Bedeutet die Unterstützung des palästinensischen Widerstands die Unterstützung der Strategie und der Methoden der Hamas?

24.10.2023, Lesezeit 15 Min.
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Nach der palästinensischen Offensive vom 7. Oktober haben die imperialistischen Regierungen und Medien eine Kampagne zur Kriminalisierung von Anhänger:innen der palästinensischen Sache gestartet. Das Manöver besteht darin, die Unterstützung für das Widerstandsrecht des palästinensischen Volkes als politische Unterstützung für die Hamas und ihre Methoden darzustellen. Als revolutionäre Sozialist:innen müssen wir diese falsche Gleichsetzung zurückweisen.

Israel ist ein Kolonialstaat, der 1948 von den imperialistischen Mächten unter Mitwirkung der stalinistischen Bürokratie der UdSSR, die die Teilung Palästinas ausnutzen wollte, um neue Einflussgebiete zu gewinnen, aus dem Nichts geschaffen wurde. Dieses imperialistische Projekt zur Schaffung eines jüdischen Staates stützte sich auf bestehende jüdisch-zionistische Strömungen, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aktiv waren und oft von nichtjüdischen zionistischen Anführer:innen unterstützt wurden, die antisemitische Ideen vertraten: die Schaffung eines jüdischen Staates in Palästina, um die Vertreibung der Jüd:innen aus Europa und den USA zu legitimieren. Einige nicht-zionistische Jüd:innen prangerten den Plan zur Gründung Israels sogar als Weg zur Schaffung eines „internationalen Ghettos“ an.

Nach und nach erhielt das zionistische Projekt der Schaffung eines jüdischen Staates jedoch eine andere Bedeutung: Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte Israel eine koloniale Enklave sein, die der Wahrung imperialistischer Interessen diente und für diese Mächte die Rolle eines Polizisten in der Region spielte. Obwohl die jüdische Bevölkerung nur 30 Prozent der Bevölkerung des palästinensischen Gebiets ausmachte, wurde ihr der größte Teil des Landes auf der Grundlage der ethnischen Säuberung der palästinensischen Bevölkerung durch zionistische Milizen zugesprochen. Und seit der Gründung dieses Staates hat Israel nur durch Kriege, Militäroffensiven und die Vertreibung von Palästinensern neue Teile des palästinensischen Territoriums erobert, sei es 1967, 1973 oder seit Ende der 1990er Jahre.

Die Palästinenser:innen haben das Recht, gegen das koloniale Joch des Staates Israel zu kämpfen

Die palästinensischen Gebiete verfügen heute über keine territoriale Kontinuität und sind völlig abhängig von Israel, das eine fast vollständige Kontrolle über lebenswichtige Dienstleistungen wie Trinkwasser, Strom und sogar internationale humanitäre Hilfe ausübt. Die palästinensische Bevölkerung lebt in einer eindeutigen Situation kolonialer Unterdrückung und Apartheid, die von international anerkannten NGOs wie Amnesty International angeprangert wird.

Darüber hinaus steht der Gazastreifen seit 2007, nach der Übernahme des Gebiets durch die Hamas, unter einer Blockade und hat in dieser Zeit sechs Kriege erlebt. Seit dem Jahr 2000 wurden 10.500 Palästinenser:innen durch israelische Militäreinsätze oder Polizeiaktionen getötet [A.d.R.: vor dem Ausbruch des aktuellen Kriegs]. Vor diesem Hintergrund und trotz des enormen Leids und der Demütigung hat das palästinensische Volk seit der Gründung des Staates Israel nie aufgehört, Widerstand zu leisten und zu kämpfen.

Das Recht auf Widerstand und Kampf des palästinensischen Volkes gegen die Aggressionen und Angriffe des israelischen Kolonialismus ist für uns unbestreitbar. In diesem Sinne verteidigen wir, über unsere politischen Meinungsunterschiede mit den palästinensischen Führungen hinaus, dieses Recht bedingungslos, alle Mittel, die ihnen in einer so komplexen Situation zur Verfügung stehen, zu nutzen, einschließlich des bewaffneten Kampfes. Auf dieser Ebene verurteilen wir die Gleichsetzung des palästinensischen Widerstands mit dem Terrorismus. Wir sind in der Tat der Ansicht, dass die Hamas im Zusammenhang mit dem permanenten Krieg in Palästina als Kriegspartei und nicht als „terroristische Organisation“ betrachtet werden sollte.

