Der Charakter unserer Presse

29.04.2023, Lesezeit 15 Min.
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1921 veröffentlichte die III. Internationale eine Mitteilung an die Redakteur:innen der kommunistischen Zeitungen. Wir teilen die Übersetzung dieses Textes.

In den vom Dritten Weltkongress der Kommunistischen Internationale (K.I.) verabschiedeten Resolutionen zu organisatorischen Fragen ist den Fragen unserer kommunistischen Zeitungen ein besonderes Kapitel gewidmet. Mit den folgenden Zeilen verpflichtet sich das Exekutivkomitee der K.I., die oben erwähnte Resolution zu ergänzen.

Die Presse spielt die wichtigste Rolle in unserer Agitation, besonders in den Ländern, in denen unsere Partei eine oder mehrere Tageszeitungen besitzt. Trotzdem sind unsere Organe noch weit davon entfernt, zufriedenstellend zu sein. Haben wir in Europa oder in Amerika eine neue Art von kommunistischer Zeitung geschaffen? Diese Frage muss mit Nein beantwortet werden. Die meisten unserer Zeitungen ähneln in ihrem äußeren Erscheinungsbild und in ihrem Management sehr stark den alten sozialdemokratischen Zeitungen, mit dem einzigen Unterschied, dass wir uns bemühen, einen anderen „Standpunkt“ zu vertreten. Das ist in der Tat sehr wenig. Wir müssen ein kommunistisches Organ neuen Typs schaffen, zu dem hauptsächlich die Arbeiter beitragen und das mit der Entwicklung der Arbeiterbewegung wächst.

Schauen wir uns unsere wichtigsten Tageszeitungen genau an: L’Humanite, L’International, Ordine Nuovo, Politiken, Rabotnitsheski, Westnik und sogar die Rote Fahne – enthalten sie viele von Arbeitern geschriebene Briefe? Sind sie wirklich Volkszeitungen im besten Sinne des Wortes? Spürt man in einer von ihnen den Pulsschlag des echten Arbeiterlebens?

In der vom Dritten Kongress der K.I. verabschiedeten Resolution über organisatorische Fragen wird die Zeitung unserer russischen Genossen, die Prawda, als das wahre Ideal einer echten proletarischen Zeitung bezeichnet, wie sie in den Jahren 1911-13 und in der Zeit zwischen den Revolutionen im Februar und Oktober 1917 herausgegeben wurde.

Was machte die Zeitung in diesen Zeiten so mächtig? In erster Linie trug dazu die Tatsache bei, dass nicht weniger als die Hälfte der Kolumnen für Briefe von Arbeitern beiderlei Geschlechts in Geschäften und Fabriken offen war. Es handelte sich also um einen besonderen Typus einer kommunistischen Zeitung. Die „Prawda“ übte Funktionen aus, die keine andere russische Zeitung zu erfüllen vermochte! Mindestens die Hälfte des Blattes unterschied sich sogar in seinem äußeren Erscheinungsbild grundlegend von der sozialdemokratischen und bürgerlichen Presse. Diese Hälfte wurde ausnahmslos von Arbeitern beiderlei Geschlechts, Soldaten, Matrosen, Köchen, Taxifahrern, Friseuren etc. etc. geschrieben.

Wovon handelten diese Briefe der gelernten und ungelernten Arbeiterinnen und Arbeiter? Sie beschrieben das müde Leben in der jeweiligen Fabrik, dem Laden und der Baracke, oder im jeweiligen Proletarierviertel. Alle Leiden und Missstände, die den Proletariern zu schaffen machen, wurden in einfachen Worten beschrieben.

Die Briefe deckten außerdem die Machenschaften der Fabrik-, Betriebs- und Staatsverwaltungen auf… Alles in allem vermittelten sie eine Vorstellung von der Not und dem Elend, das die Arbeitermassen zu ertragen hatten; sie spiegelten jenen unterdrückten und langsam wachsenden Protest wider, der später in der großen Revolution seine Stimme fand. Die Zeitung wurde zu einem Lehrer der Arbeiter, die aktiv an der Revolution teilnahmen. So wurde sie zum Freund in jeder Arbeiterbaracke, in jeder proletarischen Familie, in jedem von Arbeitern besuchten Gasthaus etc. etc. Wenn ein Brief aus irgendeiner Fabrik oder Baracke darin erschien, wurde in dieser Fabrik oder Baracke regelrecht um die Zeitung gekämpft. Die Arbeiter haben sich angewöhnt, diese Briefe zu lesen. Wenn ein Brief aus einer Fabrik in der Zeitung erschien, war das für die gesamte Fabrik ein Ereignis von höchster Bedeutung. Wenn der Brief eine Enthüllung enthielt, wurde er von Parteimitgliedern und Nicht-Parteimitgliedern gelesen. Die Zeitung wurde zu einem Warnsignal für alle, die die Arbeiter misshandelten.

