Abschaffung der Polizei, Selbstverteidigung und Selbstorganisation

30.06.2020, Lesezeit 25 Min.
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Die #BlackLivesMatter-Bewegung hat die Frage der Existenz der Polizei an sich auf die Tagesordnung gesetzt. Sozialist*innen müssen überall damit beginnen, über die notwendigen Formen der Selbstorganisation nachzudenken, um den Kampf weiterzuentwickeln und zu stärken und schließlich eine breitere Konfrontation mit dem Kapital und dem Staat zu schaffen.

Bild: Eine Gruppe von Demonstrant*innen in Seattles Capitol Hill Occupation Protest. Quelle: Ruth Fremson

Zu keinem Zeitpunkt seit der Gründung formeller Polizeidienststellen in den Vereinigten Staaten war die Idee ihrer Abschaffung so verbreitet und so populär wie heute. Obwohl die Polizei von den Communities, die sie am meisten unterdrückt (insbesondere die ärmsten und nicht-weißen Communities), schon immer zutiefst gehasst wurde, konnte sie dennoch historisch auf eine landesweite, hohe Zustimmung über die politischen Spektren hinaus zählen. Diese Unterstützung scheint jedoch zu schwinden. Tatsächlich haben der Mord an George Floyd und die harte Repression gegen die darauf folgenden Aufstände viele dazu gebracht, die Integrität und sogar die Existenz der Polizei selbst in Frage zu stellen. Einer Umfrage des Wall Street Journal/NBC News zufolge, die zwischen dem 29. Mai und dem 2. Juni – auf dem Höhepunkt der Aufstände – durchgeführt wurde, gaben 59% der befragten US-Amerikaner*innen an, dass sie sich durch den Mord an George Floyd und die Handlungen der Polizei stärker beunruhigt fühlten als durch die Aktionen der Demonstrant*innen. Eine im gleichen Zeitraum durchgeführte Umfrage der Universität Monmouth ergab 78% Zustimmung für die Proteste.

Diese Verschiebung – von der Unterstützung der Polizei bis hin zur aktiven Infragestellung ihrer Existenz – ist zum großen Teil das Ergebnis einer militanten, multiethnischen Avantgarde von Jugendlichen und Arbeiter*innen, die unmittelbar nach der Ermordung von George Floyd auf die Straße gingen und seitdem weiter demonstrieren und protestieren. Die vielen Versuche lokaler und bundesstaatlicher Regierungen, die anfänglichen Aufstände zu ersticken – zunächst mit Gewalt und dann mit dem Versprechen kleinerer kurzfristiger Reformen –, sind weitgehend gescheitert. Überall auf der Welt sind Millionen Menschen in Solidarität und gegen ihre eigenen Polizeikräfte auf die Straße gegangen. In den USA finden unterdessen in mehreren Städten weiterhin täglich Proteste statt, dutzende rassistische Statuen wurden niedergerissen, und in mindestens zwei Städten haben die Demonstrant*innen Vollversammlungen oder Straßenbesetzungen etabliert, denen möglicherweise noch weitere folgen werden. Diese Demonstrant*innen haben Legitimität und Unterstützung aus weiten Teilen der US-amerikanischen Arbeiter*innenklasse erfahren – nicht nur, weil die Menschen wütend über die Polizeigewalt sind, sondern weil sie das ganze System satt haben. Die grausame und inkompetente Reaktion der Regierung auf die Coronavirus-Pandemie, die inzwischen zu mehr als 100.000 vermeidbaren Todesfällen geführt hat, und die daraus resultierende Wirtschaftskrise haben gezeigt, wie tiefgründig fehlerhaft und unhaltbar der Kapitalismus ist. Es ist nur natürlich, dass die aufgestaute Wut und Frustration über den kapitalistischen Staat und die Krisen, die er hervorgebracht hat, schließlich zu einem direkten Konflikt mit einer der Institutionen führen würde, die dieses Unterdrückungssystem täglich verteidigen und durchsetzen.