Denn diese Bezeichnung ist vereinfachend und verleitet dazu, das Wesen dieser Organisation mit anderen wie Daesh oder Al Qaeda zu verwechseln. Politisch unterscheidet sich die Hamas, wie der israelische Journalist Larry Derfner betont, sehr von diesen Organisationen. Die Hamas ist durch Wahlen an die Macht gekommen, und ihre Basis ist bedeutsam. Es handelt sich keineswegs um eine kleine Gruppe, die von der Bevölkerung isoliert ist. Und obwohl die Hamas den Gazastreifen autoritär regiert, leben im Gegensatz zu Daesh christliche Minderheiten in dem von ihr kontrollierten Gebiet.

Die Ablehnung der Bezeichnung „Terrorismus“ bedeutet jedoch nicht, die Verbrechen der Hamas gegen die palästinensische und israelische Zivilbevölkerung zu relativieren, geschweige denn zu rechtfertigen, sondern vielmehr eine einseitige Betrachtung der Situation in Palästina zu vermeiden. Der Journalist Alain Gresh erinnert in einem kürzlich erschienenen Leitartikel: „Erinnern wir uns noch einmal daran, dass mehrere terroristische Organisationen, die im Laufe der Geschichte verspottet wurden, vom Paria-Status zu legitimen Gesprächspartnern geworden sind. Die Irisch-Republikanische Armee (IRA), die Algerische Nationale Befreiungsfront, der Afrikanische Nationalkongress (ANC) und viele andere wurden als ‚Terroristen‘ bezeichnet, ein Wort, das ihren Kampf entpolitisieren und als Kampf zwischen Gut und Böse darstellen soll.“

Die vereinfachten Definitionen, die von der israelischen Regierung genutzt und von allen imperialistischen Regierungen und Medien verbreitet werden, sollen dem israelischen Staat den Anschein einer Legitimation geben, unter dem Vorwand der „Terrorismusbekämpfung“ einen totalen Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung zu führen, und es den imperialistischen Staaten ermöglichen, jede Unterstützung des palästinensischen Kampfes zu kriminalisieren. Der erste Verantwortliche für alle Gewalt ist die Kolonialmacht Israel. Die Gräueltaten der israelischen Armee oder der von ihr geschützten Siedler:innen gegen die Palästinenser:innen im Gazastreifen, im Westjordanland oder in Israel selbst sind die Wurzel aller Gewalt, die der palästinensische Widerstand ausübt. Dies ist genau das, was in Frankreich die Regierung und der Chor der Medien im Dienste der imperialistischen Interessen zu verschleiern versuchen, um jede Mobilisierung zur Unterstützung Palästinas zu verhindern und die koloniale Situation im Nahen Osten zu zu festigen.

Die Strategien von Fatah und Hamas

Das palästinensische Volk hatte und hat während seines Kampfes für die nationale Befreiung und sein Recht auf Selbstbestimmung Organisationen an seiner Spitze gebracht, mit denen wir tiefgreifende und radikale Unterschiede in Bezug auf ihr politisches Projekt, ihre Strategie und ihre Aktionsmethoden haben.

Der palästinensische Widerstand wurde nicht immer von islamistischen Organisationen angeführt. Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO), der Dachverband mehrerer palästinensischer Organisationen, darunter die Fatah, war lange Zeit die hegemoniale Organisation der palästinensischen Sache, obwohl sie sich heute aufgrund ihrer Rolle bei der Unterzeichnung der Osloer Abkommen in einer totalen Krise befindet. Unter der Führung von Jassir Arafat diente die Unterzeichnung dieser Abkommen dazu, die palästinensische Sache – das Recht auf Rückkehr und die Schaffung eines palästinensischen Staates – zu einem vagen Kompromiss zu machen, der zur Schaffung einer fiktiven palästinensischen Behörde unter israelischer Aufsicht führte. Die PLO kapitulierte schließlich vor dem israelischen Kolonialismus.

Neben der PLO haben seit den 1980er Jahren mehrere politisch-religiöse Organisationen, die insbesondere mit der Muslimbruderschaft verbunden sind, ihre Basis gefestigt. Ihr Anhänger:innenschaft wuchs, als die traditionellen nationalistischen Führungen und die palästinensische Linke aufgrund ihrer Politik an Boden verloren. Israel hat den Aufstieg dieser islamistischen Organisationen wie der Hamas gefördert und finanziell unterstützt, in der Hoffnung, den Einfluss der PLO und der radikaleren Tendenzen der Linken zu schwächen. Der Hamas gelang es schließlich, sich 2006 an der Spitze des Gazastreifens zu etablieren, und sie versucht seitdem, ihren Einfluss im Westjordanland auszuweiten. Wie die Fatah und trotz einer weniger offenkundig versöhnlerischen Politik sind die Strategie, die politischen Ziele und die Kampfmethoden der Hamas jedoch nicht in der Lage, eine Antwort auf die Frage der palästinensischen Selbstbestimmung zu geben.

