Die SAV beim Charité-Streik

01.06.2011, Lesezeit 10 Min.
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// Eine Bilanz der Intervention der revolutionären Linken //

Verschiedene Organisationen der revolutionären Linken haben den Streik bei der Charité aktiv unterstützt, doch weder irgendeine revolutionäre Gruppe noch alle revolutionären Gruppen zusammen konnten den Verlauf des Streiks erheblich beeinflussen. Wir von RIO konnten mit unseren bescheidenen Mitteln nicht kontinuierlich intervenieren. Doch wir waren immer wieder beim Streik dabei und haben viele Gespräche geführt. Wir bemühen uns auch weiterhin, Solidarität zu organisieren, zum Beispiel an den Universitäten [1].

Die revolutionäre Linke muss eine Bilanz der eigenen Intervention(en) ziehen. Die meisten Gruppen teilen das Ziel, eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei aufzubauen, doch zwischen den verschiedenen Gruppen bestehen erhebliche Differenzen über theoretische, strategische und taktische Fragen. Diese Differenzen schlagen sich auch in Streiks in unterschiedlicher, praktischer Politik nieder.

Wir werden uns auf die trotzkistische Sozialistische Alternative (SAV) konzentrieren, nicht nur weil es sich um die größte trotzkistische Organisation in Berlin handelt (die auch die größte Präsenz beim Streik hatte) sondern vor allem auch deswegen, weil das SAV-Mitglied Carsten Becker ver.di-Betriebsgruppenvorsitzender und auch Streikleiter bei der Charité war. So hat ein Trotzkist höchstpersönlich für die „Aussetzung“ des Streiks plädiert, wofür er von nicht wenigen KollegInnen scharf kritisiert wurde.

Dass die SAV fünf Tage gebraucht hat, um irgendwie auf diese Entwicklung zu reagieren, macht deutlich, dass es innerhalb ihrer Organisation Unzufriedenheit darüber gab. Als Antwort auf die Einladung zu einer solidarischen Debatte, die ein führender SAV-Genosse in einem Beitrag zur Bilanz formulierte [2], möchten wir drei Aspekte der SAV-Politik beim Streik hervorheben, die wir kritisch sehen, um abschließend einige Gedanken über unsere Differenzen im Bezug auf Arbeitskämpfe zu formulieren.

1) Hoffnungen in die Linkspartei

Die SAV arbeitet in der Linkspartei, womit wir uns an anderer Stelle kritisch auseinandergesetzt haben [3]. Die Linkspartei ist eine unmittelbare Gegnerin in diesem Arbeitskampf, weshalb auch Menschen mit „DIE LINKE“-Fahnen mehrmals von Streikenden beschimpft wurden. Logischerweise trat die SAV also nur als SAV und nicht als Teil der Linkspartei auf. Aber in ihrem ersten Flugblatt schrieben sie, an die Streikenden gerichtet: „Der Zeitpunkt kurz vor den Abgeordnetenhauswahlen ist günstig, um weiteren Druck aufzubauen. Das gilt besonders für DIE LINKE, an deren Basis viele Mitglieder mit Euren Forderungen sympathisieren.“ [4] Dabei geben die SAV-GenossInnen zu, dass es unmöglich ist, die Linkspartei in ihrer Gesamtheit zu einem grundlegenden Kurswechsel zu bewegen. Das liegt daran, dass die Linkspartei eine reformistische, d.h. bürgerliche Partei unter Führung eines bürokratischen Apparats ist, dessen Ziel die Übernahme der Regierung und die Verwaltung des kapitalistischen Systems ist. Eine bürgerliche Partei kann nicht in eine revolutionäre verwandelt werden. Wir denken, dass die grundlegendste Aufgabe einer revolutionären Organisation darin besteht, „das laut zu sagen, was ist“ (Rosa Luxemburg). Das heißt in diesem Fall, nicht die Illusion zu füttern, dass die Linkspartei einlenken oder gar ihren Klassencharakter ändern würde.