Es wird jedoch gesagt, dass es im Westen schwierig oder fast unmöglich wäre, solche Briefe zu akzeptieren, da einige Genossen behaupten, dass solche Beschwerden an die Gewerkschaften gerichtet werden. So hat der deutsche Arbeiter zum Beispiel die Angewohnheit, alle Beschwerden an seinen Vertreter in der jeweiligen Gewerkschaft zu richten. Es stimmt, dass die Arbeiter im Westen eine Reihe von Angewohnheiten haben, ebenso sicher, dass sich viele Dinge als schwierig erweisen würden. Wir müssen aber all dies umgestalten und wiederholen, dass wir einen neuen Typus einer proletarischen Zeitung schaffen wollen. Eine kommunistische Tageszeitung darf auf keinen Fall der so genannten „hohen Politik“ Raum geben, sondern muss im Gegenteil drei Viertel ihrer Spalten dem Treiben der Arbeiter widmen, diesen täglichen Ereignissen, aus denen sich das Arbeiterleben besonders zusammensetzt. Dies sollte gerade deshalb geschehen, weil die Arbeiter die Gewohnheit haben, sich mit den oben erwähnten Beschwerden an die alten Gewerkschaften zu wenden, die bekanntlich zu einem großen Teil unter der Herrschaft der reformistischen Agenten des Kapitalismus stehen. Gerade deshalb müssen wir Kommunisten uns bemühen, Material dieser Art zu sammeln und in den Zeitungen zu veröffentlichen. Dies wird sich als eines der besten Mittel erweisen, um der Gewerkschaftsbürokratie den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Unsere Tageszeitungen müssen zu wahren Schulen des Kommunismus werden: Sie sollten nicht nur dem politischen Kampf der Arbeiter dienen, sondern auch dem wirtschaftlichen Kampf.

Unsere Zeitungen müssen mit den Zeitungen der Bourgeoisie und der anderen Parteien konkurrieren. Sie sollten erschöpfendes und informatives Material enthalten, das so gestaltet sein muss, dass es die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Auf der ersten Seite sollte eine Reihe von Absätzen stehen, die den Inhalt des Blattes zusammenfassen. Wir dürfen nie vergessen, was den durchschnittlichen Arbeiter an Zeitungen wie der Morgenpost in Berlin oder dem Le Journal in Paris anzieht. Wir müssen viel von Zeitungen wie dem „Daily Herald“ lernen, der sich bemüht, den Arbeitern und ihren Familien in allen Lebensphasen zu dienen. Damit wir mit den bürgerlichen und anderen Zeitungen erfolgreich konkurrieren können, müssen wir alles veröffentlichen, was uns betrifft, alles, was die bürgerliche Presse nicht veröffentlichen kann, wie z.B. Briefe von Arbeitern beiderlei Geschlechts in den Fabriken, von Soldaten etc. etc. 

Ein zweites Argument, das sehr oft zu hören ist, ist, dass der durchschnittliche Arbeiter im Westen nicht gewohnt ist, zu schreiben, und dass Angelegenheiten dieser Art an die Vertreter verwiesen werden. Dieses Argument kann leicht widerlegt werden. Die Arbeiter des Westens befinden sich auf einem viel höheren kulturellen Niveau als ihre russischen Brüder vor einigen Jahren.

Wenn es damals in Russland gelungen ist, die Arbeitermassen für Beiträge zu ihrer Zeitung zu gewinnen, wird der Versuch in anderen Ländern noch besser gelingen. Alles, was notwendig ist, ist, dass sich die Parteien auf diese Aufgabe einlassen und dass sie die große Bedeutung dieser Aufgabe klar erkennen.