Wie wir vor einigen Jahren schrieben, „setzt [die Hamas] bei ihrem Widerstand gegen die zionistische Besatzung auf Bündnisse mit bürgerlichen muslimischen Regierungen wie dem Iran oder dem katarischen Regime, die die konterrevolutionäre Vorhut gegen den Arabischen Frühling gebildet haben und für die die palästinensische Bewegung ein Druckmittel bei ihren Handelsgeschäften mit dem Imperialismus ist. Das Programm der Hamas zum Aufbau eines islamistischen Staates ist ein reaktionäres politisches Projekt.“

Dieser bürgerliche und reaktionäre Charakter der Hamas bleibt nicht ohne Folgen für ihre Strategie, Methoden und Aktionen gegen die israelische Besatzung. Am 7. Oktober waren einige der Ziele der verschiedenen militärischen Gruppen, die die israelischen Linien durchbrachen, militärische Ziele (Kontrollpunkte, Kasernen, IDF-Stellungen usw.) oder wurden als solche betrachtet (z.B. Siedlungen, die auf nach 1967 annektiertem Land gebaut wurden). Wegen der Zerstörung der Mauer, die den Gazastreifen von den besetzten Gebieten trennt, und der Neutralisierung oder vorübergehenden Besetzung von zurückeroberten feindlichen Militärstellungen in einem seit 1973 nicht mehr gesehenen Ausmaß, gab es Jubelszenen. Diese Bilder haben auf den Straßen der arabischen Länder, in denen die Menschen die palästinensische Sache als ihre eigene betrachten, eine große Wirkung erzielt. Die Angriffe führten aber auch zu Übergriffen auf die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten am Rande des Gazastreifens, die keinesfalls als militärische oder politische Ziele betrachtet werden können.

Diese Methode, israelische Zivilist:innen ins Visier zu nehmen, ist völlig reaktionär und kontraproduktiv für die palästinensische Sache: Die Erschießung von Zivilist:innen auf einem Festival ist nicht nur ein Verbrechen, das wir anprangern, sondern trägt auch nicht zur Beendigung der israelischen Unterdrückung bei. Im Gegenteil, auch wenn sich Netanjahu und seine Regierung in den letzten Monaten in einer schwierigen Situation befanden und von einem Teil der israelischen Öffentlichkeit in Frage gestellt wurden, können solche Aktionen den Wiederaufbau einer zionistischen nationalen Einheit hinter der Regierung nur begünstigen, wie es schon seit 1948 der Fall war. Dies ermöglicht es den heutigen Machthaber:innen, brutale Repressalien gegen die Palästinenser:innen zu legitimieren und jede Aussicht auf eine Klasseneinheit zwischen palästinensischen und jüdischen Arbeiter:innen weiter zu entfernen.

Darüber hinaus verhindert die militärische und repressive Politik der Hamas in Gaza die Entwicklung der Selbstorganisation der palästinensischen Arbeiter:innen und Massen in ihrem Kampf gegen die israelische Apartheid. In den letzten Jahren hat die Hamas beispielsweise systematisch soziale Mobilisierungen gegen die Armut im Gazastreifen unterdrückt, seien es Massenbewegungen, die die Korruption der Behörden, die Ungleichheiten im Gazastreifen oder die Rolle der Organisation bei der klientelistischen Verteilung humanitärer Hilfe anprangern, oder Streiks von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, die gegen nicht gezahlte oder verspätete Löhne protestieren. In diesem Sinne spielt die Hamas die Rolle eines Hindernisses für den Aufbau von Massenmobilisierungen, aber auch für das Entstehen von Arbeiter:innenorganisationen und sozialistischen Organisationen in Palästina, genau wie die Fatah. Somit sind sowohl die Fatah als auch die Hamas in ihren politischen Zielen, Methoden und Strategien völlig den unseren entgegengesetzt.

