„Bolsonaro steht mehr als alles andere gegen die Arbeiter*innenklasse“

07.11.2018, Lesezeit 10 Min.
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Vor kurzem wurde der rechtsextreme Jair Bolsonaro in Brasilien zum Präsidenten gewählt. Wie konnte es dazu kommen? Und wie antwortet die Linke? Tabea Winter hat darüber mit Marie Castañeda von der Bewegung Revolutionärer Arbeiter*innen (MRT) gesprochen.

Wie konnte es soweit kommen, dass ein so sexistischer, rechter Kandidat, der offen mit der Militärdiktatur sympathisiert, zum Präsidenten gewählt wird?

Um die Wahlen in Brasilien zu verstehen, muss man damit anfangen, dass sie von der Justiz und dem Militär komplett manipuliert wurden. Die Justiz hat von Anfang an wirklich alles getan, damit Bolsonaro gewinnt. Das hat damit angefangen, dass Lula nicht kandidieren durfte. Er war der Spitzenkandidat der Arbeiterpartei PT. Er durfte nicht einmal mehr Videos oder WhatsApp-Sprachnachrichten aufnehmen, um seine Positionen zu verbreiten oder Wahlkampf zu machen. Danach wurde das Wahlrecht für 3,6 Millionen Menschen, hauptsächlich aus dem Norden und Nordosten des Landes, ausgehebelt, indem ein neues biometrisches Registrierungssystem eingeführt wurde. Vor der zweiten Wahlrunde haben etwa 50 Personen aus der Bourgeoisie bis zu 12 Millionen Real (etwa 3,2 Millionen US-Dollar) pro Person in Kampagnen über WhatsApp investiert, die nicht als Wahlwerbung für Bolsonaro deklariert wurden. Dort wurden Lügen über Haddad, den Präsidentschaftskandidaten der PT, und Manuela D’Avila von der Kommunistischen Partei Brasiliens an gigantische Kontaktlisten verschickt. Das war ein Korruptionsskandal. Die Justiz aber hat gesagt, man solle daraus keinen Skandal machen. Zwei Tage danach haben sie die Unis mit der Bundespolizei angegriffen und Material gegen Bolsonaro beschlagnahmt. Am Tag der Wahlen wurde in Schulen politisches Material beschlagnahmt und es wurde auch gedroht, Menschen festzunehmen. Außerdem haben viele Kapitalist*innen in den Firmen, die sie besitzen, Kampagnen mit Drohungen gegen die Arbeiter*innen gefahren, damit diese Bolsonaro wählen. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Kaufhauskette Havan. Also ja, zuerst einmal: Es sind komplett manipulierte Wahlen.

Die ersten zwei Legislaturperioden der PT waren eine Zeit des ökonomischen Wachstums in Brasilien. Die PT hat investiert und soziale Verbesserungen ermöglicht, wie Zugang zu Strom. Zur Zeit des Wirtschaftswachstums haben auch Sektoren der Bourgeoisie sehr profitiert, wie im Bausektor beispielsweise der Odebrecht-Konzern. Als dann die tiefe Krise begann, war es für den Imperialismus nicht mehr in Ordnung, dass die brasilianische Wirtschaft so weiter wächst. In diesem Moment wurde die Entscheidung getroffen, mithilfe der Justiz durch die „Lava Jato“-Ermittlungen (eine Anti-Korruptions-Kampagne) gegen diese Firmen vorzugehen. Mit dem zum Teil in den USA ausgebildeten Ermittlungsrichter Moro, den Bolsonaro jetzt zum Justizminister ernannt hat, wurde, um im „Lava Jato“-Prozess angeblich gegen die Korruption zu kämpfen, ein Richter eingesetzt, der klar PT- und arbeiter*innenfeindlich handelt.

Im Juni 2013 gab es eine Jugendbewegung in Brasilien, die begonnen hat, weil die Preise für Bustickets erhöht wurden. Es waren Millionen Menschen auf den Straßen, die einen Gegensatz sahen zwischen den Hoffnungen, die die Jugend und die Arbeiter*innen in die PT setzten, und wie in der Realität Bus, U-Bahn, aber auch Gesundheit und Bildung teuer wurden. Dieser Widerspruch in der Arbeiter*innenklasse hat sich zuerst in den prekären Sektoren gezeigt, denn die Jobs, die in der Regierungszeit der PT geschaffen wurden, waren sehr prekäre Jobs, hauptsächlich im Bausektor im Nordosten Brasiliens. Dieser Widerspruch verschärfte sich in dem Moment, als die internationale Krise Brasilien heftig erreichte. Die Bourgeoisie und der Imperialismus entschieden, dass es Angriffe geben muss, um die PT zu stürzen, die immer noch eine große soziale Basis hatte und deshalb auch dafür verantwortlich ist, dass wir es nicht schaffen zu kämpfen. Einer der Angriffe ist der „Lava-Jato“ Prozess.