Wie Leo Trotzki 1939, noch vor der massenhaften Militarisierung der örtlichen Polizeidienststellen, betonte:

Jeder Staat ist eine Zwangsorganisation der herrschenden Klasse. Die Gesellschaftsordnung bleibt stabil, solange die herrschende Klasse fähig ist, den ausgebeuteten Klassen mit ihrem Staat ihren Willen aufzuzwingen. Polizei und Armee sind die wichtigsten Instrumente des Staats. Die Kapitalisten verzichten darauf – wenngleich durchaus nicht vollständig –, ihre eigenen Privatarmeen zu unterhalten, sie verzichten darauf zugunsten des Staates, um die Arbeiterklasse daran zu hindern, jemals ihre eigene bewaffnete Kraft zu schaffen.

Mit anderen Worten: Der weithin akzeptierte, aber völlig falsche Glaube, dass die Polizei im Dienst des Gemeinwohls stehe und neutrale Schiedsrichterin für Frieden und Ordnung sei, verzerrt die Realität des Klassenkampfes. Aber er verzerrt auch die Tatsache, dass die Arbeiter*innenklasse eine eigene bewaffnete Kraft braucht, wenn wir uns jemals von der Unterdrückung durch die Polizei befreien wollen.
Die #BlackLivesMatter-Bewegung hat die Frage der Existenz der Polizei an sich auf die Tagesordnung gesetzt. Jetzt müssen wir darüber nachzudenken beginnen, welche Strategie und welche Organisationen erforderlich sein werden, um ein solches Ziel wirklich zu erreichen, und wie wir am besten verhindern können, dass das gegenwärtige Regime die Forderungen der Bewegung kooptiert.

Das Joch des Reformismus

Seit Beginn der Aufstände Ende Mai haben Städte und Bundesstaaten im ganzen Land zwei widersprüchliche Ansätze verfolgt, um die Unruhen abzuwürgen. Einerseits haben Staaten und Gemeinden versucht, die Proteste mit Gewalt und Repression zu unterdrücken, um die Demonstrant*innen zur Unterwerfung zu bewegen. Tränengas, Gummigeschosse, brutale Schläge und ganzen Horden von Bereitschaftspolizist*innen wurden in Hunderten von Städten auf die Demonstrant*innen losgelassen. Allein in der ersten Woche wurden mehr als 10.000 Demonstrant*innen verhaftet, und viele werden immer noch aufgrund erfundener Anklagen festgehalten. Gleichzeitig haben Bürgermeister*innen und einige Gouverneur*innen versucht, die Proteste mit Reformversprechungen zu beenden. So stimmte der Stadtrat von Minneapolis kurz nach den ersten Aufständen in Minneapolis über einen Fahrplan zur endgültigen Auflösung der Polizei ab, während andere Städte, wie Los Angeles, rasch Gesetze zur Senkung der Polizeibudgets verabschiedeten. Aber diese Reformen sind zum jetzigen Zeitpunkt eigentlich nur Versprechungen und werden wahrscheinlich nicht zu einer wesentlichen Änderung der Art und Weise führen, wie sich die Polizei verhält. Die herrschende Klasse hat kein wirkliches Interesse daran, die polizeiliche Repression zu beenden, insbesondere gegen Schwarze US-Amerikaner*innen, eben weil diese Repression eine der Säulen ist, auf denen ihre eigentliche Macht ruht. Sicher, die Bourgeoisie würde eine weniger skrupellose, gewalttätige und umstrittene Polizei bevorzugen, wenn das möglich wäre, und sie mag für einige Änderungen in dieser Richtung empfänglich sein. Aber unabhängig davon, was diese*r oder jene*r bürgerliche Vertreter*in sagt, wird sich der grundlegende Charakter der Polizei nicht ändern, bis sie abgeschafft ist, und die Abschaffung der Polizei ist nichts, was durch Gesetzgebung erreicht werden kann.

