Brexit-Referendum und Roter Volksentscheid: Sollten Revolutionär*innen zusammen mit Rechtsextremen abstimmen?

23.08.2016, Lesezeit 9 Min.
1
Leader of the United Kingdom Independence Party Nigel Farage holds a placard as he launches his party's EU referendum tour bus in London, Britain May 20, 2016. REUTERS/Neil Hall/File Photo - RTX2I01W

Zwei Monate sind seit dem Brexit-Referendum vergangen. Am 23. Juli stimmten 52% der Wähler*innen in Großbritannien für "Leave" und 48% für "Remain". Der bevorstehende Austritt Großbritanniens aus der EU ist ein Schlag gerade für den deutschen Imperialismus – aber ein Schlag, der von rechten Kräften versetzt wurde. Hätten sich Revolutionär*innen an der Brexit-Kampagne beteiligen sollen? Eine Analogie aus den 30er Jahren.

52% – war das nun ein Erfolg oder ein Rückschlag für jene Kräfte, die gegen den Kapitalismus kämpfen? Lucy Redler und Sascha Stanicic von der SAV nannten das überraschende Ergebnis der Volksabstimmung einen „Grund zur Freude“ für die Linke:

Auch wenn die Rechtspopulisten nun jubilieren und versuchen, das Abstimmungsergebnis als ihren Sieg zu deklarieren, ist der Brexit zu begrüßen. Warum? Weil er ein Schlag gegen eine Europäische Union ist.

In der Tat waren die Sprecher*innen der Kampagne zum Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) Rechtspopulist*innen, die gegen Migrant*innen gehetzt und für die Schließung der Grenzen agitiert haben. Dazu gehörten Nigel Farage von der rassistischen Partei UKIP und Boris Johnson vom rechten Flügel der regierenden Konservativen.

Gegen das Establishment?

„Fast das gesamte Establishment“ sei gegen den „Brexit“ gewesen, versichern die SAV-Genoss*innen. Auch Marx21 spiegelte eine Stellungnahme der „Lexit“-Kampagne, in der von einer „Absage an das Establishment“ die Rede war.

Doch stimmt das? Sicherlich waren bedeutende Teile des Großkapitals stark für den Verbleib im gemeinsamen europäischen Markt. Aber ein rechter Teil der herrschenden Klasse Großbritanniens, mit einer Basis im nationalistischen Kleinbürger*innentum, orientiert sich stärker an Washington als an Brüssel. Alle Boulevardzeitungen, die UKIP, der ehemalige Bürger*innenmeister von London (und jetziger Außenminister) sowie eine Reihe von Minister*innen waren alle für den Austritt. Sollten sie wirklich nicht zum Establishment gehören? Würden die Genoss*innen von SAV und Marx21 sagen, dass der Axel-Springer-Verlag und die CSU nicht zum deutschen Establishment gehören?

Natürlich gab es auch linke Wähler*innen, die mit „Leave“ gestimmt haben, weil sie gegen die imperialistische EU sind oder einfach gegen die Cameron-Regierung stimmen wollten. Aber kann man deswegen sagen, dass linke und rechte Kräfte gleichmäßig die Leave-Kampagne prägten?

Nehmen wir eine Zahl dazu: Bei den Europawahlen im Jahr 2014 bekam die Platform No2EU (die von der Socialist Party, Schwesterorganisation der SAV, zusammen mit der Bürokratie der Eisenbahnergewerkschaft RMT gebildet wurde) genau 0,19% der Stimmen. Die rassistische UKIP dagegen bekam 27,5% – etwa hundertmal so viel.

Es ist kein Wunder, dass fremdenfeindliche und nationalistische Argumente den Brexit-Wahlkampf dominierten. Genauso ist es kein Wunder, dass die linken Brexit-Befürworter*innen herunterspielen wollen, mit was für Leuten sie an einem Strang gezogen haben.

Es ist fast unmöglich, anhand der verschiedenen Umfragen zu sagen, wie stark rassistische und xenophobe Argumente für jene 52% der Wähler*innen entscheidend waren. Man kann sagen: die Älteren waren für „Leave“, die Städte waren für „Remain“ usw. Aber wir wollen eine Analogie nutzen, um auf eine tiefergehende Frage einzugehen: Hätte die Socialist Party und andere linke Kräfte überhaupt zur gemeinsamen Stimmabgabe mit Reaktionären bei einer Volksabstimmung aufrufen sollen?

