„Deshalb kann eine feministische Bewegung nicht nur eine Bewegung aus Frauen sein. Sie muss eine Bewegung der Klasse sein“

05.12.2023, Lesezeit 10 Min.
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Demonstration zum Tag gegen Gewalt an Frauen und in München. Foto: Emma / KGK

Nach dem 25. November, Tag gegen Gewalt an Frauen und in der Geburtshilfe, erzählt Hebamme Leonie, Aktivistin bei Pan y Rosas/ Brot und Rosen, von ihrer Arbeit und dem Kampf gegen ein profitorientiertes Gesundheitssystem.

Leonie spricht mit unserer Genossin Gabi Muñoz aus Chile, auch organisiert bei Pan y Rosas als internationaler, feministischer Strömung und auch Teil der PTR, unserer Schwesterorganisation über die Frage, warum der Kampf gegen Gewalt ein Kampf gegen den Kapitalismus ist.

Gabi: Was denkst du als Hebamme über die aktuelle Lebensrealität und die Rechte von Frauen und queeren Menschen in Deutschland?

Leonie: Als Hebamme und Sozialistin arbeite und lebe ich sehr viel und sehr eng mit Frauen zusammen. Ich betreue Frauen und gebärende Personen, die Zugang zu den Rechten haben, die die Frauenbewegungen erkämpft haben und die relativ gute Lebensbedingungen haben. Das heißt aber nicht, dass sie ein gleichberechtigtes Leben haben. Frauen profitieren unterschiedlich von den erkämpften Rechten, sie gelten nicht für alle gleichermaßen. Gleichzeitig betreue ich auch viele Frauen mit sehr prekären Lebensbedingungen, die zwar offiziell auch diese rechtliche Gleichstellung haben, aber ihre materiellen Bedingungen und deswegen Lebensrealitäten sind weit davon entfernt. Das gilt besonders für migrantische Frauen, die sowohl sexistisch als auch rassistisch unterdrückt sind. Es gibt eine sehr große Diskrepanz zwischen den formellen “Rechten” für Frauen und queere Menschen und der Realität. Der Kapitalismus hat an sich, dass die Verbesserungen und Errungenschaften nicht für alle gleichermaßen zugänglich sind. Es gibt gesellschaftliche Fortschritte, wie zum Beispiel mehr Diskussion über sexuelle Vielfalt.

Aber ich finde die Frage ist, von wem kommt dieser Fortschritt und für wen ist er zugänglich? Ich denke, der Fortschritt, den es gibt, kommt nicht von der Regierung, sondern von jahrzehntelangen und internationalen Frauenbewegungen und Kämpfen der Arbeiter:innen. Ein gutes Beispiel ist die Streichung von Paragraf 219, die aber nur ein kleines und halbes Zugeständnis für diese langen Kämpfe für sichere Schwangerschaftsabbrüche ist, denn das bleibt mit Paragraf 218 weiterhin illegalisiert. Also wie sicher sind diese Reformen und Verbesserungen, also unsere Rechte, wenn sie teilweise nicht umgesetzt werden und uns jederzeit wieder weggenommen werden können? Und zweitens, für wen sind diese Verbesserungen? Sie sind eben, aufgrund der materiellen Bedingungen, meistens weniger zugänglich für die Arbeiter:innenklasse und vor allem für die migrantisch und prekären Teile der Klasse. Ich will sagen, Rechte im bürgerlichen System zu haben, bedeutet keine Gerechtigkeit.

