Die Bedeutung des „Corbyn-Effekts“ bei den Parlamentswahlen in Großbritannien

12.06.2017, Lesezeit 8 Min.
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Das Ergebnis der Neuwahlen in Großbritannien eröffnet ein unerwartetes politisches Szenario inmitten der beginnenden Brexit-Verhandlungen. Was steht hinter der selbstzugefügten Niederlage von Theresa May und dem Aufstieg von Jeremy Corbyn?

Die Ergebnisse der vorgezogenen Wahlen in Großbritannien gleichen einer Herausforderung an die formale Logik. Die Aussage, die Konservativen hätten die Wahlen gewonnen, ist genauso wahr wie die Aussage, dass ihre Kandidatin und aktuelle Premierministerin Theresa May ihre eigene Niederlage herbeigeführt hätte. Diese Katastrophe für May lässt sich nur mit der ihres konservativen Kollegen und Vorgängers im Präsidentenamt David Cameron vergleichen. Dieser hatte, ohne es zu wollen, vor einem Jahr den Brexit herbeigeführt.

Das gleiche, jedoch umgekehrt, lässt sich auch über den sozialdemokratischen Anführer Jeremy Corbyn sagen: Er verlor knapp die Wahlen, doch ging er als großer Sieger aus den Wahlen vom vergangenen 8. Juni hervor. Die Labour Party konnte 32 neue Sitze gewinnen, was selbst Tony Blair nicht schaffte, also er die Partei wieder an die Macht führte. Corbyn wird nicht der neue Premierminister, doch er bestätigte seine Führung, die immer wieder von der Parteirechten in Frage gestellt worden war. Diese hatte auf ein historisch schlechtes Ergebnis für Labour gesetzt, um sich den anstrengenden Chef vom Leibe zu schaffen.

Theresa May rief am 18. April zu vorgezogenen Neuwahlen auf. Ihre Partei hatte damals eine Parlamentsmehrheit von 20 Sitzen und es blieben noch drei Jahre bis zum Ende der Amtszeit. Doch die Chefin der Tories wollte ihre Legitimität stärken und eine größere Mehrheit erreichen, um den Prozess der Abtrennung von der EU mit harter Hand zu führen. „Hard brexit“ wird ihre geplantes Vorgehen auch bezeichnet.

Es schien wie der richtige Zeitpunkt. Die Umfragen waren gut. Ihnen zufolge führte May mit über 20 Punkten vor Corbyn. Doch ihr Glück hielt nur bis zur Vorstellung des Wahlprogramms an. Dieses enthielt die Grundzüge einer neuen Kürzungs- und Austeritätsregierung. Der Höhepunkt war die sogenannte „Demenz-Steuer“, ein ungeschickter Vorschlag, nach dem alle Rentner*innen mit Eigentum über 100.000 Pfund für Pflegeleistungen bezahlen müssten. May nahm den Vorschlag zurück, doch der Schaden war schon angerichtet.

Im Gegenzug dazu präsentierte Corbyn einen Regierungsplan mit stark sozialdemokratischem Einschlag, ganz nach dem Usus der Labour Party vergangener Jahre. Und diese Reformen – kostenlose Bildung, Verstaatlichung zentraler Industriezweige, Erhöhung des Mindestlohns, Ende der „Null-Stunden-Verträge“, Reichensteuer – konnten, auch wenn sie beschränkt sind, die Hoffnungen jüngerer Wähler*innenschichten erwecken. Sie sind das Rückgrat des „Corbyn-Phänomens“. Dabei handelt es sich um eine wichtige Gemeinsamkeit mit dem „Sanders-Phänomen“ am anderen Ende des Atlantiks.

Die brutalen Terroranschläge in Manchester und London dienten diesmal nicht dem Sicherheitsdiskurs der rassistischen, islamophoben und anti-migrantischen Rechten, die ihren Glücksmoment während der Brexit-Kampagne hatte. Im Gegenteil verstärkten sie den Anti-Kriegs-Diskurs von Corbyn, der sich deutlich gegen die britischen Militärinterventionen im Nahen Osten aussprach.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Rechte, wie es häufig passiert, die Situation nicht richtig verstand. Sie unterschätzte die Ablehnung der Sparpläne. Dazu kam das politische Phänomen innerhalb der Jugend, die mithilfe des Labour-Programms – genauer gesagt, des linken Flügels dieser reformistischen Partei – der Landespolitik ihren Stempel aufdrücken wollte. Nicht ohne Grund spricht die Presse von einem „Erdbeben der Jugend“.

Theresa May versucht aktuell, eine Minderheitsregierung mit Unterstützung der Democratic Unionist Party (DUP) zu bilden. Diese Partei der muffigen, reaktionären und protestantischen Rechten hat zum Hauptziel den Erhalt von Nordirland in Großbritannien. Doch auch wenn May mit einem Abkommen ausreichend Sitze erhielte, wäre es trotzdem eine schwache, instabile und höchst wahrscheinlich kurzlebige Regierung. Viele Konservative sprechen anonym davon, dass May weiterhin Premierministerin bleiben würde, aber kein klares Mandat für die Durchsetzung des Brexit mit seinen Konsequenzen besitzt.

