Chile: Die Rebellion geht mit Generalstreiks und Tendenzen zur Selbstorganisierung in die zweite Woche

25.10.2019, Lesezeit 8 Min.
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Bei den Massenprotesten in Chile ist kein Ende in Sicht. Weder die brutale Repression durch Polizei und Armee noch die Ankündigung kleiner Reformen durch die Regierung vermag die wütende Bevölkerung zu stoppen. Die Rebellion hat sich von der kämpferischen Jugend auf die Arbeiter*innenklasse ausgeweitet, die mit einem zweitägigen Generalstreik ihre Kampfkraft bewiesen hat. Beispiele der Selbstorganisierung weisen den Weg, wie der Kampf bis zum Sieg fortgeführt werden kann.

Es ist erst eine Woche her, und doch scheint, als würden Welten liegen zwischen dem vergangenen Freitag und diesem. Vor sieben Tagen brach die angesammelte Wut angesichts eines Regimes aus, das das neoliberale Erbe der Militärdiktatur von Augusto Pinochet seit 30 Jahren unangetastet lässt und im Interesse der Reichen regiert. Seitdem hat sich die Rebellion von der Hauptstadt Santiago auf das ganze Land ausgeweitet und ist trotz der brutalen Repression, der nach offiziellen Angaben mindestens 18 Menschen zum Opfer fielen, nicht abgeflaut. Im Gegenteil sind es immer größere Teile der Gesellschaft, die sich den Protesten anschließen, demonstrieren, mit Töpfen und Kochlöffeln Lärm machen oder Barrikaden errichten. Für diesen Freitag wurde erneut zu Protesten und der „größten Demonstration in Chile“ aufgerufen, die um 17:00 Uhr Ortszeit in Santiago beginnen soll.

Besonders bemerkenswert war in den vergangenen Tagen, wie die Bewegung von den kämpferischen Sektoren der Jugend die Arbeiter*innenklasse ergriffen hat. Die Woche begann mit dem Streik der Hafenarbeiter*innen, die über 20 Häfen entlang der Pazifikküste lahmlegten. Ihnen folgten die kämpferischen Minenarbeiter*innen wie die der Minera Escondida, der größten Kupfermine der Welt. Daraufhin rief auch die Führung des Gewerkschaftsdachverbandes CUT und verschiedene soziale Bündnisse, die von der Kommunistischen Partei (PC) und der reformistischen Frente Amplio (FA) kontrolliert werden, zu einem zweitägigen Generalstreik am Mittwoch und Donnerstag auf.

Auch wenn die Bürokratie den Streik nicht vorbereitete und er so in seinem Ausmaß begrenzt blieb, wurde doch die Macht der kämpfenden Arbeiter*innenklasse deutlich. Minenarbeiter*innen, Hafenarbeiter*innen, Lehrer*innen, Angestellte aus dem öffentlichen Dienst und viele mehr beteiligten sich am Mittwoch an den Demonstrationen, die im ganzen Land mehr als eine Million Menschen auf die Straßen und Plätze brachten. Von Arica im äußersten Norden an der peruanischen Grenze bis nach Punta Arenas in Patagonien forderten die Massen den Rücktritt von Präsident Sebastián Piñera und das Ende des Ausnahmezustandes, der in 15 von 16 Regionen herrscht und der nächtlichen Ausgangssperren in den größten Städten des Landes.

Mit diesen autoritären Maßnahmen, die aus Zeiten der Diktatur stammen, hat die Piñera-Regierung eine blutige Repression in Gang gesetzt, die an eben jene Tage unter Pinochet erinnern, um die Bewegung zu kriminalisieren und die Leute einzuschüchtern. Das Nationale Menschenrechtsinstitut (INDH) veröffentlichte am Donnerstag einen Bericht, in dem von insgesamt 2.840 Festnahmen gesprochen wird, mehr als 1.000 davon alleine in Santiago. 582 Personen wurden verletzt, 295 davon durch Schusswaffen der Polizei und der Armee. Zudem kommen dutzende Fälle von sexualisierter Gewalt bis hin zu Vergewaltigungen, die von Frauen öffentlich gemacht wurden. Während die bürgerliche Presse die Proteste stigmatisiert und die Repression verschweigt, wurden in den sozialen Netzwerken Fotos veröffentlicht, die belegen, wie das Militär Verhaftete in einer Metro-Station foltert.

Diese Bilder stehen in deutlichem Kontrast zu den Aussagen Piñeras, die Forderungen der Protestierenden gehört und verstanden zu haben. Mit der Ankündigung verschiedener sozialer Maßnahmen versuchte die Regierung Mitte der Woche den Protesten die Triebkraft zu nehmen. Dabei handelt es sich jedoch um vollkommen unzureichende Maßnahmen, die deutlich machen, dass die Grundpfeiler des neoliberalen Modells nicht angetastet werden sollen. Zu den Maßnahmen gehört eine staatlich finanzierte Erhöhung der Grundrente und des Mindestlohns, der jedoch mit 350.000 Pesos (ca. 430 Euro) immer noch deutlich unter der Armutsgrenze liegt. Außerdem wurde eine Senkung der Abgeordnetendiäten beschlossen, die jedoch umgerechnet insgesamt weiterhin fast 10.000 Euro pro Monat betragen.

