Corona-Maßnahmen in der Schweiz: Opportunismus im sozialistischen Lager

11.02.2022, Lesezeit 15 Min.
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Foto: Jaromir Chalabala www.shutterstock.com

Die sozialistische Bewegung in der Schweiz verurteilt die Maßnahmen der Regierung im Kampf gegen Corona. In ihrer Kritik teilt sie sich jedoch in zwei Lager: Während die einen die teilweise Zertifikatspflicht als Minimum bezeichnen, lehnen die anderen diese ab. Der Bundesrat wird voraussichtlich bald alle Maßnahmen aufheben, und damit die Unterschiede in der Politik verwischen. Doch für den gemeinsamen Kampf für ein sozialistisches Programm der Avantgarde müssen diese Unterschiede diskutiert werden.  

Das Programm als Antwort auf die Krise der verschiedenen sozialistischen Gruppierungen in der Schweiz ist recht ähnlich: Schließung aller nicht-essentiellen Betriebe bei voller Lohnfortzahlung, Ausbau der Kapazitäten im öffentlichen Verkehr, Erhöhung der Löhne bei gleichzeitiger Arbeitszeitverkürzung für das Gesundheitspersonal, Ausbau und Wiederverstaatlichung der Gesundheitsbetriebe, Verstaatlichung der Pharmaindustrie, Abschaffung des Patentschutzes, gratis Testungen und Schutzmaterial, eine Impfkampagne, die diesen Namen auch verdient, und mehr oder weniger freiwilliges Contact-Tracing – finanziert durch die Reichen und die Krisen-Profiteur:innen. Größere Differenzen in der sozialistischen Bewegung wurden erst bei der vergangenen Volksabstimmung zum sogenannten Covid-19-Gesetz und bei der Zertifikatspflicht offensichtlich.

Die Corona-Politik des Bundesrates

In der Schweiz beschloss der Bundesrat, neben gewissen Einreisebeschränkungen, Mitte März 2020 erste Maßnahmen gegen die Pandemie. Soziale und kulturelle Aktivitäten wurden eingeschränkt, und später bis auf Lebensmittelgeschäfte, Apotheken und Drogerien alle Läden geschlossen. Der Rest der Produktion wurde mit einem Appell zur Einhaltung von Hygienemaßnahmen fortgesetzt – bis heute. Bereits Ende April wurden diese Maßnahmen weitgehend schrittweise gelockert, oder komplett aufgehoben. Am 1. Juli 2020 folgte dann eine Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr. Bis dahin behauptete die Regierung noch, dass Hygienemasken keine wirksame Schutzmaßnahme seien. Mitte Oktober 2020 wurde die Maskenpflicht schließlich ausgeweitet. Ende Oktober werden dann Discos und Tanzlokale geschlossen, sportliche, kulturelle und soziale Aktivitäten beschränkt. Kurz vor Weihnachten dann ein erneuter Lockdown des privaten Lebens.

Anfangs 2021 wurde schließlich, ebenso schleppend wie chaotisch, mit dem Impfen begonnen. Es kam zu ersten, kleinen Protesten gegen die Corona-Maßnahmen.  Mitte Januar wurden erneut alle Läden des nicht-täglichen Bedarfs geschlossen und soweit möglich die Home-Office-Pflicht eingeführt. Erst gegen Ende des Monats begannen die Massentestungen. Anfang März 2021 wurde der zweite und letzte Lockdown, der vor allem soziale Bereiche betraf, beendet. Am 13. September 2021 führte die Regierung dann erstmals die 2G-Zertifikatspflicht für Innenräume von Restaurants und gewisse Kultur- und Freizeiteinrichtungen ein. Unternehmen und Hochschulbetriebe konnten nun 3G einführen und taten dies teilweise auch. Im Oktober machte der Bundesrat einen Großteil der Testungen kostenpflichtig, ruderte aber nach Kritik von links bis rechts rasch zurück. In dieser Zeit kam es zu einer Zunahme von Demonstrationen, an denen sich sich bis auf wenige Ausnahmen, einige hundert und nie mehr als ein paar tausend Maßnahmegegner:innen, beteiligten. Mitte Oktober 2021 fand auf dem Bundesplatz in Bern die größte Demonstration dieser Art statt. Je nach Schätzung beteiligten sich rund 10’000 Personen. Im Dezember folgte die Ausweitung der Zertifikatspflicht auf alle Innenräume von Kultur-, Freizeit- und Sporteinrichtungen.