Während die anfänglichen Versuche, den Protest weiter zu unterdrücken, nur zu größeren und wütenderen Menschenmassen führten, waren die vor allem von der Demokratischen Partei angeführten Bemühungen, die Bewegung durch Reformen zu kooptieren, etwas erfolgreicher, zumindest was die Erstickung der ursprünglichen Aufstände betrifft. Auch wenn die Proteste weiter wachsen und sich auf alle möglichen neuen Formen an die sich verändernde Situation anpassen, bleibt die liberale und reformistische Kooptierung eine sehr reale Bedrohung für die künftige Militanz der Bewegung. Kürzungen der Polizeibudgets, mehr Sozialausgaben und mehr Community-Aufsicht sind zwar positive Entwicklungen, die der Polizeigewalt und Repression etwas von ihrer Brutalität nehmen können, aber sie sind bei weitem keine ausreichenden Antworten auf das tief verwurzelte, jahrhundertealte System rassistischer staatlicher Repression. Deshalb müssen Sozialist*innen sich daran erinnern, dass wir zwar alle Veränderungen unterstützen, die der Arbeiter*innenklasse zugute kommen und ihre Macht vergrößern, dass unsere Strategie aber letztlich nicht auf Reform, sondern auf Umsturz ausgerichtet ist. Die Frage lautet also: Wie können Sozialist*innen und Aktivist*innen eine solche Kooptierung verhindern und gleichzeitig die Bewegung weiterhin zu radikaleren Schlussfolgerungen und radikaleren Organisationsformen drängen, die in der Lage sind, den kapitalistischen Staat wirklich herauszufordern?

In ihrer jetzigen Form läuft die Bewegung Gefahr, von zwei deutlich unterschiedlichen Ausdrucksformen des Reformismus kooptiert zu werden.

Die Mainstream-Demokraten haben die Bewegung als eine neue Gelegenheit begrüßt, Wähler*innenstimmen zu gewinnen, Trump in Verlegenheit zu bringen und ihre eigene rassistische Geschichte zu beschönigen. Es gibt vielleicht kein besseres Beispiel dafür als die peinlichen Fotos hochrangiger weißer Parlamentsabgeordneter der Demokratischen Partei – darunter Nancy Pelosi und Charles Schumer -, die sich im selben Kongress, in dem ihre Partei zusammen mit den Republikanern seit Jahrhunderten die Unterdrückung des Schwarzen Amerika überwacht, ernsthaft in Kente-Tüchern hinknieten. Während nationale und lokale demokratische Spitzenpolitiker*innen einige milde Gesetzesreformen vorgeschlagen haben, um eine außer Kontrolle geratene Polizei zu zügeln, lenken solche Beruhigungsmittel nur von der Tatsache ab, dass der Mord an George Floyd unter der Aufsicht eines demokratischen Bürgermeisters und Gouverneurs stattfand. Ebenso werden die Stadt und der Bundesstaat, in dem Breonna Taylor in ihrem eigenen Haus von der Polizei ermordet wurde, ebenfalls von Demokraten regiert. Die Demokraten haben in der Tat eine lange und schreckliche Geschichte der Unterstützung von Polizeigewalt. Schließlich war es das Kriminalgesetz des demokratischen Präsidenten Bill Clinton von 1994, das die Explosion der Häftlingszahlen auslöste, die Zahl der Streifenbeamt*innen auf den Straßen erhöhte und zu den exorbitanten Polizeibudgets führte, die wir heute im ganzen Land sehen. Unterdessen hat der eigene Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei auf bizarre Weise argumentiert, dass die Polizei Menschen „ins Bein statt ins Herz“ schießen sollte.

Unterdessen hat sich die Führung der Democratic Socialists of America (DSA), die die Demokratische Partei seit Jahrzehnten als Plattform für ihre Kandidat*innen benutzt hat, leider weitgehend von der Idee abgewandt, die Bewegung hin zu einem offenen Kampf gegen das ausbeuterische und rassistische Zweiparteiensystem zu entwickeln. Es stimmt zwar, dass viele einfache Mitglieder der DSA auf der Straße Proteste organisiert haben, aber der Jacobin-Flügel der Organisation verfolgt weiterhin eine Strategie des Sozialismus durch Wahlerfolge. So hat die DSA den größten Teil ihrer Ressourcen für die Förderung von Kandidat*innen der Demokratischen Partei im ganzen Land aufgewendet, anstatt die Energie ihrer 70.000 Mitglieder für die Entwicklung des Kampfes und die Förderung unabhängiger sozialistischer Kandidat*innen einzusetzen, um mit den Demokraten zu brechen.

