Der trotzkistische Drag King aus Mexiko-Stadt

15.09.2017, Lesezeit 9 Min.
Übersetzung:
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Das Folgende ist ein Interview mit dem mexikanischen Drag King Nancy Cazares, auch bekannt als Gabriel. Nancy ist auch eine trotzkistische Aktivistin der Bewegung Sozialistischer Arbeiter*innen (MTS).

Wie bist du ein Drag King geworden?

Im September 2016 fing ich an zu Veranstaltungen zu gehen, die von der Ballroom-Community in Mexiko organisiert wurden (Die Ballroom Community beschreibt eine LGBTI*-Subkultur, wo Leute auf Veranstaltungen um Trophäen und Preise wetteifern). Ich fing an Vogue zu praktizieren und im Oktober wurde ich Teil einer Gemeinschaft von Künstler*innen und Tänzer*innen, die sich House of Drag nannten. Ich schuf einen Charakter, der auf einem androgynen Style basierte, der mich schon immer beeinflusst hat. Etwas, das in der Vergangenheit eine Ursache für Diskriminierung war, wurde nun nützlich für mich. Ich lernte es zu akzeptieren.

„Gabriel“, mein Charakter, kleidete sich zuerst im Stile der Roma und Sinti. Einige Wochen später bekam ich die Möglichkeit mich wie St. Juan Diego zu kleiden, dem indigenen Mann, der angeblich die Jungfrau von Guadalupe gesehen hat, auf einer Veranstaltung zum 12. Dezember (Dem Tag der Jungfrau von Guadalupe, einem der wichtigsten katholischen Feiertage in Mexiko). Beim Ansehen von anderen Drag Kings bemerkte ich, dass es genauso viele Stile wie Persönlichkeiten gab, die sich stetig wandelten. Ich wollte weiterhin experimentieren.

Üblicherweise wenn Leute an Drag denken, dann denken sie an Drag Queens, nicht an Drag Kings. Wie ist die Drag-Szene in Mexico City und wie fühlt es sich an ein Drag King zu sein?

In Mexico City ist die Drag Szene in den letzten Jahren gewachsen. Veranstaltungen wie die „Drag Race“ von Mexico City oder „I want to be your Drag Coach“ (Ich möchte dein Drag-Trainer sein) brachte vielen Drag Queens Sichtbarkeit. Es hat dazu geführt, dass sich viele Leute dafür interessieren, anfangen zu partizipieren, sich auszuprobieren und Veranstaltungen anzubieten.

Innerhalb dieses Booms sind die Drag Kings jedoch nicht sachgemäß repräsentiert. Es ist schwierig Frauen in der Drag-Szene zu finden, sei es als Drag Kings oder Faux-Queens (es gibt auch Trans-Männer, die Drag-Kings und Faux-Kings sind). Es ist einfach amerikanische oder europäische Drag-King Webseiten, Gruppen und Facebook-Seiten zu finden. In Mexiko gibt es nur wenige Sichtbare in der Szene. Kürzlich hat eine Faux-Queen (Eine Frau, die sich wie eine Drag-Queen kleidet) einen der größten Wettbewerbe gewonnen und ich hoffe wirklich, das öffnet es für andere Frauen, so dass sie anfangen an ähnlichen Events teilzunehmen.

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Wie ist es gleichzeitig eine Berufsrevolutionärin und ein Drag King zu sein?

Ich denke immer darüber nach, wenn ich mit meinen Drag-Schwestern ausgehe. Manchmal werden wir schikaniert und angebrüllt. Die Polizei schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe, wenn sie uns sehen. Ich denke darüber nach, wenn meine Trans-Freundinnen aus den U-Bahn-Wagen nur für Frauen geworfen werden oder wenn sie aus den Frauen-Toiletten verbannt werden.

Wenn wir spielen, dann müssen wir es in Parks tun oder bei jemandem zu Hause, weil es keine geeigneten Räume gibt. Wir haben auch keine Räume für unsere Veranstaltungen. Wir müssen durch einen langweiligen bürokratischen Prozess, der selten gut für uns aus geht.

Ich realisiere, dass wir die Welt verändern müssen, wenn ich bemerke, dass ich Angst habe auf die Straße zu gehen – nicht nur, weil ich eine Frau bin, im Mexiko der Frauen-Morde, sondern weil ich im Mexiko der Hassverbrechen lebe, von „korrigierenden“ Vergewaltigungen gegen Lesben, von Straflosigkeit für Morden an Transfrauen und von der Nationalen Front für Familie (eine ultra-rechte Organisation, die Anti-LGBTI*-Gesetze befürwortet). All diese Dinge überzeugen mich täglich mehr und mehr davon, dass wir alles ändern müssen.

Ich sehe auch Parteien wie MORENA auftauchen. Für viele im Land stellt MORENA eine Alternative zu den Parteien des gegenwärtigen Regimes dar. Aber dann habe ich gelesen, dass MORENA verspricht über Themen wie gleichgeschlechtliche Ehe und Abtreibung eine Volksabstimmung zu organisieren, als ob über Grundrechte abgestimmt werden sollte.

Es ist notwendig, die Welt zu verändern und wir brauchen eine Organisation der Arbeiter*innenklasse, die wirklich für unsere Interessen kämpft. Wir müssen es eigenständig ändern, mit dem Ziel das Problem bei der Wurzel zu fassen. Wir müssen die vielen Tausenden von Arbeiter*innen mit einbeziehen, die derzeit nicht von den regierenden Parteien vertreten werden.

Was bedeutet es für dich mit Geschlechterrollen zu spielen, in einem Land wie Mexiko, in dem es so viele Frauenmorde gibt?