Der „rote“ Volksentscheid

Am 9. August 1931 fand ein Volksentscheid in Preußen statt: Das Ziel war die Auflösung des Landtages und damit die Abwahl der Regierung, die seit Beginn der Weimarer Republik von der SPD gestellt wurde. Dieser Volksentscheid wurde von der rechtsextremen Miliz „Stahlhelm“ eingeleitet und von der NSDAP und weiteren rechten Parteien unterstützt.

Die kommunistischen Arbeiter*innen hatten jeden Grund, die Regierungssozialist*innen der SPD zu hassen. Am 1. Mai 1929 hatte der sozialdemokratische Polizeipräsident von Berlin mindestens 33 Arbeiter*innen ermorden lassen, nur weil sie auf die Straße gehen wollten. Im ganzen Land sorgte die SPD dafür, dass die Arbeiter*innen die Kosten der kapitalistischen Krise tragen mussten.

Als erste Reaktion hat die Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) diesen rechten Volksentscheid abgelehnt. Doch dann kam ein Befehl von der Kommunistischen Internationale in Moskau, die unter der Kontrolle der stalinistischen Bürokratie stand: Plötzlich schwenkte die KPD um und warb für einen „roten“ Volksentscheid. Aber wie soll er „rot“ gewesen sein, wenn er von „Braunen“ initiiert wurde? In der Praxis führten die Kommunist*innen eine gemeinsame Kampagne mit den Nazis durch.

Der russische Revolutionär Leo Trotzki, der im Exil auf der türkischen Insel Prinkipo lebte, verurteilte diese Politik scharf:

Kann man aber sagen, daß [der stalinistische KPD-Vorsitzende] Thälmann mit Hitler eine Einheitsfront gebildet hat? Die kommunistische Bürokratie bezeichnete Thälmanns Volksentscheid als den »roten« im Unterschied zu Hitlers schwarzem oder braunem Volksentscheid. Es steht völlig außer Zweifel, daß es sich um zwei Parteien handelt, die einander als Todfeinde gegenüberstehen, und alle Lügen der Sozialdemokratie werden die Arbeiter das nicht vergessen machen. Aber es ist eine Tatsache: in einer bestimmten Kampagne hat die stalinistische Bürokratie die revolutionären Arbeiter in eine Einheitsfront mit den Nationalsozialisten gegen die Sozialdemokratie hineingezogen. Hätte wenigstens die Möglichkeit bestanden, auf den Stimmzetteln die Parteizugehörigkeit der Abstimmenden zu vermerken, so hätte man den Volksentscheid wenigstens damit rechtfertigen können (was in diesem Fall politisch völlig unzureichend gewesen wäre), daß es so möglich sei, die eigenen Kräfte abzuschätzen und sie gleichzeitig vom Faschismus abzugrenzen. Doch die bürgerliche »Demokratie« hat in Weimar keine Vorsorge dafür getroffen, das Recht der Teilnehmer am Volksentscheid, ihre Parteizugehörigkeit zu vermerken, zu sichern. Alle Abstimmenden verschmelzen ununterscheidbar zu einer Masse, die auf eine bestimmte Frage die gleiche Antwort gibt. Im Rahmen dieser Frage ist die Einheitsfront mit den Faschisten eine unbestreitbare Tatsache.

Trotzki sprach von „chauvinistischen Tendenzen“ in der Partei, als „Produkt der weit fortgeschrittenen ideologischen Degeneration der Partei“ unter ihrer stalinistischen Führung. Am Ende stimmten 36,8% der Wahlberechtigten dafür – das Referendum scheiterte an der Quote von 50%. Millionen kommunistische Wähler*innen folgten nicht dem Aufruf ihrer Führung und bleiben zu Hause.

Kann man das eins zu eins auf das Brexit-Votum übertragen? Natürlich passt keine Analogie perfekt – das liegt in der Natur von Analogien selbst. Aber gerade bei einem Referendum, wo die Arbeiter*innenklasse nur vollkommen atomisiert mit „Ja“ oder „Nein“ antworten kann, ist eine gemeinsame Stimmabgabe mit Rechtsextremen abzulehnen.

