. Diese Theorie besagt somit explizit, dass es nicht zu einem Fall der Weltwirtschaft kommen kann, selbst wenn die USA fallen würden.

[2]. Siehe: Claudia Cinatti: „Italien: Berlusconi geht, Monti kommt“.

[3]. Siehe: Juan Chingo: „Ein neuer bonapartistischer Kurs in Europa”. In diesem Heft.

Mehr zum Thema