Außerdem leben fast alle Frauen im kapitalistischen System unter großer Belastung, denn sie machen den größten Teil unbezahlter Reproduktionsarbeit. Die meisten Frauen arbeiten in einem Lohnarbeitsverhältnis und arbeiten dann zuhause unbezahlt weiter, zum Beispiel in der Betreuung von Kindern und älteren Menschen und der Hausarbeit. Zusätzlich dazu haben viele Kolleg:innen im Krankenhaus mehrere Arbeitsverhältnisse. Hebammen arbeiten zum Beispiel oft im Krankenhaus und in der Vor- und Nachsorge freiberuflich. Einige Kolleg:innen von der Pflege arbeiten neben der Arbeit im Krankenhaus auch noch in Nebenjobs in der ambulanten Pflege, um genug zu verdienen. Fast alle Kolleg:innen der Reinigung, die sehr schlechte Arbeitsbedingungen haben und outgesourct sind, haben neben der Arbeit im Krankenhaus noch einige anstrengende Nebenjobs, um ihr Leben einigermaßen zu finanzieren.

Was real passiert, ist, dass in sozialen und vor allem feminisierten Sektoren sehr viel Geld gekürzt wird. Zum Beispiel will die FDP das Elterngeld kürzen, in Berlin wird Geld für Schwangerschaftsberatungsstellen gekürzt und wegen dem Profitdruck im Gesundheitssystem gibt es eine Kreißsaalschließung nach der anderen. Diese Kürzungen treffen uns als Frauen massiv, denn viele Frauen arbeiten in diesen Sektoren und haben somit höhere Arbeitsbelastung und weniger Lohn und das in Zeiten von Inflation. Wir dürfen nicht vergessen, dass Kapitalismus und Patriarchat nur Hand in Hand funktionieren.

Es gilt als große Errungenschaft, dass auch Frauen Karriere machen können und Bosse sein können, aber was ist das für ein Feminismus? Keiner für alle, sondern für sehr, sehr wenige. Deswegen lässt sich das alles nicht diskursiv mit Reflektion über Männlichkeit ändern, weil es materielle Bedingungen und materielle Gewalt ist, die wir als Frauen erleben. In Deutschland gab es 103 Femizide im Jahr 2023. Gegen diese Realität müssen wir kämpfen, das denke ich mir jeden Tag als Hebamme.

Warum denkst du, ist die Situation von Kreißsaalschließungen bundesweit und auch von deinem Kreißsaal ein Angriff auf Frauen?

Dazu habe ich schon ein bisschen was gesagt. Ich denke, es zeigt sehr deutlich, wie real diese Verschlechterungen sind. Die Ampelregierung und auch die kommende Reform von Lauterbach bringt uns Kürzungspolitik und Zentralisierung. Zentralisierungspolitik ist meist ein Pseudonym für Schließungspolitik und das bringt schlechtere Basisversorgung von Patient:innen. Seit 2015 wurden in Deutschland 116 Kreißsäle geschlossen oder sind von einer Schließung bedroht. Keine wohnortnahe und gute Versorgung während der Geburt mehr, sondern eine bewusste Schließung von gut funktionierenden und frauenorientierten Abteilungen. Das ist skandalös, aber es passiert überall!

Für Menschen die gebären wollen, gibt es eine Verschlechterung wegen sehr vielen Kreißsaalschließungen und Hebammenmangel. Wenn wir nicht gebären wollen, gibt es auch keinen sicheren Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen. Das sind Angriffe auf sexuelle und reproduktive Rechte. Ich würde als Hebamme auch gerne Frauen beim Schwangerschaftsabbruch begleiten und beraten, denn sie sind Teil von Frauengesundheit. Das war auch historisch Teil von Hebammenarbeit, aber wurde mit der Dominanz der Kirche und der männlichen Medizin kriminalisiert.