2) Vertrauen in die Streikleitung

In anderen Arbeitskämpfen fordert die SAV die Bildung von demokratisch gewählten Streikkomitees [5]. In der Regel werden Arbeitskämpfe durch eine Gewerkschaftsbürokratie geführt, also eine privilegierte Kaste. Diese verdient deutlich mehr als die Gewerkschaftsmitglieder, die sie eigentlich vertreten sollte und hat deswegen auch eigene Interessen. Die Forderung nach Streikkomitees entspricht der trotzkistischen Methode [6], auf die sich die SAV genauso wie RIO beruft. Wir fordern, dass die Streikenden ihren Streik selbst kontrollieren, damit die ArbeiterInnen Erfahrung mit der selbstständigen Organisierung gewinnen und die Bürokratie nicht ohne Weiteres den Streik ausverkaufen kann. Das Ziel dabei ist es, durch diese Kampferfahrungen die fortschrittlichsten Sektoren der ArbeiterInnenklasse (die Avantgarde) um ein revolutionäres Programm zu sammeln. Leider war die SAV-Intervention beim Charité-Streik nicht darauf ausgerichtet. So hieß es lediglich in ihrem Flugblatt: Das Streikplenum „sollte nicht nur genutzt werden, um alle KollegInnen zu informieren und Transparenz über den Streikablauf herzustellen (was bisher schon sehr gut funktioniert), sondern auch dazu, dass sich KollegInnen einbringen in die Debatte, wie es weitergehen soll und ein wirklicher Austausch stattfindet.“ [7] Doch abgesehen davon, dass viele KollegInnen sich nicht gut informiert fühlten, ist „Austausch“ längst keine Entscheidungsfindung. Und sich von der bürokratischen Führung des Streiks mehr „Transparenz“ zu wünschen, stellt die Bürokratie an sich nicht in Frage. Vor der Möglichkeit eines Ausverkaufs durch die Gewerkschaftsbürokratie, wie wir ihn in unzähligen anderen Arbeitskämpfen leider erleben mussten (etwa beim BVG-Streik in Berlin im Jahr 2008, als die ver.di-Bürokratie bewies, dass sie Streiks gegen den Willen der großen Mehrheit ihrer Mitglieder abzubrechen bereit ist), haben die SAV-GenossInnen leider gar nicht gewarnt.

3) „Aussetzung“ des Streiks

Die „Aussetzung“ des Streiks am 6. Mai wurde, wie wir im anderen Artikel beschrieben haben, von vielen KollegInnen als eine „Verarschung“ durch die ver.di-Führung empfunden. SAV-GenossInnen bestreiten auch gar nicht, dass ver.di-BürokratInnen gezielt, und auch mit sehr unsauberen Methoden, für die Aussetzung des Streiks agitiert haben (durch Einschüchterungsversuche und falsche Behauptungen, z.B. dass es eine gesetzliche Friedenspflicht während der Verhandlungen gäbe). Leider fanden die SAV-GenossInnen diese Vorgänge in ihrer Bilanz überhaupt nicht erwähnenswert. Dass „unter den KollegInnen (…) eine Unsicherheit existierte“ ist absolut richtig [8]. Doch dabei müsste auch erwähnt werden, dass die Gewerkschaftsbürokratie diese Unsicherheit schürte und regelrecht Angst verbreitete. Dass viele KollegInnen durch die Erpressungsversuche der Geschäftsführung verängstigt wurden, ist logisch – aber dass die Gewerkschaftsführung sich diese Erpressungsversuche zu eigen gemacht hat, weniger. Bevor man den KollegInnen erzählte, dass eine Fortsetzung des Streiks auf jeden Fall die Medien gegen die Belegschaft aufbringen würden, hätte man zumindest die Frage diskutieren lassen müssen, wie man die Unterstützung von anderen ArbeiterInnen, Jugendlichen usw. trotz der bürgerlichen Presse gewinnen könnte. Auch die Feststellung der SAV, dass während des Streiks zu wenige Diskussionen unter den Streikenden stattfanden, ist unbestreitbar – aber das wirft nur die Frage auf, warum die Streikleitung nicht von Anfang an auf solche Diskussionen gedrängt hatte – oder durch wen diese verhindert wurden.