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Diese vollkommen unzureichenden Maßnahmen haben es denn auch nicht geschafft, der Regierung Stärke und Legitimität zu verleihen, die sie durch die Repression und konstante Politik im Interesse der Besitzenden verloren hat. Nichtsdestotrotz ist es nicht nur die bürgerliche Mitte-Links Opposition der Parteien der ehemaligen Concertación, die mit der Regierung verhandelt und sogar den Ausnahmezustand und die Ausgangssperren rechtfertigte. Auch Vertreter*innen der FA nehmen an den Parlamentssitzungen und den Treffen mit der Regierung teil und schüren die Idee, es wäre möglich, reale Veränderungen mit den Parteien des Regimes zu erzielen. Die Abgeordnete der PC, Camila Vallejo, ging sogar soweit zu behaupten, es ginge nicht darum „gegen die Regierung zu sein“, während der Hashtag #RenunciaPiñera, der den Präsidenten zum Rücktritt auffordert, seit Tagen unter den meist verwendeten ist. Diese Politik des Dialogs und des sozialen Paktes mit der Regierung, die von der FA und der PC vorangetrieben wird, ist nicht dazu in der Lage, Verbesserungen für die arbeitende Bevölkerung durchzusetzen und dient gleichzeitig der Regierung in ihrem Versuch, die radikaleren Proteste von den breiten Massen, die sich mobilisieren, zu trennen.

Währenddessen erkennen immer breitere Sektoren, dass kein positiver Ausweg für die Arbeiter*innen, Jugendlichen, Frauen und Massen mit den Institutionen des Erbregimes der Militärdiktatur, wie dem Parlament, möglich ist und organisieren sich selbst. In der Hauptstadt der Minenregion Antofagasta wurde ausgehend von der Lehrer*innengewerkschaft, deren Vorsitzende in Antofagasta Patricia Romo ist, Aktivistin der Partei Revolutionärer Arbeiter*innen (PTR), ein Sicherheits- und Schutzkomitee gegründet. Das Komitee ist eine Anlaufstelle für die Bewegung und funktioniert mit offenen Versammlungen, an den Arbeiter*innen und Studierende aus verschiedenen Bereichen beteiligt sind und über konkrete Fragen wie Sicherheit und Versorgung bis hin zu den Perspektiven der Bewegung diskutieren. Am ersten Tag des Generalstreiks organisierte das Komitee eine Versammlung auf dem zentralen Platz der Hafenstadt, an der 6.000 Menschen teilnahmen.

Dort sprach auch der Anführer der Metallgewerkschaft Constramet und Mitglied der PTR, Lester Calderón: „Wir machen heute wichtige Schritte hin zur Koordinierung von Arbeiter*innen aus der Industrie, den Häfen, der Läden, des Bildungs- und Gesundheitswesens und Studierenden. Es ist wichtig, dass wir vereint voranschreiten, so können wir beispielsweise die Kraft der Minenarbeiter*innen in der politischen Hauptstadt der Minenregion zeigen. Diese Herausforderung müssen wir uns stellen, um dieses Regime tatsächlich zu zerstören, das von den Arbeiter*innen und armen Massen abgelehnt wird und das Erbe der Diktatur zu vernichten, einen Generalstreik bis zum Sturz der Regierung und seines Regimes durchzuführen und eine freie und souveräne verfassungsgebende Versammlung durchzusetzen. Wir kämpfen für eine Arbeiter*innenregierung im Bruch mit den Kapitalist*innen, mit der wir unsere sozialen und demokratischen Forderungen vollständig und effektiv erringen können.“

Auch in Santiago treibt die PTR, Schwesterorganisation von RIO und Teil der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale, solche Beispiele der Selbstorganisierung voran. Im öffentlichen Krankenhaus Barros Luco im Süden der Stadt kamen am Dienstag 250 Arbeiter*innen, Studierende und Anwohner*innen zusammen, um sich zu koordinieren, und demonstrierten am Mittwoch gemeinsam in einem Block. Auch im Stadtzentrum wurde ausgehend vom Kulturellen Zentrum Gabriela Mistral (GAM) eine Koordinierungsinstanz ins Leben gerufen, die eine Erklärung diskutiert und abgestimmt hat, in der die Perspektive des Sturzes des von der Diktatur geerbten Regimes durch den Generalstreik aufgestellt wird. Auch in anderen Städten wie in Valparaíso finden Versammlungen statt, in denen Arbeiter*innen, Jugendliche und Frauen über die Perspektiven der Bewegung diskutieren.

Auch wenn es sich hierbei noch lange nicht um eine Massentendenz handelt, sind es Beispiele, die den Weg aufzeigen, wie die Forderungen nach dem Sturz der Regierung und dem Ende des Ausnahmezustandes durch die Weiterführung und Organisierung eines echten aktiven Generalstreiks erreicht werden können, der das gesamte Land paralysiert. Zudem macht die brutale Repression der Regierung deutlich, dass die sozialen Forderungen nach kostenloser Bildung, einem öffentlichen Rentensystem, guten Löhnen und einem Ende der Prekarisierung, die nur erreicht werden können, wenn die Interessen der Kapitalist*innen angetastet werden, den Widerstand der herrschenden Klasse auf sich ziehen wird. Um dem entgegenzutreten sind selbstorganisierte Koordinierungsinstanzen der Bewegung der beste Weg und eine Tradition, die in Chile bis zum Putsch 1973 in Form der Cordones Industriales (Industriegürtel) existierte und von der Diktatur gewalttägig ausgelöst wurde.

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