Alle Macht für Erdoğan: Der eigentliche Putsch

15.09.2016, Lesezeit 4 Min.
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Der Säuberungsprozess im türkischen Staat breitet sich aus: Der Ausnahmezustand erlaubt Staatspräsident Erdogan, unter dem Label des „Kampfes gegen den Terror“ die demokratischen Rechte zu beschneiden und die Opposition zu liquidieren.

In den letzten Tagen sind insgesamt 28 Bürgermeister*innen und Stadträte durch von der AKP ernannte Verwalter abgesetzt worden. Dies wurde durch eine weitere Notverordnung der Regierung ermöglicht, nachdem zehntausende Beamt*innen entlassen wurden. Diese Dekrete dienen der AKP als Mittel, um ihren zivilen Putsch nach dem 15. Juli fortzuführen.

Das Dekret Nummer 672 wurde am 1. September veröffentlicht. Dadurch sollten die Anhänger*innen der Gülen-Bewegung (FETÖ) aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden. Das wirklich Bemerkenswerte des Dekrets ist jedoch, dass ohne eine Nachforschung nur die Vermutung des Verbrechens für die Entlassung ausreichend ist. Dadurch sind über 50.000 Beamt*innen entlassen worden, darunter auch die „Akademiker*innen für Frieden” und Mitglieder der linken Dachgewerkschaft KESK, die nichts mit dem Putschversuch zu tun haben. Unter dem Deckmantel einer Operation gegen Putschist*innen, fand damit auch eine Liquidierung aller oppositionellen Kräfte statt. Am 8. August wurden 11.285 weitere Lehrer*innen entlassen, mit der Anklage, sie seien PKK-Sympathisant*innen. Alle waren bei der regierungskritischen Bildungsgewerkschaft EĞİTİM-SEN organisiert und bildeten meistens in Schulen der kurdischen Gebiete aus. Das führte letztendlich dazu, dass fast 10 Prozent aller Mitglieder der EĞİTİM-SEN entlassen wurden. In einer Grundschule in Ovacık gibt es sogar gar kein Personal mehr.

Der Gewerkschaftsvorsitzende von EĞİTİM-SEN, Mesut Fırat, erklärte, dass ihre legalen gewerkschaftlichen Tätigkeiten, wie ihre Streiks bei den Gezi-Protesten oder ihre Erklärungen gegen die Regierung bestraft werden. Die Dachgewerkschaft KESK, in dem sich auch EĞİTİM-SEN befindet, ruft zu einer Versammlung vom 15.-17. September auf, um über mögliche Aktionen und Widerstandsperspektiven zu diskutieren. Die Frage, ob daraus ein Streikaufruf entsteht, bleibt offen.

Besatzung lokaler Regierungen

„Manche sagen ‚Wie kann man gewählte Personen überhaupt absetzen?‘ Ganz einfach…“, das waren die Worte Erdoğans, nachdem am 11. September 28 gewählte Gemeindevertreter*innen durch Zwangsverwalter der Regierung abgesetzt wurden. 24 davon unter dem Vorwurf, dass sie die Ressourcen des Staats in den Dienst der PKK gestellt haben. Trotz der Proteste haben die Regierungsberechtigten die Rathäuser mit Panzern und Polizei besetzt. Die Protestierenden wurden festgenommen, kurdische Tabellen abgehängt und überall wurde die türkische Flagge aufgehängt.

Die Absetzungen sind aber nicht zufällig gewählt. Genau in den Gebieten, in denen Bürgermeister*innen abgesetzt wurden, hatte die Demokratische Partei der Regionen (DBP) bei den Kommunalwahlen in 2014 mit sehr hohen Prozentzahlen (im manchen Kommunen sogar über 80 Prozent) gesiegt. In diesem Gebieten wurden Selbstverwaltungsaufrufe gestartet und auch die härtesten Konflikte fanden in diesen Gebieten statt. Nach den Operationen deutete Ministerpräsident Binali Yıldırım an, dass es zu weiteren Absetzungen kommen kann.

Gegen Ausnahmezustand und bonapartistische Angriffe!

Unbestritten ist es eine reaktionäre Handlung, dem unterdrückten kurdischen Volk das Recht auf Repräsentation in Parlament und Gemeinde zu entziehen. Diese Politik steht in direkter Verbindung zur Besatzung Nordkurdistans, welche nun durch die Absetzungen eine neue Dimension erreicht hat. Die Kontrolle über die lokalen Regierungen ermöglicht dem türkischen Staat eine viel größere Macht über die unterdrückte kurdische Bevölkerung in Bezug auf natürliche Ressourcen und kurdische Arbeitskräfte. Was die Regierung nicht durch Wahlen oder den sogenannten Friedensprozess erreichen kann, erreicht sie durch Waffen und Überfälle.

Die Funktionsweise der im Land bestehenden bürgerlichen Demokratie stößt durch die zunehmende Bonapartisierung langsam an ihre Grenzen. Erdoğan und die von ihm angeführte AKP-Regierung wollen den Ausnahmezustand noch weiter verlängern, um den bürgerlichen Staat und seine Organe völlig nach ihren Interessen umzugestalten. Die Regierung will jeglichem möglichen Widerstand keinen Raum geben, deswegen greift sie alle verbliebenen oppositionellen Kräfte an, bevor diese sich überhaupt gegen die Säuberungspolitik und die Bonapartisierung zur Wehr setzen können.

Während Immunitäten der oppositionellen HDP-Abgeordneten aufgehoben und die gewählten Bürgermeister*innen abgesetzt werden, verliert die Strategie der HDP, durch Parlamentarismus den türkischen Staat zu reformieren, an Bedeutung. Den Angriffen des türkischen Staates kann nur eine proletarische Einheitsfront in Allianz mit allen Unterdrückten entgegentreten – was heute in der Türkei oder in Kurdistan bedauerlicherweise nicht der Fall ist. Deshalb schreitet Erdoğans Kampf weiter voran.

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