Chile: Was steht hinter der Niederlage der Boric-Regierung und dem Triumph der extremen Rechten?

10.05.2023, Lesezeit 10 Min.
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José Kast im Präsidentschaftswahlkampf 2021. Quelle: Wikimedia Commons.

Die Wahlergebnisse zum Verfassungsrat am Sonntag in Chile fügten der Regierung eine herbe Niederlage zu. Der Prozess war von antidemokratischen und massenfeindlichen Maßnahmen geprägt, die Teil des kontinuierlichen Rechtsruckes der Regierung von Gabriel Boric sind.

José Antonio Kast, Vorsitzender der rechtsextremen Republikanischen Partei, hat die Wahlen zum Verfassungsgebenden Rat am Sonntag in Chile überraschend deutlich gewonnen. Dieser „Verfassungsrat“ wird nun für die Ausarbeitung der nächsten Verfassung zuständig sein. Verlierer der Wahlen ist die Liste der Regierung von Präsident Gabriel Boric und das traditionelle Mitte-Links-Bündnis der Concertación. Die Apathie und die Wut über einen manipulierten verfassungsgebenden Prozess, der von oben herab zwischen den Kräften des politischen Regimes ausgehandelt wurde, spiegelte sich klar in einer enormen Anzahl ungültiger Stimmen wider: 17 Prozent oder mehr als zwei Millionen Stimmen (und eine weitere halbe Million leere Stimmen, was sich auf mehr als 21 Prozent summiert). Diese Zahlen machen deutlich, dass eine breite Unzufriedenheit mit diesem antidemokratischen und massenfeindlichen Verfassungsprozess vorherrscht, der den Interessen der Arbeiter:innenklasse und der Massen fremd ist.

Triumph der pinochetistischen Republikanischen Partei

Eindeutiger Gewinner des Tages war die extreme Rechte von José Antonio Kast, dessen Vorbild der Diktator Augusto Pinochet ist. Seine Republikanische Partei erhielt 35 Prozent der Stimmen und wird damit 22 der 51 Sitze im Verfassungsrat einnehmen, was 42 Prozent aller Sitze entspricht. Dies geschah auf Kosten der deutlichen Schwächung des traditionellen rechten Flügels von Chile Vamos, der nur 21 Prozent der Stimmen und 11 Sitze (22 Prozent) erhielt. Dieses Ergebnis belegt den Rechtsruck in der traditionellen Basis der Rechten, welcher von der Partei von Ex-Präsident Piñera zu Kast übergeht, und offenbart somit die Krise der klassischen Rechten. Damit übernimmt die Republikanische Partei auch einen Teil der Wähler:innenbasis der ultraliberalen Partido de la Gente (Partei der Menschen), die Verbindungen zu anderen rechten Parteien in Südamerika aufrecht erhält, jedoch nicht in den Verfassungsrat einzog.

Präsident Gabriel Boric hielt nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse eine Rede, in der er den Triumph der extremen Rechten akzeptierte und den Dialog mit diesem Sektor suchte. Er forderte sie auf, „nicht unsere Fehler zu machen“ (in seinen Worten, die sich auf den vergangenen Verfassungsprozess bezogen) und versuchte, eine Brücke und einen Dialog mit diesem reaktionären, pinochetistischen rechten Flügel zu bauen.

Mit diesen Ergebnissen verfügen die Republikaner über ein Vetorecht im Verfassungsrat, da sie 22 Abgeordnete (43 Prozent) stellen, mehr als die 21, die für ein Veto gegen einen Paragraphen im Rat erforderlich sind (zwei Fünftel, 40 Prozent). Die beiden rechten Listen wiederum haben zusammen 33 Sitze (65 Prozent), mehr als die 31 (drei Fünftel, 60 Prozent), die sie benötigen, um alle von ihnen gewünschten Paragraphen im Rat durchzusetzen. Außerdem besitzen sie die Hälfte der Sitze im Parlament und im Senat, den beiden anderen Gremien, die die neue Verfassung ausarbeiten werden. Die Liste D – ein Bündnis aus der Regierungskoalition Apruebo Dignidad, die wiederum aus dem Verbund des Parteibündnisses Frente Amplio von Gabriel Boric und der Kommunistischen Partei Chiles besteht, zusammen mit der Sozialistischen Partei – erhielt 28,4 Prozent der Stimmen und stellt 17 Abgeordnete (33 Prozent) in dem neuen Verfassungsorgan, von denen 6 Mitglieder der Sozialistischen Partei sind. Insgesamt macht der regierungsnahe Sektor zusammen mit dem Sitz für die Indigenen 35 Prozent des Gremiums aus, womit sie kein Vetorecht besitzen. Die Erben Pinochets werden bei der Ausarbeitung dieser neuen Verfassung eine entscheidende Rolle spielen.

Es ist also klar, dass die neue Verfassung, die aus diesem Prozess hervorgeht, nur eine Bestätigung des gegenwärtigen Regimes sein wird. Das politische System wird die arbeitende Bevölkerung noch mehr einschränken und ihren Forderungen und Bedürfnissen noch fremder gegenüberstehen.