Die Vorwahlen der Demokraten am 23. Juni haben gezeigt, dass ein bedeutender Teil der Wähler*innen bereit ist, für Schwarze, Braune, fortschrittliche und sogar sozialistische Kandidat*innen wie Jibari Brisport zu stimmen. Jedoch besteht das Problem darin, dass die Wahlpolitik der DSA auf der Unterstützung von Kandidat*innen der Demokraten beruht und alle Energie, die auf die Straße hätte fließen können, tatsächlich in den Dienst des Wiederaufbaus einer der Säulen des Regimes gestellt wurde. So hat zum Beispiel erst vor zwei Wochen, mitten in den Aufständen, die lokale Führung der DSA in New York City den Mitgliedern mitgeteilt, dass der beste Weg, die Bewegung am Laufen zu halten, darin bestünde, zu den Vorwahlen der Demokraten zu gehen. Solch ein simpler Elektoralismus wird nicht dazu beitragen, die Bewegung am Laufen zu halten. Im Gegenteil, da er in dieselbe Kerbe schlägt, die die Demokraten benutzen, um die Bewegung zu kooptieren, ist er ein Rezept zur Demobilisierung.

Die Rolle von Sozialist*innen sollte stattdessen darin bestehen, die Radikalisierung der Bewegung voranzutreiben und jede entstehende Tendenz zur Selbstorganisation, zu Methoden der Arbeiter*innenklasse und zur Unabhängigkeit von der Bourgeoisie zu ermutigen und weiterzuentwickeln. Es wäre jedoch ein Fehler, in die Bewegung einzugreifen, ohne vorzuschlagen, dass aus ihr eine neue politische Organisation hervorgehen sollte. Wir können nicht auf der Straße kämpfen, während die Demokraten die ganze Politik machen. Wir, die Arbeiter*innen und jungen Studierenden, die das Herz der Bewegung sind, müssen unsere eigene politische Organisation aufbauen und mit den kapitalistischen Parteien brechen, um mit einer revolutionären Perspektive in den Kampf zu treten und um wirklich sozialistische und unabhängige Kandidat*innen zu fördern, die beide Parteien anprangern und ihre Kandidatur in den Dienst des Kampfes stellen.

Trotz des politischen Drucks, sich auf kurzfristige Reformen und Wahlen zu konzentrieren, gibt es Anzeichen dafür, dass die Bewegung über solche engen Taktiken hinausgehen kann und will. In Detroit zum Beispiel organisieren Demonstrant*innen regelmäßig öffentliche Versammlungen, um die Strategie zu diskutieren. Anfang dieses Monats haben sie ein öffentliches Tribunal gegen den Bürgermeisters und den Polizeichef abgehalten. In Seattle haben die Demonstrant*innen kurzzeitig das Rathaus besetzt und halten einen sechs Blöcke umfassenden Teil der Stadt, der als „Capitol HIll Occupied Protest“ (CHOP) bekannt ist, permanent besetzt. In der Zwischenzeit haben sich erst in der vergangenen Woche Tausende von Demonstrant*innen in einer Besetzung des an das New Yorker Rathaus angrenzenden Parks versammelt und begonnen, offen und kollektiv ihre Forderungen zu diskutieren. Dazu gehört unter anderem eine Kürzung des Budgets der New Yorker Polizei um 1 Milliarde US-Dollar. Solche Aktionen zeigen, dass viele in der Bewegung bereit sind, mehr zu tun, als spontan auf den Demoaufruf dieser oder jener Gruppe von Aktivist*innen zu hören, und bereit sind, militantere Organisationsformen aufzubauen.

