Bratislava: Der EU-Gipfel zeigt die historische Krise des europäischen Projekts

21.09.2016, Lesezeit 6 Min.
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Die 27 Mitglieder der Europäischen Union (ohne Großbritannien) trafen sich letzte Woche in Bratislava, um die Zukunft der Union nach dem Brexit zu diskutieren. Die EU sieht sich 8 Jahre nach Beginn der Krise vom Zerfall bedroht.

„Wir sind in einer kritischen Situation“, sage die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer Ankunft zum Gipfel. Vor einigen Monaten – nach dem Referendum, bei dem sich die Mehrheit der britischen Wähler*innen für den Brexit ausgesprochen hatte – hatte Merkel hinter verschlossenen Türen gesagt, dass es sich um „tektonische Verschiebungen“ in der Europäischen Union handelte. Die Konsequenzen dieser tiefgründigen Erschütterung werden sich noch zeigen, aber schon jetzt ist klar, dass die Bruchlinien innerhalb der EU sich auf verschiedene Weisen vertieft haben.

Ein Analyst der Zeitung El País versicherte am Freitag: „Das Risiko des Zerfalls, der vor diesen Problemen in einer immer enger zusammen wachsenden Union völlig undenkbar erschien, liegt genau darin: Die großen Krisen eröffnen undenkbare Kapitel und zeigen, dass es unmöglich ist, die Kreativität der Geschichte vorherzusehen.“

Der Wendepunkt zwischen dem „vorher“ und dem „nachher“ war ohne Zweifel die Entwicklung der Weltwirtschaftskrise: Letzte Woche war der achte Jahrestag der Lehman Brothers-Insolvenz, die folgende Krise entblößte alle Widersprüche des europäischen Projekts.

Wir befinden uns in einer historischen Krise, vor dem Ende des „europäischen Konsenses“, in der Krise des ambitioniertesten Projektes der europäischen Bourgeoisien seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Ein Analyst der Financial Times warnte letzte Woche davor, dass ein „Brüssel-feindlicher Geist“ nicht nur die aufstrebenden Parteien der extremen Rechten durchzieht, sondern auch den „Mainstream“ der EU zu infizieren beginnt. Die Parteien der „politischen Mitte“ werden vom Aufstieg der Euroskeptiker*innen unter Druck gesetzt und übernehmen einen Teil ihrer Agenda.

In den kommenden anderthalb Jahren werden landesweite Wahlen in Frankreich, Deutschland, Niederlande und Österreich stattfinden, zusätzlich zu wichtigen Referenden in diesem Herbst in Italien und Ungarn. Die Parteien, die den „Brüsseler Konsens“ von rechts und von links in Frage stellen (letztere sehr viel moderater als erstere), schaffen es, eine ausgedehnte soziale Unruhe zu kanalisieren.

Probleme in der Union und Probleme zuhause

Jede*r einzelne der Staatschef*innen und Präsident*innen, die*der in die Hauptstadt der Slowakei fuhren, um an dem Gipfel teilzunehmen, trug auf ihren*seinen Schultern eigene Krisen und Herausforderungen mit sich. Angela Merkel, die unhinterfragte Anführerin des letzten Jahrzehnts in Europa steht zuhause starken Stürmen gegenüber, nämlich dem Aufstieg der rechtsextremen Alternative für Deutschland, der Krise in der Regierungskoalition und in ihrer eigenen Partei, und einer starken Infragestellung ihrer Migrationspolitik.

In noch schlimmerem Zustand erreichte die französische Regierung den Gipfel. Früher war Frankreich Partner in der Achse, die das Schicksal der EU seit ihrer Gründung bestimmte. Heute steht Präsident Hollande vor einer scharfen politischen Krise und sah sich im Frühling einer enormen sozialen Protestbewegung gegenüber. Seine Beliebtheitswerte sind am Boden, während er versucht, gegenüber dem Wachstum der (extremen) Rechten in den Umfragen „Widerstand“ zu leisten – acht Monate vor den Präsidentschaftswahlen. Alles deutet darauf hin, dass die nächste französische Regierung noch rechter sein wird und sich die Spannungen mit Brüssel vertiefen können.