Der Triumph der extremen Rechten ist das Ergebnis eines betrügerischen und antidemokratischen Verfassungsprozesses, der nicht nur den Sektoren der traditionellen Parteien und insbesondere der Rechten zugute kam, sondern vor allem die Säulen des neoliberalen Chiles schützen sollte.

Die Verhandlungen werden nun im Verfassungsrat beginnen, vor allem zwischen der rechtsextremen Republikanischen Partei und der traditionellen Rechten von Chile Vamos, die die Mehrheit der Sitze innehaben werden und den Inhalt einer neuen Verfassung diktieren können.

Die Regierungspartei hat über ihre wichtigsten Führungspersönlichkeiten, angefangen bei Gabriel Boric selbst bis hin zu den Vorsitzenden der Koalition Apruebo Dignidad, der Sozialistischen Partei und anderen, eine Linie des Dialogs mit der Rechten und der extremen Rechten angenommen, um sich auf eine „gute neue Verfassung“ zu einigen.

Der systematische Rechtsruck von Boric ist der Grund für diesen Triumph

Es gibt verschiedene Analysen der Wahlergebnisse, aber man muss sich fragen, warum die Rechte und insbesondere die Pinochet-Rechte während der Regierung von Gabriel Boric immer stärker wurde. In einigen Regionen, die als Hochburgen der Regierung galten, erlangte sie besondere Erfolge – wie in der Hafenstadt Valparaíso, wo sie die stärkste Partei wurden, und die Hauptstadtregion Santiago, wo sie mehr als eine Million Stimmen erhielten.

Diese Ergebnisse sind eindeutiger Ausdruck eines reaktionären gesellschaftlichen Klimas, das sich etabliert hat und zu dessen Höhepunkten die Verabschiedung repressiver Gesetze wie des Naín-Retamal-Gesetzes zählte, das Polizist:innen freie Hand beim Einsatz von Schusswaffen im Dienst gibt. Es handelt sich um ein Wahlergebnis, das eine logische Folge der immer deutlicher werdenden Kehrtwende der Boric-Regierung ist, die dem Druck der Rechten nachgegeben hat.

Es handelt sich hierbei um die Chronik eines angekündigten Todes. Die Boric-Regierung hat eine völlig demoralisierende Rolle gespielt, indem sie jedem Druck der Rechten im Parlament nachgab, ihre eigenen Reformen beschränkte und Zugeständnisse machte, die sogar von der Rechten und dem Großkapital gefeiert wurden, wie z.B. die flexible 40-Stunden-Woche. Sie trieb zudem repressive und autoritäre Maßnahmen voran, wie z.B. die Militarisierung der Nordgrenze und des Mapuche-Gebiets und die Verabschiedung von Strafgesetzen. Und das, während die Auswirkungen der internationalen Krise die arbeitenden Familien mit Arbeitslosigkeit, sinkenden Löhnen und Inflation hart treffen.

Damit nicht genug, haben sie diesen von den traditionellen Parteien völlig kontrollierten Verfassungsprozess mit einer Reihe von Beschränkungen versehen, die vor allem der Rechten zugute kommen. Genau mit diesen Zugeständnissen hat das Wahlergebnis viel zu tun.

Die Regierungskoalition von Apruebo Dignidad hat seit ihrer Regierungsübernahme und insbesondere nach der Ablehnung des Verfassungsentwurfes des verfassungsgebenden Konvents in der Volksabstimmung vom 4. September 2022 einen Teil ihres eigenen politischen Programms aufgegeben. Seitdem hat sie kontinuierlich die Verhandlungen mit der Rechten gesucht und die konservativen Aspekte ihres eigenen Programms verstärkt, um gegenüber der Rechten mit einem autoritären und repressiven Programm in die Initiative zu gehen. Die Kommunistische Partei und die Frente Amplio haben dem politischen und sozialen Klima nachgegeben, das die Rechte im Land geschaffen hat. Diese hat die humanitäre Krise der Migration im Norden des Landes, die Unzufriedenheit der Bevölkerung aufgrund der Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und die zunehmende Unsicherheit für ihre reaktionären Pläne ausgenutzt. Die Alternative, die alle Parteien des Regimes als Ausweg aus der Situation präsentieren, wird diese nur noch verschlimmern: Sie schlagen ein Kürzungsprogramm auf Kosten der Bevölkerung vor, um „die Wirtschaft zu stabilisieren“, die Verstärkung der repressiven Maßnahmen und der kriminellen Kräfte von Recht und Ordnung.

Debakel der ehemaligen Concertación und vernichtende Niederlage der Partido de la Gente

Zu den großen Verlierer:innen des Tages gehörten auch die Parteien der ehemaligen Regierungskoalition Concertación aus Liberalen, Christdemokraten und Sozialdemokratie, die mit Ausnahme der Sozialistischen Partei in der Liste Todo por Chile vereint waren und nicht mehr als neun Prozent der Stimmen erhielten, sowie die Partido de la Gente, die knapp über fünf Prozent lag. Keine der beiden Listen konnte Sitze im Verfassungsrat gewinnen.