Arbeiter*innendemokratie und Selbstverteidigung

So vielversprechend diese Entwicklungen auch sind – sie müssen erweitert und vertieft werden, wenn wir die Kooptierung, Ermüdung und Demoralisierung vermeiden wollen, die so viele andere Bewegungen erlebt haben. Es ist die Aufgabe aller Sozialist*innen, sich Gedanken über die notwendigen Schritte zu machen, damit die Bewegung sich radikalisieren, verbreiten und eine revolutionäre Perspektive annehmen kann. Wenn wir die Forderung nach Abschaffung der Polizei ernst nehmen wollen, dann müssen wir in der Lage sein, die dafür nötigen Organisationen zu schaffen, um die Polizei endgültig aus unseren Communities zu vertreiben. Eine Möglichkeit, mit dem Aufbau solcher Organisationen zu beginnen, ist die Schaffung lokaler Versammlungen im ganzen Land in Stadtzentren, auf Plätzen, in Schulen und an Arbeitsplätzen. Die embryonalen Formen solcher Organisationen nehmen bereits in Seattle und New York City Gestalt an. Wenn wir jedoch wirklich für einen längeren Zeitraum „autonome Gebiete“ erobern wollen, müssen wir ein Bündnis der gesamten Arbeiter*innenklasse schmieden, um echte Kontrolle über den Transport, die Verteilung von Gütern und Lebensmitteln, die Produktion und natürlich die Selbstverteidigung zu erlangen.

Um ein mächtiges Bündnis der Arbeiter*innen und Unterdrückten zu schmieden, ist es unerlässlich, dass die Bewegung neben dem Kampf für die Abschaffung der Polizei auch eine beharrliche Konfrontation mit dem Kapitalismus beginnt. Die erste Aufgabe der Arbeiter*innenbewegung besteht darin, die Polizeigewerkschaften aus ihren Organisationen zu vertreiben. Das Schmieden eines mächtigen Bündnisses zwischen Arbeiter*innen und Unterdrückten erfordert, dass die Bewegung sich ein Programm zu eigen macht, das den Kampf gegen Rassismus und die Abschaffung der Polizei ebenso einschließt wie den Kampf für die unmittelbarsten Forderungen der Arbeiter*innenklasse, die durch die Pandemie entstanden sind: den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und für Gesundheit, Bildung und Wohnen. Der Kampf der Arbeiter*innenklasse, der bei Ausbruch der Pandemie explodierte, ist untrennbar mit dem Kampf gegen Rassismus verbunden. Da der Kapitalismus auf Rassismus aufgebaut ist, und da es die nicht-weißen Menschen sind, die von der Gesundheitskrise und der daraus resultierenden Krise der Arbeitslosigkeit am härtesten getroffen wurden, gibt es keine Niederlage des einen ohne eine Niederlage des anderen. Die kombinierte Gesundheits-, Wirtschafts- und soziale Krise, deren Zeug*innen wir sind, und die Massenaufstände als Antwort auf den Polizeiterror haben wieder einmal die Frage nach der Selbstorganisation der Arbeiter*innenklasse auf die Tagesordnung gesetzt und den sehr realen Bedarf an Organisationen der Klassenmacht und Selbstverteidigung der Arbeiter*innen gezeigt.

Wenn es um Selbstverteidigung geht, fallen einem natürlich als erstes Beispiel die Black Panthers ein, die erfolgreich bewaffnete Milizen aufgebaut haben, um Schwarze Communities vor polizeilicher und rassistischer Gewalt zu verteidigen. Die Panthers konnten auch auf massive Unterstützung der Communities zählen, die hauptsächlich auf den Sozialprogrammen basierte, die sie zur Verfügung stellten, um die dringendsten Bedürfnisse der Schwarzen Massen in einem Land mit endemischer rassistischer Segregation zu erfüllen. Die Grenze der von den Black Panthers vorangetriebenen Selbstverteidigung liegt jedoch darin, dass sie nicht auf massenhafter demokratischer Selbstorganisation beruhte; sie hatten weder die Massenmitgliedschaft noch die Methodik, sich vorher an den Arbeitsplätzen zu organisieren, und verfügten daher nicht über die Feuerkraft, die vom Arbeitsplatz im Herzen der kapitalistischen Produktion ausgeht. Der Staat war in der Lage, die Organisation zu isolieren und die Panthers gewaltsam zu unterdrücken, weil sie weder über die ökonomische Macht noch über die Massenorganisation verfügten, um die Polizei offensiv zu bekämpfen.