Ich liebe meine Arbeit so sehr und habe aber täglich das Gefühl, nur die Löcher des kapitalistischen Gesundheitssystems zu stopfen. Täglich betreue ich Frauen im Kreißsaal in einer psychisch oder auch körperlich herausfordernden Situation in der Geburt und weiß genau, dass diese Situation viel besser sein könnte. Zum Beispiel, wenn diese Frau eine Hebammenbetreuung in der Schwangerschaft gehabt hätte und diese Themen da schon hätte bearbeiten können. Psychisch, zum Beispiel bestimmte Themen der eigenen psychischen Gesundheit, die in der Geburt herausfordernd werden könnten oder auch physisch, zum Beispiel mit einer echt angepassten Ernährungsberatung an das Leben dieser Frau bei Schwangerschaftsdiabetes. Das senkt auch alles die Kaiserschnittrate, nicht nur die Betreuungssituation vor Ort macht das. Auch die Gesundheit in der Schwangerschaft ist sehr relevant und auch das Recht auf diese Betreuung und Versorgung ist sehr unterschiedlich zugänglich. Es ist so, dass Familien und Frauen aus prekären und migrantischen Schichten sehr oft keine Hebamme für die Schwangerschaft und das Wochenbett haben und so schlechter versorgt sind. Geschätzt haben ungefähr 50 Prozent der Frauen, die ich betreue, eine Nachsorgehebamme.

Aber wie gesagt, es ist nicht nur eine Frage der Elternschaft. Es ist eine Frage von Frauengesundheit und Lebensbedingungen insgesamt. Kann eine Frau sich bewusst für einen Kinderwunsch entscheiden? Kann sie bewusst über ihre geschlechtliche Identität nachdenken? All diese Fragen kommen auch im Kreißsaal und in der Hebammenarbeit auf. Deswegen geht der Kampf für bessere Geburten und bessere Arbeitsbedingungen Hand in Hand mit dem feministischen Kampf.

Am 25. November war auch der Tag gegen gewalt in der Geburtshilfe. Was denkst du dazu und wie erlebst du das?

Ich finde es einen sehr wichtigen Tag, denn es gibt Gewalt in der Geburtshilfe und das ist auch Gewalt gegen Frauen. Es ist gut, dass das enttabuisiert wird und viele Frauen sich mit ihrer Wahrnehmung und Traumatisierung öffnen und das reale Problem sichtbar machen. Es gibt eine wichtige Kampagne, Roses Revolution. Frauen berichten an diesem Tag von ihren Geburten und können symbolisch eine Rose vor ihrem Kreißsaal ablegen. Offensichtlich, wenn so viele Frauen ihre Geburt als gewaltvoll wahrnehmen und so viele Hebammen in den letzten Jahrzehnten diesen Beruf verlassen haben, ist es ein kollektives Problem. Letztendlich ist es der Widerspruch des kapitalistischen Gesundheitssystems, das Profit generieren muss. Aber es gibt auch im Krankenhaus rassistische und sexistische Ideologien, die die Selbstbestimmung des Körpers den Entscheidungen des medizinischen Personals unterordnen. Das ist auch in der geburtshilflichen Versorgung so.

Im DRG – System ist eine normale Geburt sehr gering vergütet. Eine normale Geburt ist aber nicht nur eine schnelle und unkomplizierte Geburt. Eine nicht traumatische Geburt ist oft mit viel Hebammenarbeit verbunden. Eine enge Betreuung, eine gute Beobachtung der Geburt und ihrer Tendenzen, um im richtigen Moment die richtigen Dinge vorzuschlagen oder zu kommunizieren.

Gute Hebammenarbeit ist bei normalen und gesunden Geburten mit viel Präsenz und Beobachtung und wenig Intervention verbunden. Das ist in dieser profitorientieren Logik sehr widersprüchlich, weil die aufwendigste Hebammenarbeit in der geringsten Bezahlung mündet. Das führt zu Personalkürzungen und schlechteren Betreuungssituationen und auch deswegen zu mehr Interventionen und folglich mehr Kaiserschnittgeburten und mehr als gewaltvoll empfundenen Geburten. Das ist keine gute Hebammenarbeit mehr und deswegen verlassen viele Kolleginnen frustriert den Beruf. Weltweit fehlen laut Vereinten Nationen 900.000 Hebammen.