Letzten Monat wurden die Quarantäne- und Isolationszeiten reduziert, und Anfang diesen Monats fiel die Kontaktquarantäne und die Home-Office-Pflicht vollständig. Sollte bis zum 17. Februar der Höhepunkt der Omikron-Welle erreicht werden, wurde die Aufhebung aller Maßnahmen angekündigt. Die bisherige Pandemie-Politik der Regierung lässt sich auf zwei, im internationalen Vergleich kurze Abriegelungen des sozialen Lebens, sowie eine beschränkte Masken- und Zertifikatspflicht zusammenfassen. Das Resultat ist eine der höchsten Infektionsraten Europas.

Zweiteilung des sozialistischen Lagers

Die sozialistischen Organisationen der Schweiz lehnen die Profit-statt-Gesundheit-Politik der Regierung und des Parlamentes ausnahmslos ab. Außen vor steht die JUSO. Sie ist die Jugendorganisation der Sozialdemokratischen Partei (SP), die wiederum seit 1943 bzw. 1959 Teil der bürgerlichen Regierung ist, und deren Gesundheitsminister aktuell für die Corona-Politik verantwortlich zeichnet Auch die JUSO teilt das sozialistische Programm in seinen Grundzügen, zumindest in Worten, und kritisiert den Bundesrat. Doch sie fordert auch jetzt nicht den Gang in die Opposition und verpasst so den Anschluss an die restliche sozialistische Bewegung. Bei der Abstimmung im November letzten Jahres zum Covid-19-Gesetz rief sie dazu auf, für die Corona-Maßnahmen zu stimmen. Bei dem Bundesgesetz ging es darum, die gesetzlichen Grundlagen für Verordnungen des Bundesrates bei seinen wenigen Bemühungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie zu erlassen. Insbesondere handelte es sich dabei um die Finanzierung von Härtefallmaßnahmen für Unternehmen, die verlängerte Auszahlung der Arbeitslosengelder, die verlängerte Entschädigung der Kurzarbeit und eine rechtliche Grundlage für das Covid-Zertifikat. Bei der Abstimmung war eigentlich nur letzteres umstritten. Rechte Kreise ergriffen dagegen das Referendum. Die JUSO unterstützte in der Debatte die von der Regierung eingeführten G-Regeln und das damit verbundene Zertifikat. Auch wenn diese Maßnahme zu spät ergriffen worden sei, zu inkonsequent umgesetzt würde und für sich allein ungenügend sei. Die JUSO bezeichnet die Gegener:innen solch minimaler Schutzmaßnahmen als «brandgefährliche Gruppe» und als «Schwurbler*innen». Die Jungsozialist:innen richten ihre Agitation damit mehr gegen die Maßnahmen-Gegner:innen als gegen die Regierung.

Bei der oppositionellen sozialistischen Bewegung stehen auf der einen Seite die Bewegung für den Sozialismus (BfS/MPS), solidaritéS, die Partei der Arbeit (PdA/PST-POP) und der revolutionäre Aufbau. Sie gehen in ihrer kritischen Unterstützung der Schutzmaßnahmen unterschiedlich weit. Für die BfS/MPS hat nach Christian Zeller die Regierung vor «reaktionären Kreisen» gekuscht, und die Gewerkschaften hätten diesen Kurs letztlich unterstützt und damit eigentlich das Recht verloren, sich noch als solche zu bezeichnen. Sie weitet ihre Kritik dabei auch auf das linke Lager aus, und greift die teilweise vorhandene Skepsis gegenüber Impfungen oder Schutzmaßnahmen, wie der Zertifikatspflicht, an. Diese Kritik beschränkt sich dabei namentlich aber vor allem auf Deutschland. Beinahe identisch klingt es bei der Westschweizer Gruppierung solidaritéS, die auch gemeinsam mit der BfS eine Erklärung zur Corona-Krise veröffentlichte. Die PdA/PST-POP hält eine Zertifikatspflicht und Gratis-Tests für sinnvoll. Die kommunistische Partei warnt aber vor der Illusion eines vollständigen Schutzes durch eine Impfung oder das Zertifikat. Sie wirft der Regierung vor, mit ihrer beschränkten Strategie «eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Kauf» zu nehmen. Der revolutionäre Aufbau weist bei der Unterstützung der wenigen Corona-Schutzmaßnahmen darauf hin, dass der repressive Staat gestärkt wird. Für den Kampf gegen die Corona-Krise müsse die sozialistische Bewegung letztlich den Klassenkampf vorantreiben. Maßnahmen-Skeptiker:innen seien nicht pauschal abzutun, und sie seien auch nicht mit einer verfehlten Staats- oder Wissenschaftsgläubigkeit zu überzeugen. Die vorhandenen Gemeinsamkeiten in der Systemkritik müssten aufgenommen und hin zu einer klassenkämpferischen Agitation entwickelt werden: «Wir sollten […] nicht in elitäre und bildungsbürgerliche Argumentationen abschweifen, sondern auf den Punkten aufbauen, die wir teilen und nicht auf jenen, die uns spalten.» Dieser Teil des Lagers appelliert dafür, den Staat, die Regierungsparteien, die Unternehmensverbände aber auch die Gewerkschaftsführungen für die gescheiterte Corona-Politik verantwortlich zu machen, ohne dabei die wenigen Schutzmaßnahmen zurückzuweisen oder staatliche Repression zu befürworten.