Ein Beispiel für erfolgreiche Arbeiter*innen-Selbstorganisation sind die Arbeiter*innenrräte in Alabama in den 1930er und 1940er Jahren, die ein wichtiger Teil der Geschichte des Kampfes der Schwarzen in den USA sind. Trotz der zunehmend rechtsgerichteten Ausrichtung der Kommunistischen Partei der Vereinigten Staaten (CPUSA) – angetrieben von ihrer stalinistischen Fraktion, die in der katastrophalen Volksfrontpolitik mit Roosevelt endete – waren es Kommunist*innen, die es mit dem repressiven, rassistischen Polizeistaat Alabama aufnahmen, um für wirtschaftliche Gerechtigkeit, ein Ende rassistischer Ungleicheit und für demokratische und politische Rechte für Schwarze und Weiße zu kämpfen. Sie taten dies, indem sie Schwarze Arbeiter*innen und Pächter*innen und eine Handvoll Weiße, darunter arbeitslose Industriearbeiter*innen, Hausfrauen, Jugendliche und abtrünnige Liberale, in demokratisch funktionierenden Räten organisierten. 1930 war die Stadt Birmingham in Alabama eines der Epizentren der Wirtschaftskrise und der Arbeitslosigkeit. Am stärksten betroffen waren die Schwarzen Arbeiter*innen, die en masse zur Subsistenzlandwirtschaft zurückkehren mussten, um zu überleben. Die Schwarzen Massen litten unter dem Mangel an Wohnraum, Bildung, Arbeitsplätzen und Sozialleistungen. Wie Robin D.G. Kelley, Autor von Hammer and Hoe: Alabama Communists During the Great Depression („Hammer und Hacke: Die Kommunisten Alabamas während der Weltwirtschaftskrise“) sagt: „Die Nachfrage nach Arbeitsplätzen war so groß, dass zahlreiche unabhängige Anstrengungen von Industriellen und Organisationen der Mittelschicht unternommen wurden, um die Situation zu lindern.“ Aber es ging nicht nur um wirtschaftliche Forderungen. Die Schwarze Arbeiter*innenklasse in Alabama hatte gegen die rassistische Gewalt des KKK und der Polizei zu kämpfen. Auf Initiative der kommunistischen Aktivist*innen entstanden in der ganzen Stadt Nachbarschaftsräte, von denen viele von arbeitenden Frauen geleitet wurden, denen sich schnell Pächter*innen, arbeitslose Industriearbeiter*innen und Frauen, die für die Familienhilfe zuständig waren, anschlossen. Diese Räte, die gebildet wurden, um die schärfsten Auswirkungen der Krise zu bekämpfen, nahmen dann den Kampf gegen den Rassismus auf, der die Schwarzen Communities plagte.

Von entscheidender Bedeutung für die Arbeiter*innenbewegung ist auch das Beispiel der Räte für Arbeitslose, die sich als Reaktion auf die durch die Weltwirtschaftskrise entstandene Massenarbeitslosigkeit in mehreren Regionen des Landes ausbreiteten. In vielen Bundesstaaten organisierten Kommunist*innen über die Trade Union Unity League („Liga der Gewerkschaftseinheit“) Dutzende von Arbeitslosenräten im ganzen Land.