Es gibt auch viel rassistische gewalt in der Geburtshilfe. In den USA gibt es Studien dazu, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine schwarze Frau rund um die Geburt stirbt, dreimal so hoch ist wie bei einer weißen Frau. Ich denke, der Kampf gegen geschlechtsspezifische und auch rassistische Gewalt ist nicht getrennt.

Leider hat der Roses Revolution Day es nicht geschafft, das zu verbinden und eine gemeinsame Perspektive aufzumachen. Letztendlich können gegen Gewalt in der Geburtshilfe (und auch gegen Kreißsaalschließungen) nur alle Frauen und queeren Personen, also Hebammen und Gebärende, zusammen kämpfen. Es ist ein feministischer Kampf, weil dieses kapitalistische Gesundheitssystem uns als arbeitende Frauen und gebärende Personen angreift. Das ist nicht getrennt. Aber wir müssen mit allen Menschen gegen geschlechterspezifische Gewalt kämpfen. Wir müssen sehen, dass auch Hebammen Arbeiter:innen sind, die ausgebeutet sind und dagegen kämpfen müssen.

Wie können wir gegen Gewalt und Unterdrückung von Frauen und queeren Menschen und für sexuelle Vielfalt kämpfen?

Ich habe gerade schon viel dazu gesagt und auch dazu, was die Ursache des Problems ist. Ich denke, es kann keinen Kampf gegen die Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen geben, der kein Kampf gegen den Kapitalismus ist. Ich habe viel zur Kürzungspolitik gesagt, aber das ist nicht einseitig. Es gibt Ressourcen und es wird nicht überall gekürzt. Zum Beispiel nicht bei Aufrüstung und Militarisierung. Das muss man sich mal geben! Es gibt einen Angriff auf uns Arbeiter:innen in Deutschland mit dieser Kürzungspolitik und gleichzeitig gibt es mit diesem Geld und der Investition ins Militär einen massiven Angriff auf Frauen und Unterdrückte überall auf der Welt. Mit diesem Geld werden gerade Frauen und Kinder in Gaza ermordet. Diese Krisen und Kriege müssen immer wir als Arbeiter:innenklasse ausbaden. Das muss man klar machen, das ist ein internationales Problem und dagegen müssen wir international kämpfen. Am 25. November habe ich in meiner Rede auf der Demonstration gegen Gewalt an Frauen gesagt:

Als Hebamme und Sozialistin kämpfe ich auch gegen die Gewalt, die der Imperialismus international auslöst. In Gaza sind die Bedingungen der Gesundheitsversorgung durch den Krieg katastrophal: Kaiserschnitte und andere Operationen werden ohne Schmerzmittel durchgeführt, Frühchen können nicht angemessen oder überhaupt versorgt werden. Als Gesundheitsarbeiter:in denke ich, dass das Leben mehr Wert hat als Profit oder Krieg. Deswegen setzten wir uns ein, dass alle Menschen der Welt einen freien und gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsversorgung haben. Deswegen bin ich heute auch an der Seite des Palästina Komitees von der Uni auf der Straße

Als Feministin finde ich, dass wir gegen den Genozid in Gaza auf die Straße gehen müssen. Denn es kann keine Befreiung für Frauen geben, wenn sie nicht international ist.

Deswegen kann eine feministische Bewegung nicht nur eine Bewegung aus Frauen sein. Es muss eine Bewegung der Klasse sein, mit Student:innen, Unterdrückten und auch den männlichen Arbeitern. Deswegen bin ich bei Brot und Rosen und RIO organisiert, als Teil einer internationalen Strömung. Wir müssen zusammen als Frauen mit allen Arbeiter:innen und Unterdrückten für sichere Geburten und Schwangerschaftsabbrüche und für gute Arbeit und ein gutes Leben kämpfen. Um in München als Gesundheitsarbeiter:innen und Gewerkschafter:innen aktiv gegen die Zentralisierungspolitik im Gesundheitssystem zu werden, starten wir das Solikomitee neu. Wir treffen uns am 5. Dezember um 18:30 Uhr, kommt gern dazu.

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