Auf der anderen Seite stehen die Partito Comunista, der Funke und die Organisation Socialiste Travailleurs (OST). Sie befürchten eine Spaltung der Arbeiter:innenklasse durch die Covid-Maßnahmen. Im Zentrum steht dabei die Zertifikatspflicht. Die Partito Comunista, eine Abspaltung der PdA/PST-POP im Tessin, rief als einzige sozialistische Organisation offen zu einem Boykott bei der Volksabstimmung zum Covid-Gesetz auf. Als einen der Hauptgründe hierfür gibt sie die Verbindung des Gesetzes mit der Zertifikatspflicht an. Das Zertifikat sei nicht nur aus demokratischer und verfassungsrechtlicher Sicht problematisch, sondern spalte die Arbeitenden und lenke sie vom Klassenkampf ab. Es sei letztlich zum «Nutzen derjenigen, die schon immer von dieser Dynamik profitiert haben: dem Großkapital!» [eigene Übersetzung]. Auch die Organisation der Funke hält die Zertifikatspflicht letztlich für ein Ablenkungs-, Repressions- und Spaltungsinstrument der Herrschenden und schließt daraus: «Gegen die Zertifikatspflicht und für einen konsequenten Kampf gegen die Pandemie». Insbesondere wehrt er sich gegen deren «asoziale und spalterische» Einführung an den Universitäten. Zur vergangenen Abstimmung enthielt der Funke sich der Parole, stellte aber fest, dass es dabei um «die Frage nach dem Covid-Zertifikat» ging. Folgt man der vorangegangen Argumentation, konnte dies nur als indirekter Aufruf verstanden werden, das Gesetz an der Urne abzulehnen. Übertroffen werden beide Gruppen von der OST. Sie ist nicht nur gegen die Zertifikatspflicht, sondern rief auch zu einem Nein an der Urne auf, und sieht sich damit als «Teil des Kampfes des Volkes gegen den Covid-Pass und gegen die unsoziale und rückschrittliche Politik des Bundesrates» [eigene Übersetzung]. Diese Seite des sozialistischen Lagers weitet ihre Opposition und ihren Widerstand auf die Zertifikatspflicht aus und lehnt sie prinzipiell ab. Das Covid-Zertfikat hat die sozialistische Bewegung gespalten.