Dieses Debakel der klassisch neoliberalen Parteien der Concertación ist auch ein Ausdruck der Krise und der Infragestellung des Chiles der letzten 30 Jahre und insbesondere derjenigen, die sich der Verwaltung dieses Modells und der Vertiefung des Erbes der Militärdiktatur verschrieben haben. Ihr Narrativ über die „Stärkung der gemäßigten Mitte“, der versucht, nostalgisch in die 1990er Jahre zurückzukehren, fällt somit in sich zusammen.

Zwei Millionen ungültige Stimmen: Wie dem vom Pinochetismus angeführten Verfassungsbetrug entgegentreten?

Eine weitere überraschende Zahl der Wahlen waren die mehr als zwei Millionen ungültig gemachten Stimmzettel, d.h. mehr als 20 Prozent aller Stimmen. Zusammen mit den leer abgegebenen Stimmzetteln sind das mehr als 2,5 Millionen Stimmen. Die Masse und der Ursprung der ungültigen Stimmen wurde in allen Medien hervorgehoben: Sie werden als eine explizit politische Stimme des Protestes gegen die Parteien und den verfassungsgebenden Prozess im Allgemeinen gesehen.

Dauno Tótoro, Redakteur von La Izquierda Diario Chile und Mitglied der Partido de Trabajadores Revolucionarios (Partei Revolutionärer Arbeiter:innen), erklärte dazu:

Wir haben gesehen, wie Mitglieder der Regierungsparteien und der Liste der Regierungspartei und der Sozialistischen Partei den Sieg der Rechten denjenigen von uns in die Schuhe schieben wollten, die dazu aufgerufen haben, ungültig zu wählen. Aber das ist eine absolute Lüge und eine Verzerrung der Realität. Wir von La Izquierda Diario haben von Anfang an angeprangert, dass dieser Prozess nur die Rechten stärken und begünstigen kann, und wir haben ihn immer verurteilt. Diejenigen, die die Rechten legitimiert, ihnen zugestimmt und mit ihnen verhandelt haben, sind für diese Stärkung verantwortlich. Und heute begehen sie erneut einen Fehler, indem sie das wichtige Phänomen der ungültigen Stimmen oberflächlich betrachten.

Diese große Zahl ungültiger Stimmen zeigt eine tiefe Unzufriedenheit mit diesem Verfassungsprozess, weil er antidemokratisch ist und den Bedürfnissen der Bevölkerung nicht entspricht. Sie könnten sich in einen wichtigen Stützpunkt verwandeln, in eine soziale Kraft, auf die wir setzen müssen, um sie in Bewegung zu setzen, zu koordinieren, zu organisieren, um auf den Weg der Mobilisierung zurückzukehren und die ungelösten Forderungen der Rebellion vom Oktober 2019 zu überwinden: die Abschaffung des privaten Rentensystems, die Einführung eines kostenlosen Gesundheitssystems oder die Rückgewinnung der strategischen Ressourcen, die sich derzeit in den Händen von privaten Konzernen befinden.

Tótoro schloss mit den Worten:

Diese Wahl hat eines deutlich gemacht: Wir dürfen der Rechten keinen Millimeter nachgeben, wir müssen ihr konsequent entgegentreten, ohne auf die Forderungen der Massen und der Arbeiter:innen zu verzichten. Dazu müssen wir die Kampagne und die Anprangerung des laufenden Verfassungsbetrugs wegen seines antidemokratischen und massenfeindlichen Charakters bekräftigen, verstärken und ausweiten. Eine Kampagne, die ein Instrument ist, um die Koordination und Organisation der Sektoren zu stärken, die der Rechten entgegentreten wollen, um auf die Straße zurückzukehren und die Kampfmethoden der Arbeiter:innenklasse wie den Streik auch gegen die Rolle der Gewerkschaftsbürokratie einzusetzen. Zugleich dürfen wir nicht vertrauen, dass diese Regierung die Forderungen der Arbeiter:innen und der Massen durchsetzen wird, die heute nicht in der nationalen politischen Diskussion präsent sind, wie z.B. ein Mindestlohn von 750.000 Pesos [ca. 750 €, Anm. d. Ü.], das Problem der Arbeitslosigkeit, die hohen Lebenshaltungskosten, die Krise im Bildungs- und Gesundheitswesen und die Ausplünderung der natürlichen Ressourcen. Dies in der Perspektive, den Kampf für eine echte verfassungsgebende Versammlung aufzunehmen, die frei und souverän ist, die keine Beschränkungen hat und die alles diskutieren kann, um das gesamte neoliberale Chile der letzten 30 Jahre in Frage zu stellen, mit dem Horizont des Kampfes für eine Regierung der Arbeiter:innen. Das ist die einzige Möglichkeit, alle Bedürfnisse der Massen in ihrer Gesamtheit zu lösen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Spanisch auf La Izquierda Diario.

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