Am Anfang wird es nicht leicht sein; die Briefe werden ungeschickt und unzusammenhängend geschrieben sein. Es wird notwendig sein, in jeder Zeitung eine besondere Abteilung einzurichten, wie damals in der „Prawda“. Die Aufgabe dieser Abteilung wird es sein, die Briefe der Arbeiter zu korrigieren. Am Anfang wird es notwendig sein, die Arbeiter zu ermutigen und zu unterstützen und sogar ihre Berichte aufzuschreiben. Viele der von den Arbeitern eingesandten Briefe werden umgeschrieben werden müssen – das macht aber nichts, denn die Arbeit ist die Mühe wert, die dafür aufgewendet wird.

Unsere heutigen Zeitungen sind viel zu trocken und erinnern zu sehr an die Zeitungen der alten Art. Ein Großteil ihres Inhalts ist nur für Berufspolitiker von Interesse und nicht für den durchschnittlichen Arbeiter, Landarbeiter, Koch und Soldaten. Ihre Sprache ist durchsetzt mit „gelehrten“ Wörtern; viele ihrer Artikel sind zu lang und zu trocken. Wir bemühen uns zu sehr, die „anständigen“ Zeitungen zu imitieren. All dies muss geändert werden.

Um die Dinge systematisch zu verbessern, ist es notwendig, dass in jedem großen Betrieb, in jedem Geschäft, in jeder Kohlengrube und in jeder Eisenbahnlinie eine Anzahl von Mitwirkenden gewonnen wird. Man muss diese verschiedenen Typen von Arbeitern sammeln und ihnen geduldig und systematisch beibringen, wie sie in ihren Zeitungen schreiben sollen; man muss sie regelmäßig dazu bringen, den Charakter der Zeitung zu studieren, und man muss ihnen aufmerksam zuhören, wenn sie praktische Vorschläge zu machen haben.

Wir müssen einen neuen kommunistischen Reporter schaffen. Wir müssen uns weniger dafür interessieren, was in den Lobbys des Parlaments passiert, und stattdessen unsere Aufmerksamkeit auf die Fabriken, Geschäfte, Arbeiterwohnungen und Schulen etc. richten. Berichte über das Geplapper im Parlament sollten vernachlässigt werden zugunsten von Berichten über Arbeiterversammlungen, die Bedürfnisse der Arbeiter, die Erhöhung der Lebensmittelpreise etc. etc.

Die „Prawda“ veröffentlichte viele Gedichte, die von Arbeitern geschrieben wurden. Diese Gedichte waren nicht das, was sie aus der Sicht der lizenzierten Kritiker hätten sein sollen, aber sie spiegelten die wahre Stimmung der Arbeitermassen besser wider als mancher lange Artikel. Der durchschnittliche Arbeiter ist sehr angetan von einem guten Ausdruck und von wohlverdientem beißendem Spott über den Feind. Eine gut gezeichnete Karikatur, die genau ins Schwarze trifft, ist mehr wert als ein Dutzend langweiliger sogenannter „marxistischer“ Artikel. Unsere Zeitungen müssen sorgfältig nach Leuten suchen, die fähig sind, der Revolution mit dem Bleistift zu dienen; sie müssen von Zeit zu Zeit Karikaturen veröffentlichen, die das Thema beleben und auf einfache Weise alles erklären, was erklärt werden muss. Von Zeit zu Zeit müssen Geschichten veröffentlicht werden, die sich mit den Arbeitern befassen, denn die Massen können am besten lesen und sind sehr angetan von phantasievoller Literatur. Sehr oft müssen wir anstelle des „Leitarikels“ einen wichtigen Brief eines Arbeiters oder einer Arbeitergruppe abdrucken oder das Bild eines verhafteten Arbeiters oder eines von bürgerlichen Richtern verurteilten Proletariers, der während seines Prozesses einen tapferen Widerstand geleistet hat, veröffentlichen etc. etc.

So wenig wie möglich Abschweifungen, so viel wie möglich Fakten – das ist es, was wir in der heutigen Zeit brauchen.

Jede Begebenheit in der Fabrik oder im Geschäft muss in den Spalten unserer Zeitungen ein Echo finden. Jede Liste mit den Ernennungen des Feindes muss bis ins kleinste Detail untersucht werden. Die Zeitungen müssen systematisch alle Phasen des Kampfes in den Fabriken beleuchten. Unser Kampf mit den politischen Feinden – angefangen bei der Bourgeoisie bis hin zu den „unabhängigen“ Sozialisten – muss lebendiger und temperamentvoller und weniger automatisch werden als bisher. Um es kurz zu machen: Wir dürfen nicht versuchen, die Gepflogenheiten, die „in den besten Familien“ herrschen, nachzuahmen, sondern müssen uns bemühen, neben erstklassigen Informationen, die notwendig sind, Material zu geben, das es den Parteimitgliedern und Nicht-Parteimitgliedern ermöglicht, die zentralen Organe unserer Parteien vollständig zu verstehen und zu mögen.