Schlussfolgerung

Die GenossInnen der SAV müssen sehr ernsthaft darüber nachdenken, was dazu geführt hat, dass ihre Organisation – bei allem Verständnis für die Unsicherheit von manchen KollegInnen – sich auf die Seite der GewerkschaftsbürokratInnen und damit gegen die entschlossensten und kämpferischsten KollegInnen stellte. Ein solcher Fehler fällt nicht vom Himmel. Wir sehen ihn vielmehr im Rahmen einer Strategie innerhalb der ArbeiterInnenbewegung, die wir insgesamt kritisch bewerten.

Wir sind der Meinung, dass jede revolutionär-sozialistische Organisation das strategische Ziel verfolgen muss, sich innerhalb der ArbeiterInnenbewegung zu verankern. (Unser Eindruck ist, dass sie SAV im Vergleich zu ihrer Größe relativ wenig Verankerung hat.) Dabei können Kandidaturen für Gewerkschafts- oder Betriebsratsposten eine sinnvolle Ergänzung zum Aufbau von revolutionären Basisgruppen sein. Aber:

Der Anpassungsdruck in solchen Posten darf nicht unterschätzt werden. Einerseits können die tagtägliche Kleinstarbeit, Papierkram und organisatorischer Aufwand soviel Platz einnehmen, dass die revolutionäre Politik schlicht verdrängt wird. Andererseits können die materiellen Vorteile wie Arbeitsplatzsicherheit, zusätzliche Vergütung und ähnliches auch dazu verleiten, sich lieber an die ‚Realpolitik‘ zu halten, um den Posten nicht zu verlieren. [9]

Dagegen sehen wir eine Strategie bei der SAV, die darauf abzielt, möglichst viele Betriebsrats- und Gewerkschaftsposten zu erobern, ohne die notwendige Vorarbeit – den Aufbau von revolutionären Basisgruppen in den Betrieben – geleistet zu haben. Ein/e Trotzkist/in im Betrieb kann als der/die nette, linke und kämpferische (aber eben nicht revolutionäre) Kolleg/in gewählt werden – er/sie kann jedoch von dieser Position aus kaum revolutionäre Politik betreiben. Unserer Meinung nach zeigt die Erfahrung, dass man keine revolutionäre Basisgruppe „von oben“ aufbauen kann. Auch wenn linke FunktionärInnen in ruhigen Phasen des Klassenkampfes sehr kämpferisch wirken, so wird ihre linke StellvertreterInnenpolitik in zugespitzten Situationen doch schnell von der Dynamik der Basis überholt.

Das ist auch kein persönlicher Vorwurf an TrotzkistInnen mit solchen Posten: Keine Einzelperson kann dem materiellen Druck der reformistischen Apparate – sowohl dem „ich habe soviel zu tun“, als auch dem „ich verdiene jetzt ein bisschen mehr“ – standhalten, wenn es nicht einen mindestens genauso starken Druck von einer revolutionären Basisgruppe und von einer revolutionären Organisation gibt, die ihre Arbeit aufs Genauste kontrolliert.

Das Ziel ist nicht die Übernahme der Gewerkschaftsapparate, sondern der Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung und einer revolutionären Fraktion in den Gewerkschaften, um die Gewerkschaftsbürokratie zu stürzen und die Gewerkschaften demokratisch und klassenkämpferisch zu gestalten. Das bedeutet eben auch, dass die Beziehungen zu den BürokratInnen – auch zu den „linken“ – in der Regel nicht besonders gut sind. Denn die Radikalisierungstendenzen bei Kämpfen zu fördern, führt immer zu Auseinandersetzungen mit der Bürokratie. Doch eine Politik im Interesse der ArbeiterInnenklasse kann letztendlich nur gegen die gesamte Gewerkschaftsbürokratie durchgesetzt werden.