Zur gleichen Zeit hat die PT mit den rechten Sektoren und auch mit den evangelikalen Kirchen gemeinsame Abkommen getroffen und ihnen weitere Rechte zugestanden. Diese Kirchen tragen eine große Verantwortung für Bolsonaros Sieg. Die Streiks Ende 2013 und 2014, wo Arbeiter*innen auf den großen Baustellen des Wirtschaftsprogramms der PT wegen der beschissenen Arbeitsbedingungen gestreikt haben, hat die PT mit Morden an diesen Arbeiter*innen beantwortet und gleichzeitig unsere Rechte eingeschränkt. Das hat zu einer Demoralisierung der Arbeiter*innenklasse geführt. Die CUT und die CTB, die Gewerkschaftszentralen, und die Gewerkschaft der Jugend, Studierenden und Schüler*innen, in denen die PT einen führenden Einfluss hat, haben diese Streiks demoralisiert und darauf hingearbeitet, dass der Putsch nicht auf den Straßen besiegt werden konnte. Der Willen der Arbeiter*innenklasse hat sich am 28. April 2017 gezeigt, als es einen landesweiten Streik gegen Temer gab. Es gab keine radikale Antwort von links und dann ist eben eine radikale Alternative von rechts entstanden. Der Putsch, der 2015 die PT-Regierung von Dilma beendet hat, und Regierungschef Temer, der seitdem an der Macht war, würden in Brasilien nie demokratisch legitimiert werden, weil die Arbeiter*innenklasse merkt, dass sie Teil von dem sind, was ihnen so schadet. Leider wird Bolsonaro noch nicht so gesehen, weil um ihn diese ganzen Narrative konstruiert wurden. Aber ein enormer Teil, von denen, die ihn gewählt haben, wissen nicht, was sie erleben werden und was er für die Arbeiter*innenklasse und für ihre Lebensbedingungen bedeuten wird. Bolsonaro steht mehr als alles andere gegen die Arbeiter*innenklasse. Das bedeutet in Brasilien wie überall sonst auf der Welt, dass er gegen Frauen, gegen Schwarze und LGBTI-Personen ist. Er verspricht sehr harte Angriffe.

Bedeutet Bolsonaros Sieg, dass jetzt Faschismus in Brasilien herrscht?

Der Faschismus war die Antwort der Bourgeoisie in imperialistischen Ländern am Anfang des 20. Jahrhunderts auf starke revolutionäre Bewegungen in Deutschland, in Italien und im Spanischen Staat, weil die Bourgeoisie keine andere Möglichkeit mehr hatte. Hier in Brasilien muss man verstehen, dass wir uns in einem Land befinden, das nicht imperialistisch ist, sondern das vollkommen im Dienste des Imperialismus funktioniert. Und in diesem Sinne ist es wichtig, ein Konzept von Trotzki heranzuziehen, dass er Bonapartismus nennt. Das ist eine Präventionsentscheidung der Bourgeoisie, wegen der sehr wichtigen und schrecklichen Attacken, die sie auf die Arbeiter*innenklasse in Brasilien loslassen muss, um die Krise kapitalistisch zu kontrollieren. Der Inhalt der Figur Bolsonaro ist nationalistisch, reaktionär, sexistisch, rassistisch und homophob. Bolsonaro ist als Teil der extremen Rechten nationalistisch, aber im eigentlichen Wortsinn ist er es gar nicht, weil er sich schließlich vollkommen der USA unterordnet und sehr stark gegen die indigene Bevölkerung hetzt. Er stützt sich auf die Justiz und das Militär, die die ganze Zeit in die Politik eingreifen. Vor den Wahlen wurde Marielle Franco, eine Stadträtin von Rio de Janeiro, von der Polizei ermordet, weil sie gegen die Gewalt der Polizei in Rio de Janeiro, die jeden Tag hauptsächlich schwarze Kinder ermordet, gekämpft hat. Während der Wahlen wurden Mestre Moa de Katende, Laysa, Priscilla und Charlione Albuquerque von Bolsonaristen ermordet. An dem Tag, an dem Bolsonaro gewählt wurde, wurde ein Lager der indigenen Bevölkerung attackiert und LGBTI*s in einer Bar angegriffen. Seitdem glauben die Bolsonaristen, sie dürften machen, was sie wollen.

Bolsonaro will eine Rentenreform durchsetzen. Er will, dass wir arbeiten, bis wir sterben. Temer sagt Bolsonaro, dass sie das noch dieses Jahr durchsetzen können. Zur selben Zeit zeigen die Frauen, Schwarzen, LGBTI*s und Student*innen, dass sie Widerstand leisten werden und kämpfen wollen. Obwohl die PT wollte, dass die ganze Wut nur in den Wahlen kanalisiert werden sollte, zeigt die Jugend, dass sie doch kämpfen wird. Die extreme Rechte hat schon in der Universität von São Paulo, der Universität Brasília B und der Universität von Uberlândia  versucht, Demonstrationen zu organisieren. Dort waren etwa 15 Personen. Die Student*innen, die Gegendemos organisiert haben, waren mehr als 1000. Vor den Wahlen gab es an 27 Unis Proteste, die sich auch weiterhin organisieren werden. Das Parlament diskutiert das Projekt „Schulen ohne Parteien“, ein Projekt von Bolsonaro, das dazu dienen soll, das alles zu zensieren.