Mit dem Brexit-Prozess im Hintergrund, der im März gestartet wurde, wächst die Ungewissheit. Es gibt verschiedene mögliche Szenarien, die von einem „soft brexit“ basierend auf weitgehenden Verhandlungen mit der EU bis zu einem Bruch ohne Verhandlungen mit Brüssel reichen. Selbst ein neues Referendum über den Verbleib von Großbritannien im europäischen Block ist nicht ausgeschlossen.

Auf der politischen Ebene hat die Wahl das Zweiparteiensystem wiederbelebt. Zusammen erhalten die beiden wichtigsten Parteien 84 Prozent. Davon entfallen 43 Prozent auf die Konservativen und 41 auf Labour.

Die Liberaldemokraten, die als Lib-Dems bekannte Zentrums-Partei, gewann zwar etwas dazu, jedoch verlor ihre wichtigste Persönlichkeit den Parlamentssitz. Allgemein gesprochen zahlen sie weiterhin den Preis für ihre Beteiligung an der Regierungskoalition unter dem Konservativen Cameron.

Die UKIP versank vollkommen. Die fremdenfeindliche und rassistische Partei der extremen Rechten, die durch das Brexit-Ergebnis Auftrieb erhielt, verlor elf Prozentpunkte im Vergleich zu 2015, als sie 13 Prozent erhielt. Die Wähler*innenschaft spaltete sich auf, ein großer Teil ging zurück zur traditionellen Rechten. Andere Sektoren ließen sich von den Umverteilungsmaßnahmen von Corbyn überzeugen.

Der andere große Verlierer waren die schottischen Nationalist*innen, die einen großen Teil der Wähler*innen an Labour verloren, weshalb sie ihren Vorschlag für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum zurückziehen mussten.

Doch die Tatsache, dass die beiden traditionellen Parteien Stimmen dazugewannen, bedeutet nicht sofort die Wiedergeburt der Zweiparteienherrschaft der 90er. Der berühmten Anekdote zufolge antwortete Margaret Thatcher auf einer Veranstaltung in Hampshire Ende 2002 auf die Frage, was der größte Erfolg in ihrem Leben gewesen sei, wie folgt: „Tony Blair und New Labour. Wir haben unsere Gegner dazu gezwungen, ihre Ideen zu verändern.“ Diese Zeiten sind vorbei.

Das neue politische Phänomen, welches bei den Wahlen vom 8. Juni sichtbar geworden ist, scheint das Ende des neoliberalen Konsens zu sein. Dieser beinhaltete seit Beginn der 90er die Abwechslung von konservativen und Labour-Regierungen.

Von Seiten der Rechten führte Margaret Thatcher nicht nur den Neoliberalismus ein, sondern führte Großbritannien auch an Europa heran – was der Politik von Theresa May widerspricht. Etwas ähnliches lässt sich mit den Republikanern und ihrem aktuellen US-Präsidenten Donald Trump beobachten.

Doch das Interessanteste ist der Prozess, der hinter der Übernahme der Parteiführung durch Jeremy Corbyn steckt. Umfragen nach den Wahlen zufolge, besiegte Corbyn die Konservativen mit einem Unterschied von 66 zu 18 Prozent bei den Jungwähler*innen zwischen 18 und 24. Zwei Drittel der Unter-35-jährigen wählten Labour. Diese Tendenz wurde auch schon bei den tausenden Jugendlichen sichtbar, die sich während der parteiinternen Vorwahlen für Corbyn in der Labour Party einschrieben, und denen, die sich im Momentum-Netzwerk organisierten. Momentum organisiert die Unterstützer*innen bei ihrer Kampagne für Corbyn, unabhängig von ihrer Mitgliedschaft bei Labour. Geographisch war er besonders stark in den urbanen Zentren, wo der Großteil der lohnabhängigen Bevölkerung, der prekären Jugendlichen und Migrant*innen lebt.

Das Erfreuliche ist nicht das gute Wahlergebnis reformistischer Parteien, ob sie traditionsreich sind wie die Labour Party oder jüngeren Ursprungs wie Syriza in Griechenland oder Podemos im Spanischen Staat. Diese Parteien oder erneuerten Führungen wollen nur die alte sozialdemokratische Strategie neu auflegen, die in der Verwaltung des kapitalistischen Staats besteht. Die Ergebnisse sind bekannt. Syriza übernahm die Regierung mit dem Versprechen einer „Anti-Austeritäts-Regierung“ und sechs Monate später kapitulierte Tsipras vor den Spardiktaten der Troika.

Das wirklich Erfreuliche für die revolutionäre Linke ist der Aufstieg eines neuen politischen Phänomens innerhalb der Jugend, welches die traditionellen Parteien von links kritisiert und heute noch Illusionen in den „radikalen“ Diskurs mit „sozialistischen“ Einflüssen von Corbyn oder Sanders hegt.

Diese Illusionen in reformistische Parteien (oder ihre „populistischen“ Varianten in Lateinamerika) noch zu verstärken, wie es ein nicht zu vernachlässigender Teil der internationalen Linken tut, bildet den Nährboden für neue Enttäuschungen. Unsere Aufgabe besteht darin, die Energie dieser Jugendlichen, Arbeiter*innen und Ausgebeuteten in eine große antikapitalistische Kraft zu verwandeln, die mit dem Ausbeutungssystem brechen kann.

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