SuE-Streik in Berlin: Wir stehen vor der größten Bildungskrise der Geschichte

19.11.2023, Lesezeit 6 Min.
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Foto: Baki von Klasse Gegen Klasse

Am 16. November versammelten sich in Berlin rund 3.000 Kolleg:innen aus dem Sozial- und Erziehungsdienst in Berlin, um im Rahmen der TV-L-Runde für mehr Lohn und damit einhergehend bessere Arbeitsbedingungen zu streiken.

Im Rahmen der Tarifrunde der Länder haben am 16. November die Gewerkschaften ver.di und GEW die nach dem Tarifvertrag der Länder (TV-L) angestellten Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst (vor allem Erzieher:innen und Sozialarbeiter:innen) zu einem gemeinsamen Warnstreik aufgerufen. Es versammelten sich, laut Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, rund 3.000 streikende Beschäftigte vor dem Abgeordnetenhaus in Berlin. Sie fordern eine Lohnerhöhung um 10,5 Prozent, mindestens aber um 500 Euro. Auch die Kolleg:innen von der Arbeiterwohlfahrt (AWO) waren von ver.di zum Streik aufgerufen worden. Diese haben bereits an mehreren Warnstreiktagen dafür gestreikt, genauso viel zu verdienen, wie die Kolleg:innen im TV-L. Sie fordern 13,5 Prozent mehr Lohn, mindestens aber 550 Euro.

Die Wut der Beschäftigten über prekäre Arbeitsbedingungen und das kaputtgesparte Sozial- und Erziehungssystem ist spürbar. Erzieher:innen, Sozialarbeiter:innen, Hochschulprofessor:innen und Eltern: Alle sind sich einig, ein politisches „weiter so“ ist untragbar. Auf der Streikkundgebung berichten zahlreiche Beschäftigte von ihrem kaum zu bewältigenden Arbeitsalltag. Während die Lebenshaltungskosten in den letzten Jahren konstant gestiegen sind, reichen die bisherigen Lohnerhöhungen nicht aus, um für einen Inflationsausgleich zu sorgen. Die Auswirkungen der Krisen lasten auf der Schultern der Arbeiter:innen. Deutschland steuere auf eine Bildungskrise zu, wie zwei Kolleginnen von der GEW betonten.

Eine Erzieherin aus einer landeseigenen Kita zeichnete ein drastisches Bild der aktuellen Lage: Burnout, Personalmangel, die Unmöglichkeit, die Aufsichtspflicht für die Kinder zu gewährleisten. Zudem würde das Gehalt kaum zum Leben reichen, viele müssten trotz Vollzeitjob Wohngeld beantragen. Für die Begleitung und Förderung der Auszubildenden sei in den Kitas kaum Zeit. Streiken können die Auszubildenden an Tagen, an denen sie Berufsschule haben nicht, da dies ihnen als Fehlzeiten angerechnet würde.

Dass befristete Verträge zu Unsicherheit bei den Angestellten und zur Personalfluktuation beitragen, klagte eine Kollegin von der AWO an. Viele Projekte und damit einhergehend auch Stellen würden nur von Jahr zu Jahr bewilligt. Sozialarbeiter:innen und Erzieher:innen sind die zwei Berufsgruppen mit dem höchsten Fachkräftemangel in Deutschland – dass der Berliner Senat nicht bereit ist, für eine ausreichende Finanzierung der Sozialen Arbeit und Bildung von Kindern zu sorgen, ist ein Skandal.

Ein Kollege aus dem Jugendamt erzählte von der Situation vor Ort, es fehle überall an Personal und sei unmöglich, den Kinderschutz zu gewährleisten. Eine Erzieherin an einer Grundschule klagte an, dass sie immer öfter Aufgaben übernehmen müsse, die eigentlich in den Bereich einer Lehrkraft fielen – jedoch sind auch viel zu wenige Lehrkräfte an den Schulen vorhanden. Dass sich besonders nach Corona die Situation in den Kitas verschlechtert habe, klagte eine Elternvertreterin einer Kita an. Die Anforderungen an den Beruf der Erzieher:in seien in den letzten Jahren immer mehr gestiegen, es sei fast unmöglich, hinterherzukommen. Kitas seien aktuell eher Aufbewahrungs- als Bildungseinrichtungen.