Klasse, Avantgarde und Zertifikat

Eine Minderheit des sozialistischen Lagers erklärt den Widerstand gegen die Zertifikatspflicht in der Schweiz zum Ausdruck eines progressiven Widerstandes gegen das System. Die Skepsis gegenüber den Maßnahmen sei auch in der Schweiz weitverbreitet, und beschränke sich nicht nur auf kleinbürgerliche oder reaktionäre Elemente. Sie verweisen dabei besonders auf die Ablehnung des Zertifikats unter Jugendlichen oder der Impfung durch Pflegende. Damit sei der Widerstand gegen diese Corona-Maßnahmen Teil eines zunehmenden Klassenbewusstseins und müsse unterstützt werden – ansonsten käme es zur Spaltung der Klasse. Interessant ist dabei, dass diese Minderheit im sozialistischen Lager sich jener Identitätspolitik bedient, die sie sonst bekämpft: Jede Forderung jedes und jeder einzelnen Pfleger:in wird zum Programm der Klasse – alleine, weil die fordernde Person in der Pflege arbeitet. Dabei folgen sie der Berichterstattung der bürgerlichen Medien, welche die Impfskepsis unter Pflegenden als besonders hoch darstellt. Doch diese Darstellung einer vermeintlich hohen Ablehnung der Impfung unter den Pfleger:innen ist verzerrt . Der Pflegesektor wurde als erster geimpft und damit zur Arena der gesellschaftlichen Impfdebatte. Andere Sektoren konnten zu diesem Zeitpunkt nur ihre hypothetische Impfbereitschaft erklären. Eine Vergleichbarkeit ist damit unmöglich. Dieser Sektor erhielt durch seine zentrale Stellung eine überhöhte Aufmerksamkeit. Gerade die Bürgerlichen haben das gesehen, was sie sehen wollten: Die Pflegenden seien nicht Opfer der Covid-Politik, sondern sie sind durch ihre Ablehnung der Impfung selbst für die Verbreitung des Virus, und damit ihre Arbeitslast und sogar den Tod ihrer Patient:innen verantwortlich. National vergleichbare und verlässliche Daten zu einzelnen Arbeitsgruppen wurden nie erhoben. Die Schlagzeilen beziehen sich jeweils auf Umfragen einzelner Institutionen. Und hier finden sich unter- wie überdurchschnittliche Werte. Wenn nun sozialistische Organisationen die Impfskepsis einiger Pflegenden in den Mittelpunkt ihrer Argumentation stellen, bekräftigen sie ungewollt auch die zynische wie menschenverachtende Darstellung der Pflege durch die Bürgerlichen. Bei den Pflegenden wie beim Rest der Bevölkerung nimmt die Impfbereitschaft – trotz der miserablen Impfkampagne der Regierung – kontinuierlich zu. In vielen Gesundheitsbetrieben ist sie weit über dem Durchschnitt. Wer nun behauptet, dies sei nur wegen des Druckes der Regierung, der Gesellschaft, der Angehörigen oder der Betriebsleitung der Fall, spricht den Pfleger:innen die Fähigkeit zur einer eigenständigen Entscheidungsfindung ab. Schliesslich unterteilen sich auch die Pfleger:innen, wie jeder andere Sektor auch, in eine Klasse «an sich» und eine Klasse «für sich». Die Minderheit der sozialistischen Bewegung scheint eine differenzierte Betrachtung der Klasse angesichts der ersten Mobilisierungen gegen die Regierung aufgegeben zu haben.

Dabei ist die Unterscheidung zwischen Objektivität und Subjektivität der Klasse im revolutionären Kampf wichtig. Ansonsten werden die Forderungen der unbewusstesten Schichten der Arbeitenden zum Programm der Klasse und ihrer Partei. Wenn hingegen die organisierten Schichten unter den Pfleger:innen betrachtet werden, findet sich kaum Ablehnung der Corona-Maßnahmen, geschweige denn der Impfung. Ob in den Gewerkschaftsgruppen, oder kämpferischen Vereinigungen von Pfleger:innen wie Pflegedurchbruch, Gesundheit vor Profit oder Care Work Unite!: nirgends gab es Protest gegen das Covid-Gesetz oder die Zertifikatspflicht. Die Forderungen der Partito Comunista, des Funke und der OST entsprechen damit nicht jenen der organisierten Avantgarde der Pflege. Auch in den organisierten Ausdrücken der Avantgarde der Jugend oder der Frauen, wie dem Klimastreik und den feministischen Streikkollektiven findet sich natürlich Kritik, aber keine Ablehnung der minimalen Schutzmaßnahmen. Hierbei handelt es sich selbstverständlicherweise nur um die Avantgarde der organisierten Teile der Klasse. Aber ihre Zahl und ihr Bewusstsein nimmt zu – und genau diesen Prozess sollte die sozialistische Bewegung unterstützen, indem sie die Forderungen dieser klassenbewusstesten Arbeiter:innen, Jugendlichen und Frauen aufnimmt. Der Kampf gegen die Zertifikatspflicht steht nicht im Programm der Avantgarde in der Schweiz.