1929, als Millionen von Arbeiter*innen durch die Wirtschaftskrise auf den Straßen landeten, spielten Kommunist*innen und Trotzkist*innen eine Schlüsselrolle bei der Organisation von Arbeitslosenräten in mehreren Städten des Landes. Dies geschah angesichts der Weigerung der großen aufstrebenden Gewerkschaftszentralen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und die unorganisierten Arbeiter*innen zu organisieren. Diese Räte mobilisierten nicht nur für eine Arbeitslosenversicherung, sondern organisierten die Arbeiter*innenklasse im Kampf gegen alle Auswirkungen der Krise, z.B. Obdachlosigkeit und Zwangsräumungen. Wie Christine Ellis von einer Sitzung des Arbeitslosenrates in Chicago berichtet:

Wir sprachen mit einfachen Worten, erklärten die Plattform, die Forderungen und Aktivitäten des Arbeitslosenrates. Und dann sagten wir: „Gibt es irgendwelche Fragen?“…. Schließlich stand ein älterer Schwarzer Mann auf und sagte: „Was gedenkt ihr Leute gegen diese Schwarze Familie zu unternehmen, die heute aus ihrem Haus geworfen wurde?… Sie sind immer noch da draußen mit ihren Möbeln auf dem Bürgersteig.“ Also sagte der Mann neben mir: „Ganz einfach. Wir vertagen die Versammlung, gehen rüber und stellen die Möbel wieder ins Haus. Danach kehrt jeder, der dem Arbeitslosenrat beitreten und eine Organisation zur Bekämpfung von Zwangsräumungen gründen möchte, in diesen Saal zurück, und wir werden weiter darüber sprechen.“ Das taten wir… alle anderen packten mit an, begannen, jedes letzte Möbelstück einzutragen, die Betten zu richten… und als das alles erledigt war, gingen wir zurück in die Halle. Sie war überfüllt!

Seattle 1919

Ein weniger bekanntes und höchst bedeutsames Beispiel für Selbstorganisation und Selbstverteidigung mit all ihrem radikalen Pozential ist jedoch das des so genannten „Washingtoner Sowjets“ von 1919, der sein Epizentrum in der Stadt Seattle hatte. Am 6. Februar 1919 traten mindestens 65.000 Arbeiter*innen in Seattle in einen Generalstreik. Die Arbeiter*innen übernahmen für sechs Tage die Kontrolle über die gesamte Stadt. Der Streik fand zur Unterstützung von 35.000 Werftarbeiter*innen statt, „damals im Konflikt mit den Werfteigentümern der Stadt und dem U.S. Shipping Board der Bundesregierung, das noch immer Tarifverträge aus Kriegszeiten durchsetzte“. Der Zentrale Arbeitsrat von Seattle, der 110 der American Federation of Labor (AFL) angeschlossene Gewerkschaften vertrat, rief zum Streik auf. Dem Historiker Cal Winslow zufolge schufen die Arbeiter*innen in Seattle

… eine eigene Kultur, mit „sauberen“ Gewerkschaften, die nicht von Gangstern geführt wurden; mit einer Massenzeitung im Besitz der Arbeiter*innen (derSeattle Union Record), die 1918 die einzige Zeitung dieser Art war; mit sozialistischen Schulen, in denen der Unterricht sowohl in ihren Klassenzimmern als auch im Freien stattfand; es gab IWW-Chöre, Gemeinschaftstänze und Picknicks.

Der Zentrale Arbeitsrat richtete einen Generalstreikausschuss ein, an dem die Delegierten aller Gewerkschaften teilnahmen, ein echtes Organ der Selbstorganisation. Während der Generalstreik andauerte, übernahm das Generalstreikkomitee die Leitung der gesamten Stadt und der wesentlichen Dienstleistungen, ohne Bosse, ohne die kapitalistischen Politiker*innen und ohne die Polizei.