Als Ausdruck der Unzumutbarkeit der aktuellen Situation, sollte auf der Streikkundgebung eine symbolische Gefährdungsanzeige mit circa 4.000 Unterschriften von Beschäftigten, an die Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, Katharina Günther-Wünsch, von der CDU übergeben werden. Diese erschien jedoch nicht einmal persönlich zur Kundgebung. Die CDU scheint also nicht einmal vorgeben zu wollen, sich für die Arbeitssituation von Pädagog:innen zu interessieren. Die Gefährdungsanzeige musste dann unter empörten Rufen der Demonstrationsteilnehmer:innen von einem Polizisten entgegengenommen und ins Abgeordnetenhaus gebracht werden.

Auf der Kundgebung solidarisierten sich mehrere Politiker:innen aus dem Abgeordnetenhaus in Reden mit den Streikenden:  Franziska Brychcy von der Partei DIE LINKE, Marianne Burkert-Eulitz von den Grünen und Roman Simon von der CDU. Brychcy forderte beispielsweise mehr Lohn, mindestens aber einen Inflationsausgleich und einen Entlastungstarifvertrag. Burkert-Eulitz betonte die Notwendigkeit besserer Arbeitsbedingungen und den legitimen Anspruch auf frühkindliche Bildung. Auch Simon von der CDU stellte sich, zumindest verbal, hinter die Forderungen der GEW. Angesichts der unterstützenden Worte dieser Politiker:innen, könnte man meinen, sie alle seien nicht aktiv involviert mit den Entscheidungen und Sparmaßnahmen der Berliner Regierungsparteien der letzten Jahre gewesen. Diese sind es nämlich, die die prekäre Beschäftigungssituation der Arbeiter:innen im Erziehungs- und Sozialsektor zu verantworten haben. Anhand der leeren Versprechungen seitens der regierenden Parteien, wird ein mal mehr deutlich: Wir als Arbeiter:innen können uns nicht auf die Politik bürgerlicher Parteien verlassen, die das kapitalistische System mitverwalten.

Es war ein richtiger Schritt, dass ver.di und die GEW die Demo gemeinsam organisierten, und auch die Kolleg:innen der AWO zum Streik aufgerufen waren. Jedoch waren Lehrer:innen nicht aufgerufen, ebenso wie viele andere TV-L-Beschäftigte, zum Beispiel in der Verwaltung. Dass die Gewerkschaftsführungen sogar innerhalb ein und der selben Tarifverhandlung die Streiks künstlich kleinhalten, indem sie nicht alle TV-L-Beschäftigten an den gleichen Tagen aufrufen, schwächt die Kampfkraft der Streiks enorm.

Gerade in einer Zeit, in der Deutschland 2,1 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Rüstungsausgaben einsetzt, und damit zum ersten mal seit langem das Zwei Prozent-Ziel der NATO erfüllt, in einer Zeit in der im Sozialen massiv gekürzt wird und gesagt wird, es sei auf Grund der Migration kein Geld da, brauchen wir eine starke Streikbewegung.

Wir denken, dass wir nicht nur für mehr Lohn streiken sollten, sondern auch für politische Forderungen, wie einen Abschiebestopp und das volle Bleiberecht für Geflüchtete. Wir dürfen nicht zulassen, dass Geflüchtete und Arbeiter:innen im sozialen Bereich gegeneinander ausgespielt werden. Viele Pädagog:innen und viele Menschen die sie betreuen, haben selber Fluchterfahrung. Ebenso wollen wir für die entschädigungslose Enteignung großer Immobilienkonzerne streiken, damit alle Kolleg:innen und Familien in einem bezahlbaren und guten Wohnraum leben können. Zudem fordern wir 100 Milliarden für Bildung, Gesundheit und Soziales, statt für Aufrüstung!

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