Dieses Problem sehen wir in einem größeren Ausmaß bei anderen Sektionen ihrer internationalen Strömung: So hat zum Beispiel die Socialist Party in Großbritannien sogar die Mehrheit im Vorstand einer großen Gewerkschaft (PCS), ohne dass diese Gewerkschaft sich politisch großartig von anderen Gewerkschaften unterscheidet, die keine Mehrheit von RevolutionärInnen im Vorstand haben.

Streiks bieten Möglichkeiten, um die ArbeiterInnen an der Basis zu politisieren und gegenüber ihrer Bürokratie zu organisieren. Doch von der Intervention der SAV bleibt leider wenig bis nichts hängen: Sie sind nicht für die Bildung von demokratischen und klassenkämpferischen Basisstrukturen eingetreten. So wird man nun beim nächsten Kampf auch nicht auf solche Strukturen – nicht mal auf eine Erfahrung mit solchen Strukturen – zurückgreifen können.

Zusammenfassend sind wir der Meinung, dass die Mitglieder der SAV viel mehr über die Politik ihrer Organisation bei der Charité, ihre strategische Ausrichtung und die Gefahren von solchen Posten reflektieren müssen. Wir gehen davon aus, dass wir – trotz des momentan Aufschwungs der deutschen Wirtschaft – in der kommenden Periode wesentlich härtere Klassenauseinandersetzungen erleben werden. Um diese Kämpfe führen zu können, müssen wir aus jedem Kampf die politischen Lehren ziehen und mit diesen Lehren einen revolutionären Flügel in der ArbeiterInnenbewegung aufbauen. Wir glauben leider nicht, dass die Arbeit der SAV an der Charité einen wirklichen Schritt in diese Richtung darstellt.

Dass RevolutionärInnen auch ganz anders in Arbeitskämpfe intervenieren können – und damit auch die Kämpfe zu beeindruckenden Erfolgen führen können – zeigen in unseren Augen zwei kleine Beispiele: Zum Einen der Kampf bei Telepizza in Saragossa/Spanien [10], bei dem politisch motivierte Entlassungen zurückgeschlagen werden konnten. Und zum Anderen der Kampf bei Zanon in Neuquén/Argentinien [11], als Schließungspläne durch Besetzung und Produktion unter ArbeiterInnenkontrolle verhindert wurden. Beide Beispiele waren nur durch die Rolle von revolutionären Gruppen, die in der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale zusammengeschlossen sind, möglich.

Fußnoten

[1] Solidaritäts-Erklärung von Studierenden für die streiken­den KollegInnen der Charité.

[2] Siehe: SAV: Die Aussetzung des Charité-Streiks.

[3] Siehe zum Beispiel: Alex Lehmann: Wer wird „stärker aus der Krise herauskommen“?; oder: Wladek Flakin: Bericht vom Luxemburg-Lenin-Liebknecht-Weekend-2010.

[4] SAV: Flugblatt vom 29. April 2011 (nicht im Internet).

[5] Siehe zum Beispiel: SAV: Neue Entwicklungen beim Streik im öffentlichen Dienst.

[6] Siehe: Leo Trotzki: Das Übergangsprogramm.

[7] SAV: Flugblatt vom 5. Mai 2011 (nicht im Internet).

[8] SAV-Flugblatt vom 10. Mai 2011 (nicht im Internet).

[9] RIO: Thesen zu Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit.

[10] Wladek Flakin: Telepizza entlässt Arbeiter.

[11] RIO: Zanon gehört den ArbeiterInnen!

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