Was bedeutet er für die Frauenbewegung?

Unter Frauen verliert Bolsonaro. Wir sind der größte Widerstand gegen ihn. Deswegen gab es vor den Wahlen Demos von Frauen gegen Bolsonaro und obwohl es große Demos waren und die Frauen zeigen, dass sie gegen Bolsonaro kämpfen wollen, haben die Parteien, die teilweise oder vollkommen von der Bourgeoisie vereinnahmt sind, alles getan, um diesen Protest für ihre Interessen auszunutzen. Selbst die Großgrundbesitzerin und Umweltzerstörerin Katia Abreu, die Vizepräsidentschaftskandidatin der drittplatzierten Demokratischen Arbeiterpartei PDT, war bei der Demo. Die PT hat dazu gesagt, der Protest gegen Bolsonaro solle ja auch von allen Frauen kommen, was Frauen wie sie völlig verharmlost. Es ist sehr wichtig zu bedenken, dass die Frauen ein sehr großer Teil der Arbeiter*innenklasse in Brasilien sind, wie auch auf der ganzen Welt. Wir müssen uns organisieren, wo wir arbeiten und studieren, damit wir wirklich die Rechte der Frauen und des Proletariats verteidigen können. In Brasilien haben wir heutzutage kein Recht auf Abtreibung, keine Sexualerziehung in den Schulen. Bolsonaro will die Abtreibung in allen Fällen illegalisieren, sogar nach Vergewaltigungen. Aber auch die PT hat Abtreibung nicht legalisiert, als sie an der Regierung war. Und sogar bei diesen Wahlen hat Haddad vor der zweiten Runde schon den Kirchen zugesagt, dass er, falls er die  Wahl gewinnen sollte, die Abtreibung nie legalisieren würde.

Was macht die PT gerade?

Vor wenigen Tagen hat Lula gesagt, dass man warten solle, bis sich der Staub gelegt hat, also bis alles nicht mehr so polarisiert ist. Wir hingegen verlangen, wo wir sind, dass die PT Basiskomitees und Versammlungen in jeder Schule, Uni und jedem Betrieb einberufen muss, um gegen Bolsonaro und seine Reformen zu kämpfen. Sie tun das trotz allem nicht. Die U-Bahn-Arbeiter*innen in São Paulo haben ein Manifest gegen Bolsonaro geschrieben, das die Justiz schon für illegal erklärt hat, aber sie werden trotzdem kämpfen. Die Lehrer*innengewerkschaft in São Paulo hat auch schon dafür gestimmt, dass es diese Komitees gibt, aber die CUT tut nichts, um sie aufzubauen. Als wir das bei einer Demo in Natao angeklagt haben, haben sie gesagt, dass sie auf jeden Fall die Komitees ausrufen werden. Aber man hört davon überhaupt noch nichts, obwohl auch Versammlungen in den Unis schon verlangen, dass Komitees von den Gewerkschaftszentralen ausgerufen werden.

Was schlagt ihr vor, was man jetzt tun sollte? Welche Politik macht die MRT jetzt?

Wir von der MRT, der Bewegung Revolutionärer Arbeiter*innen, sind die Schwesterorganisation von RIO und unsere Website Esquerda Diário ist die Schwesterseite von Klasse Gegen Klasse. In den letzten 30 Tagen haben wir auf Esquerda Diário 6,8 Millionen Aufrufe gehabt, was uns sehr viel Aufmerksamkeit bringt für eine Stimme, die dafür eintritt, dass es wichtig ist, eine starke und unabhängige Lösung der Arbeiter*innenklasse zu schaffen. Wir sind die einzige Organisation in Brasilien, die es als elementar empfindet, weiterhin klarzustellen, dass es sich um einen Putsch und um die Vertiefung des Putsches handelt. Deswegen sagen wir, dass es so wichtig ist, gegen Bolsonaro und die Putschist*innen der Justiz zu kämpfen, die mit dem Militär zusammenarbeiten. Die schlimmsten Sektoren der Bourgeoisie, hauptsächlich die mit dem Imperialismus verbundenen, stellen sich hinter Bolsonaro und wollen jetzt unsere Lebensbedingungen zerstören. Deswegen sagen wir, dass es so wichtig ist, die PT zu überwinden. Wir brauchen eine Organisation der Arbeiter*innen mit der Jugend und den Frauen, Schwarzen, der indigenen Bevölkerung und LGBTI* zusammen – aber unabhängig gegenüber der Bourgeoisie, was die PT die ganzen Jahre nie war. Die PT muss von links überwunden werden, damit die Kapitalist*innen für die Krise bezahlen.

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