Gegen Opportunismus und für das Programm der Avantgarde

Im Zusammenhang mit der Zertifikatspflicht wurde auch die Forderung «Arbeiterkontrolle gegen Zertifikats-Spaltung» aufgestellt. Das ist interessant, könnte doch gerade die Kontrolle der Arbeiter:innen die Stellung der sozialistischen Organisationen zu dieser Frage klären. Dass in einer Institution unter Kontrolle der Pflegenden, diese Kolleg:innen arbeiten lassen würden, die entweder keine Kontraindikationen für eine Impfung nachweisen oder nicht vorweisen können oder wollen, ob sie geimpft, genesen oder getestet sind, erscheint ziemlich unrealistisch. Die gerade heute in vielen Spitälern wegen des Personalmangels ungenügend umgesetzte Zertifikatspflicht würde unter Kontrolle der Pfleger:innen konsequent durchgesetzt werden. Die Zertifikatskontrolle wäre natürlich nicht die zentrale, aber definitiv eine der vielen Maßnahmen, welche die Klasse im Kampf gegen die Pandemie anwenden würde. Diese Avantgarde wird es sein, welche diese Kämpfe anführen wird. Das sollte auch die sozialistische Minderheit anerkennen.

Die große Mehrheit der Arbeiter:innen hat ein Interesse am Schutz ihrer Gesundheit und unterstützt alle dahingehenden Maßnahmen. Der größere Teil des sozialistischen Lagers demonstriert entsprechend, dass kein Widerspruch darin besteht, die minimalen, für sich genommen völig unzureichenden aktuellen Schutz-Maßnahmen nicht abzulehnen , und zugleich die repressiven Corona-Maßnahmen des Bundesrates insgesamt zu verurteilen. Ihre sozialistische Agitation richtet sich nicht gegen diese oder jene Maßnahme, sondern gegen das profitorientierte und menschenverachtende Programm der Regierung als Ganzes. Diese Form der Agitation ist auch bei den sozialistischen Gruppierungen der Minderheit weit fortgeschritten, und sie wird ihre Wirkung durch geduldige Arbeit einerseits und die unmenschlichen Wirkungen der Bundesratspolitik andererseits entfalten. Sie müssten dafür aber der Versuchung einer Abkürzung dieses Prozesses durch die Unterstützung der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen widerstehen. Ein solcher Versuch wird an seinen inneren Widersprüchen zerbrechen. Die weniger bewussten Teile der Klasse werden damit nicht vom Klassenkampf überzeugt, die bereits reaktionären Elemente nicht zurückgewonnen, und die bewusstesten Teile der Klasse werden entfremdet. Nicht jede Opposition gegen die Regierung verdient Unterstützung, und wenn heute Maßnahmen abgelehnt werden und morgen ihre Aufhebung kritisiert wird, dann ist das Opportunismus. Der Bundesrat wird die Zertifikatspflicht jedenfalls bald wieder teilweise oder vollständig aufheben. Die kämpferischen Pfleger:innen in der Schweiz werden gegen die Aufhebung der letzten Schutzmaßnahmen genauso protestieren, wie gegen den Rest der unmenschlichen, profitorientierten Regierungspolitik.  Unterstützen wir sie mit unserem Programm.

Die Abschaffung der Zertifikatspflicht wird nur eine der offensichtlichsten Trennlinien im sozialistischen Lager verwischen. Für den Fortschritt des Sozialismus in diesem Land wäre es wichtig, dass es zu einer vermehrten Auseinandersetzung unter den verschiedenen Strömungen kommt. Nicht mit dem Zwecke der Einheit des sozialistischen Lagers, sondern zur Mehrheitsbildung in der sozialistischen Bewegung und schließlich der Klasse selbst. Denn wenn man die Spaltung der Klasse tatsächlich bekämpfen will, dass müssen die opportunistischen Tendenzen im sozialistischen Lager bekämpft werden. Die BfS/MPS, solidaritéS, die PdA/PST-POP, der revolutionäre Aufbau oder auch die JUSO sollten diese offen kritisieren. Stattdessen fokussieren sie auf die Maßnahmen-Gegner:innen außerhalb der eigenen Reihen oder der Schweiz. Für die Gewinnung der Avantgarde der Klasse ist die Auseinandersetzung innerhalb der sozialistischen Bewegung aber unumgänglich. Der Opportunismus nach rechts und das Sektierertum nach links schadet der Bewegung. Die Sozialist:innen sollten gemeinsam beraten, wie sie den Kampf und die Selbstorganisierung der Avantgarde der Klasse in den Gesundheitsbetrieben, den Einkaufsläden oder den Lieferdiensten unterstützen können.

 

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