Für eine revolutionäre Strategie der Arbeiter:innen zur nationalen Befreiung Palästinas

Als Revolutionär:innen, die in der trotzkistischen Kampftradition stehen, verteidigen wir das Recht auf nationale Selbstbestimmung Palästinas, das von den Imperialist:innen und ihren Kompliz:innen in der Region mit der Gründung des Staates Israel auf der Grundlage einer ethnischen Säuberung der Palästinenser:innen mit Füßen getreten wurde, was von israelischen Historiker:innen wie Ilan Pappe hervorgehoben wurde. Die Verwirklichung dieses zionistischen Projekts, das in betrügerischer Weise behauptet, alle Jüd:innen in der Welt zu vertreten, hat seit Jahrhunderten eine tiefe Spaltung zwischen der palästinensischen, muslimischen und jüdischen Bevölkerung, aber auch gegenüber den arabischen oder christlichen Minderheiten verursacht.

Die Nakba, die große ethnische Säuberung, die zur Gründung des Staates Israel führte, die aufeinanderfolgenden Kriege, Vertreibungen und Deportationen sowie die Aneignung palästinensischen Landes durch den Staat Israel haben diese Situation bis heute verschlimmert. Heute sind die Araber:innen in den palästinensischen Gebieten einem regelrechten Apartheidsystem unterworfen und leben unter militärischer Besatzung; die Palästinenser:innen in Israel sind Bürger:innen zweiter Klasse oder noch schlimmer, ganz zu schweigen von den Millionen palästinensischer Geflüchteten, die in Lagern in den Nachbarländern leben und denen das Recht auf Rückkehr verweigert wird.

Um die nationalen Rechte der Palästinenser:innen zu garantieren, kämpfen wir für einen sozialistischen und säkularen Arbeiter:innenstaat im gesamten historischen Palästina; einen Staat, in dem palästinensische Muslim:innen, Christ:innen und Jüd:innen, ebenso wie heutige israelische Staatsbürger:innen in Frieden, ohne Unterdrückung und Gewalt zusammenleben können.

Das bedeutet, die materiellen Grundlagen der Unterdrückung und Ausbeutung der palästinensischen Arbeiter:innen, aber auch der jüdischen Arbeiter:innenmassen anzugreifen: das Privateigentum und die kapitalistischen Klassen in Israel, aber auch in Palästina, sowie die Interessen der imperialistischen Mächte, die hauptverantwortlich sind für das Drama, das sich seit 75 Jahren in der Region abspielt. Ganz zu schweigen von der Komplizenschaft der arabischen Bourgeoisie, die – trotz ihrer rhetorischen Unterstützung der palästinensischen Sache – diese stets verraten hat, in ihrem Versuch, die Beziehungen zu Tel Aviv zu normalisieren.

Deshalb kämpfen wir für die tiefgründigste Einheit zwischen den Arbeiter:innen, der ausgebeuteten und unterdrückten Jugend, den Bäuer:innen und den arbeitenden Klassen Palästinas und der gesamten Arbeiter:innenbewegung des Nahen und Mittleren Ostens, aber auch mit den jüdischen Arbeiter:innen Israels, die bereit sind, mit dem Zionismus zu brechen, dessen Opfer sie letztlich auch sind, was ein Schritt zur Beendigung dieser reaktionären Ideologie wäre.

Dieses Programm und diese Strategie steht der Existenz eines kolonialistischen, theokratischen und jüdisch-suprematistischen Staates, wie er derzeit in Israel besteht, vollkommen entgegen. Aber unsere Perspektive ist auch gegen die illusorischen und reaktionären Aussichten auf die Schaffung von zwei Staaten gerichtet, oder sogar der Schaffung eines theokratischen muslimischen Staates anstelle Israels oder auch nur in den palästinensischen Gebieten vor 1967, wie der pragmatische Flügel der Hamas-Führung vorschlägt. Solche Vorschläge basieren auf einer Logik der Säuberung und/oder Unterdrückung der Gegner:innen der Islamist:innen. Sicher ist, dass die erste Bedingung für eine friedliche Koexistenz zwischen Araber:innen und Jüd:innen die Beendigung des israelischen Kolonial- und Apartheidsystems ist. Und für uns ist dies nur möglich, indem wir für ein freies, sozialistisches Palästina der Arbeiter:innen kämpfen. Ein Projekt, das nicht das der Hamas und ihrer islamistischen Verbündeten ist. Sondern ein Projekt, das prinzipiell die volle Solidarität mit der palästinensischen Sache, mit dem palästinensischen Recht auf Rückkehr, Selbstbestimmung und Widerstand gegen zionistische Unterdrückung und Besatzung einschließt.

Dieser Artikel wurde ursprünglich in Revolution Permanente, der französischen Ausgabe des Internationalen Netzwerks La Izquierda Diario / Klasse Gegen Klasse, veröffentlicht. In angepasster Form erschien er unter anderem auch auf Englisch bei unserer US-amerikanischen Schwesterseite Left Voice.

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