Der dritte „Gründungspartner“ der EU ist Italien. Das Mittelmeerland war Teil der Gruppe der Sechs, die die Römischen Verträge unterschrieben haben – gemeinsam mit Frankreich, Deutschland, Luxemburg, Belgien und Niederlande. Vor 40 Jahren legten sie so den Grundstein der EU. Aber die drittgrößte Wirtschaft der Eurozone hat große Probleme: Das Land ist heute der wirtschaftlich „kranke Mann“ Europas, mit seinen Banken im Fadenkreuz und einer großen Staatsverschuldung. Der wirtschaftliche Fall Italiens könnte die Krise auf dem ganzen Kontinent verstärken. Renzi steht in diesem Herbst vor einem Referendum, wo es „ums Ganze“ geht, nämlich um eine Verfassungsreform. Die ganze Opposition steht gegen ihn; wenn das Referendum scheitert, ist seine Zukunft in Gefahr. Die Fünf-Sterne-Bewegung mit ihrem euroskeptischen und rechtspopulistischen Diskurs hat in den letzten Kommunalwahlen gute Ergebnisse erreicht.

Der Brexit: eine ungelöste Scheidung

Der Gipfel in der Burg Bratislava wurde so in Szene gesetzt, um ein Gespenst zu vertreiben: die Abwesenheit Großbritanniens. Ein Unbehagen durchzog den ganzen Gipfel, aber niemand wollte davon „offiziell“ reden.

Die britische Premierministerin Theresa May wurde nicht zum Gipfel eingeladen, obwohl Großbritannien formell weiterhin Teil der EU ist. Aber diese strittige Scheidung scheint nicht auf einem guten Weg zu sein. Die Anführer*innen der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments üben Druck aus, damit Großbritannien mit der Abtrennung voranschreitet, indem sie den Artikel 50 aufrufen, der diesen Prozess beginnen würde. Aber die britische Regierung schiebt diese Frage immer weiter auf, überwältigt von inneren Widersprüchen.

Die interne Krise der konservativen Tory-Partei, illustriert durch den Rücktritt von Cameron von seinem Parlamentsposten in der vergangenen Woche, sowie die wilden Streitigkeiten innerhalb der Labour-Partei – in der die Führung von Corbyn auf dem Spiel steht – verkomplizieren das politische Panorama auf der anderen Seite des Ärmelkanals zusätzlich.

Die rassistische „Gegenreform“ des Ostblocks

Die Länder Osteuropas konsolidieren sich in ihrer reaktionären Verteidigung ihrer „Souveränität“ gegen die Pläne der „Verteilung“ von Geflüchteten, die in Brüssel ausgearbeitet wurden. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban hat zu einem höchst reaktionären und rassistischen Referendum gegen die „Zwangsaufnahme“ von Geflüchteten in das Land aufgerufen. Während des Gipfels versicherte er, dass eine „kulturelle Konterrevolution“ nötig sei, um die „europäischen Werte zu retten“.

Die Visegrad-Gruppe, die aus Ungarn, Polen, der Slowakei und Tschechien besteht, präsentierte ein Dokument, in dem sie die Bildung einer „Gemeinschaftsarmee“ zur Verteidigung der Grenzen, die Ablehnung der „Zwangsquoten“ von Geflüchteten und die Begrenzung der Macht von Brüssel fordern.
Paradoxerweise ist gerade das einer der wenigen Punkte der „Übereinstimmung“ auf diesem Gipfel. Mehrere Länder, darunter vor allem Frankreich und Deutschland, wollen die Systeme der „Verteidigung“ Europas und seiner Grenzen verstärken, gegen die „äußeren Bedrohungen“ und den Terrorismus. Das ist ein Versuch, auf eine reaktionäre Weise „gemeinsam“ aus dieses Krise herauszukommen. Sie einigt nicht die Liebe, sondern die Angst (Borges).

Zuerst erschienen am 17. September 2016 in Izquierdadiario.es

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