Die Genoss*innen Redler und Stanicic von der SAV schreiben von einem „Schlag gegen eine Europäische Union“. Die stalinistische Bürokratie nannte den „roten“ Volksentscheid „den schwersten Schlag, den die Arbeiterklasse der Sozialdemokratie bisher zugefügt hat“. Trotzki dagegen nannte die kommunistische Beteiligung am Volksentscheid als „das beschämendste Abenteuer, das man je gesehen hat“.

Kritische Unterstützung für die EU?

Während die größten Gruppen aus trotzkistischer Tradition in Großbritannien, die Socialist Party und die Socialist Workers‘ Party (die mit Marx21 assoziiert ist), für ein „linkes Leave“ warben, gab es auch kleinere trotzkistische Gruppen, die für ein „linkes Remain“ plädierten. Es handelt sich um die Alliance for Workers‘ Liberty und Red Flag (neuer Name von „Workers Power“, Schwesterorganisation der Gruppe ArbeiterInnenmacht) – also zwei Gruppen, die in der sozialdemokratischen Labour Party arbeiten.

Ben Zimmer von der Gruppe ArbeiterInnenmacht (GAM) und ihrer Jugendorganisation REVOLUTION verteidigt diese kritische Unterstützung für die EU mit dem Argument, dass man sich bei einem Referendum mit Ja oder Nein beteiligen muss – alles andere sei „Passivität“.

Als ob man bei einer politischen Frage, wo es nur Ja und Nein als Antwort gibt, sagen kann, dass alles Mist ist und man sich einfach enthält.

Das ist leider eine sehr gefährliche Logik für proletarische Revolutionär*innen. Hoffentlich wird der Genosse nicht mit dieser Argumentation an die Wahl zwischen Hillary Clinton und Donald Trump herangehen. Nach dieser Logik hätte man beim „roten“ Volksentscheid für die sozialdemokratische Regierung Preußens stimmen müssen.

Doch Revolutionär*innen müssen oft eine „Dritte Front“ aufbauen, wenn die Bourgeoisie eine falsche Wahl zwischen zwei reaktionären Alternativen anbietet. Und das müsste ja gerade die GAM wissen: Seit ihrer Gründung Mitte der 70er Jahren hat ihre Strömung bei jeder Abstimmung zur EU für Enthaltung plädiert. Eine genaue Begründung für ihren aktuellen Rechtsschwenk haben die Genoss*innen nicht gegeben. Es hinterlässt den Eindruck, dass sie sich an die Labour Party anpassen, denn deren Führung trat auch für ein „kritisches Remain“ ein.

Politische Unabhängigkeit

Ja, das Brexit-Referendum war ein Schlag für die EU und für das deutsche Kapital. Aber als Revolutionär*innen interessiert uns nicht nur der Schlag an sich, sondern auch, von wem er durchgeführt wird und wer davon profitiert. Würde Marine Le Pen von der Front National die Wahlen in Frankreich gewinnen, wäre das auch ein großer Schlag für die EU-Bürokratie in Brüssel. Würden Revolutionär*innen deswegen für sie stimmen?

Der konservative Premierminister David Cameron hatte das Referendum als Manöver eingeleitet, um den rechten, europafeindlichen Flügel seiner Partei hinter sich zu vereinigen. Dieses Manöver mussten Revolutionär*innen verurteilen – das Proletariat kann keinen Vorteil erringen, in dem es sich hinter den einen oder anderen Flügel der konservativen Partei einreiht.

Und ein von Reaktionären initiiertes Referendum ist sowieso nicht das Feld, auf dem sich die Arbeiter*innenklasse mit einem eigenen politischen Programm aufstellen kann. Oder wie Trotzki treffend schrieb:

Es geht darum, ein Kreuz in ein Kästchen eines amtlichen Formulars zu machen, wobei nicht einmal die Möglichkeit besteht, bei der Stimmzählung die proletarischen Kreuzchen von den Hakenkreuzen zu trennen.

Durch die Anpassung an die Spielregeln des Referendums hat die antikapitalistische Linke die Möglichkeit verpasst, eine unabhängige Position von den traditionellen Parteien der britischen Bourgeoisie und der rassistischen UKIP aufzustellen. Mit einer aktiven Boykottkampagne hätte sie sowohl die imperialistische EU, die fremdenfeindliche Rechte als auch die arbeiter*innenfeindliche Politik der konservativen Regierung angreifen können.

Mehr zum Thema