Erstens, es zu wagen mit meinem Äußeren zu spielen, das dazu benutzt wurde, um mich zu unterdrücken, ist eine Befreiung. Es ermöglicht mir Zeit in den Ballrooms zu verbringen, wo Leute ermutigt werden mutig und originell zu sein. Als Frau habe ich nicht das Gefühl dass Drag meine Position ändern wird und auch nicht die meiner Genoss*innen, aber es gibt uns eine Stimme. In einer Welt, in der die Armen schon immer einen Nachteil haben, erfordert es eine Mischung aus Mut und rebellischer Haltung arm und eine Frau, schwul oder Trans zu sein.

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Es gibt eine postmoderne Bewegung, die glaubt, dass die Performance von Geschlechterrollen Geschlecht überwindet, als politischer Akt. Was für Schranken siehst du für diejenigen, die Widerstand anhand der Vorführung von Geschlechterrollen bemessen und mit Geschlechterrollen als politische Aussage spielen oder mit ihnen brechen?

Ich denke nicht, dass das Problem ist einen Ausdruck für seine politische Haltung zu finden oder Geschlecht generell in Frage zu stellen; das Problem ist, das zum Ziel zu machen, als Gegenstück zum Prozess. Was ich meine ist: für mich ist vollkommen klar, dass die Sichtbarkeit, die du als Künstler*in hast, verwendet werden kann, um eine Idee oder einen Standpunkt bekannter zu machen, aber ihre Wirkung liegt nicht darin, wie du dich fühlst oder wie die Leute dich in diesem Moment sehen, sondern in seinem größeren Ziel, dem es dient.

Ich war schon immer überrascht von Leuten, die die Schaffung einer „neutralen“ Sprache zur zentralen Debatte machen. Du musst einfach nur in Bars gehen, um den wirklichen Problemen zu begegnen, die uns Schmerzen bereiten: Armut, finanzielle Unsicherheit und Diskriminierung, die vom kapitalistischen System gefördert werden; Zugang zu guter Gesundheitsversorgung oder Bildung. Es ist wichtig unsere intimsten Bedürfnisse zu reflektieren, aber unser Ziel muss sein eine neue Gesellschaft zu erschaffen, auf eine kollektive Weise, mit unserer Klasse, genau wie es André Breton und Trotzki in ihrem Manifest für eine unabhängige Kunst gesagt hatten.

In den Vereinigten Staaten sehen wir mehr und mehr wie „Pink Washing“ Sexualität und die Vielfalt der Geschlechter akzeptabel macht – zumindest, so lange du über Geld verfügst. Was denkst du über die Kooptierung der LGBTI*-Community und der Drag-Szene? Wie würdest du, als Revolutionärin, dieses Thema ansprechen?

In Mexiko beschert die Kommodizfizierung (der Prozess, indem etwas zur Ware wird) des schwulen Stereotyps Unternehmen große Profite. Sie tauchen bei der Gay-Pride-Parade auf und verschenken Kostproben ihrer Produkte. Es ist leere Unterstützung, ohne ein Ziel, außer ein neues Klientel zu gewinnen, das ihre Profite steigen lässt.

Die Kommodifizierung der Schwulness geht einher mit einer größeren Achtsamkeit gegenüber der LGBTI*-Community durch Politiker*innen und den Institutionen, die historische Slogans in wirklichen politischen Raub umwandeln.

Der Regierungschef von Mexiko City (Miguel Ángel Mancera) hat von der uralten Praxis Gebrauch gemacht, im Wahlkampf Zugeständnisse zu machen, um Wahlkreise zu erkämpfen. Er hat den Juni zum „Diversitäts-Monat“ ernannt, was an unserem täglichen Leben nicht wirklich etwas ändert. Es gibt einen transphoben Bus, der von der Kirche finanziert wird, der die Straßen von Mexiko frei befährt, mit seinen Hassreden. Der Bus sagt: „Mädchen haben eine Vulva und Jungs einen Penis.“, eine explizit transphobe Botschaft, bezahlt durch die Katholische Kirche in Mexiko, Spanien, Chile. Nichts wurde unternommen. um die letzten Hassverbrechen zu adressieren.

Mancera, der Bürgermeister von Mexiko City, scheint auf den Wandel zu drängen. Aber durch Foren, Workshops und der schnelleren Bearbeitung der Dokumente für Trans-Menschen, hat versucht einen Sektor der LGBTI*-Community mit ihren Forderungen zum Schweigen zu bringen, die dieses Jahr gegen Frauenmorde auf die Straße gingen (deren Zahl zu Beginn dieses Jahres in den Himmel schoss) und die Rolle der Institutionen und des TERFism (eine Trans-feindliche Strömung im Feminismus) hinterfragten. Trans-Menschen bekommen immer noch die schrecklichsten Jobs und erfahren sehr viel Gewalt, was nicht durch einige Krümel der Regierung wieder gut gemacht wird.

Als Aktivistin in einer sozialistischen und revolutionären Organisation glaube ich, dass es notwendig ist, uns selbst zu organisieren und auf die Straße zu gehen, um zu kämpfen. Wir können nicht bloß auf die Gay Pride Parade gehen, die von den Kapitalist*innen bezahlt wird und ihren Firmen und Institutionen, die ihre Beschäftigten unterdrücken. Wir müssen politische Räume zurückholen, um unsere Rechte als Arbeiter*innen, sowie unser Recht frei über unsere Sexualität und unsere Fortpflanzungsorgane bestimmen zu können. Wir müssen nicht nur für unsere Rechte in diesem System kämpfen, sondern auch dafür kämpfen es zu überwinden.

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