Die Veränderung des Charakters unserer Zeitungen in der skizzierten Weise wird es uns ermöglichen, ihre finanzielle Basis zu verändern und aus ihnen ein Bindeglied zwischen uns und den Massen zu machen. Wenn wir eine solche Zeitung schaffen, wird es uns gelingen, das zu erreichen, was die „Prawda“ in der Zeit des Zarismus erreicht hat: dass die Arbeiter durch kleine Sammlungen die notwendigen Mittel für die Herausgabe unserer Zeitungen erhalten. Wenn wir den Charakter unserer Zeitungen ändern, werden die Arbeiter daran interessiert sein, Mittel für ihre Zeitungen aufzubringen. Sympathisanten der verschiedenen kommunistischen Zeitungen werden wie Pilze aus dem Boden schießen. Die von diesen Freunden durchgeführten Spendensammlungen sollten von Zeit zu Zeit in unserer Presse veröffentlicht werden und werden als Mittel der Agitation dienen. Wenn wiederum in einer Fabrik eine Gruppe unserer Anführer verhaftet wurde, sollten die Arbeiter dieser und der benachbarten Fabriken im Namen der Familien der Verhafteten mit Spendensammlungen beginnen. Die Zeitungen sollten ordnungsgemäß über all dies berichten. Über jede Arbeiterversammlung und jede Demonstration sollte ein Bericht in den Zeitungen erscheinen, allerdings nicht in der üblichen Form, sondern in anschaulichen Bildern, die möglichst von den Teilnehmern selbst geschrieben werden sollten, und die in einfachen Worten über alle Ereignisse berichten. Unter einer solchen Leitung wird jedes Thema, jede Zeile dazu beitragen, den Hass auf den Kapitalismus zu verstärken und zu fördern.

Es bedarf kaum der Erwähnung, dass eine echte internationaler Nachrichtenagentur die wichtigste Rolle in den kommunistischen Tageszeitungen spielen wird, und sei es nur aus dem Grund, dass sie international sind. In Übereinstimmung mit dem Beschluss des III. Kongresses organisiert das Exekutivekomitee der Komintern eine neue Zeitschrift, die ab der dritten Septemberwoche in vier Sprachen in Berlin als kommunistisches Informationsblatt erscheinen wird. Wir werden uns bemühen, eine gut organisierten internationale Nachrichtenagentur einzurichten. Dies kann jedoch nur erreicht werden, wenn jede Partei dieser sehr wichtigen Organisation besondere Aufmerksamkeit schenkt und uns das notwendige Personal zur Verfügung stellt.

Eine gut organisierte und gut informierte kommunistische Tageszeitung, die für sich selbst immer neue Freunde gewinnt, eine Zeitung, die eine wahre Plattform der Arbeiter und die Alarmglocke des Proletariats ist, eine solche Zeitung wird eine mächtige Waffe in den Kämpfen der kommunistischen Parteien sein.

Nun, Genossen, setzt alle eure Kräfte für die Schaffung des neuen Typs einer solchen wahrhaft proletarischen Zeitung ein.

Mit kommunistischen Grüßen

Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale

(gez.) Sinowjew, Präsident.

P.S. Wir fordern alle Redakteure unserer Organe dringend auf, unverzüglich eine Konferenz ihrer Mitarbeiter einzuberufen und zu dieser Konferenz auch die Arbeiter der größeren Betriebe und Geschäfte einzuladen. Wir bitten darum, dass der Inhalt dieses Rundschreibens in dieser Konferenz diskutiert wird und das Exekutivkomitee über das Ergebnis informiert wird.

Wir bitten auch darum, dass das Thema auf den wichtigen Konferenzen der Städte und Bezirke diskutiert wird.

Um durch einen internationalen Meinungsaustausch praktische und wünschenswerte Änderungen herbeizuführen, sind wir bereit, die Spalten unseres Organs „Die Kommunistische Internationale“ für die zu diesem Zweck notwendige Diskussion zu öffnen.

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Das englische Original findet sich hier als PDF, ab Seite 10.

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