In seinem Klassiker A People’s History of the United States beschreibt Howard Zinn, wie diese sechs glorreichen Tage gelebt wurden, während die Arbeiter*innenklasse enorme revolutionäre Fortschritte machte:

Dann hörte die Stadt auf zu funktionieren, abgesehen von den Dienstleistungen, die von den Streikenden organisiert wurden, um die Grundbedürfnisse zu sichern. Die Feuerwehrleute erklärten sich bereit, im Dienst zu bleiben. Wäschereiarbeiter*innen reinigten nur Krankenhauskleidung. Fahrzeuge, die zum Fahren zugelassen waren, trugen Schilder mit der Aufschrift „vom Generalstreikkomitee ausgegeben“. Sie richteten fünfunddreißig Molkereien in der Nachbarschaft ein. Sie organisierten eine Workers‘ War Veterans‘ Guard, um den Frieden zu wahren. An der Tafel eines ihrer Hauptquartiere hieß es: „Der Zweck dieser Organisation ist die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung ohne Anwendung von Gewalt. Kein Freiwilliger soll die Macht haben oder irgendeine Art von Waffe tragen dürfen. Es wird ihm nur erlaubt sein, Überzeugungsarbeit zu leisten.“ Während des Streiks ging die Zahl der Straftaten in der Stadt zurück.

Mit anderen Worten: Sechs Tage lang hielt die Arbeiter*innenklasse von Seattle die territoriale Kontrolle in ihren Händen, indem sie streikte, die Stadt neu organisierte und eine Veteranen-Arbeitermiliz ins Leben rief. Sie organisierten sich als Alternative zur bürgerlichen Macht, strichen die Polizei und hielten die Armee in Schach. Stellen wir uns diese Erfahrung heute vor, wie sie Schwarze und Latino-Viertel mit den Arbeiter*innen, die die Produktion, Verteilung und Dienstleistungen kontrollieren, vereinen könnte. Stellen wir uns vor, diese Macht würde sich heute auf Arbeiter*innenmilizen verlassen, um der Repression entgegenzutreten und sich gegen Angriffe weißer „Bürgerwehren“ zu verteidigen. Aber wir brauchen Feuerkraft, und diese Feuerkraft liegt in den Händen der Arbeiter*innenklasse und der Unterdrückten. Nur so können wir diese Aufstände in einen Kampf gegen das gesamte System der rassistischen Unterdrückung und kapitalistischen Ausbeutung verwandeln.

Doppelmacht

In seinem Werk Die Geschichte der Russischen Revolution erklärt Leo Trotzki die Bedeutung und Notwendigkeit der Doppelmacht für jede erfolgreiche Revolution. „Keine historische Klasse“, sagt Trotzki:

… erhebt sich aus der unterdrückten Lage zur herrschenden mit einem Male, sozusagen über Nacht, mag es auch die Nacht einer Revolution sein. Sie muß schon am Vorabend in bezug auf die offiziell herrschende Klasse eine höchst unabhängige Stellung eingenommen haben; mehr noch, sie muß die Hoffnungen der Zwischenklassen und -schichten, der mit dem Bestehenden Unzufriedenen, aber für eine selbständige Rolle Unfähigen, auf sich konzentriert haben.

Wie Trotzki hier deutlich macht, werden die Samen der Revolution fast immer mit der Selbstorganisation entwickelt und oft Jahre oder – wie im Fall der bolschewistischen Revolution – sogar Jahrzehnte im Voraus gepflanzt. Die russischen Sowjets sind nur ein Beispiel dafür, wie sich solche Organisationen der Doppelmacht entwickeln können.

Die gegenwärtigen Aufstände gegen Polizeigewalt sind zwar weit von einem revolutionären oder auch vorrevolutionären Moment entfernt, haben aber dennoch das Potenzial, die Frage der Macht zu stellen, insbesondere die Frage der Polizeimacht, die für die Existenz des Staates von zentraler Bedeutung ist. Zwar sind die Stimmen, die die Abschaffung der Polizei fordern, nach wie vor in der Minderheit im Vergleich zu denjenigen, die immer noch fälschlicherweise glauben, dass die Polizei reformiert werden kann; außerdem stehen sie einer heftigen Repressions- und Kooptierungskampagne von allen Seiten des politischen Spektrums gegenüber. Doch die Forderung selbst ist qualitativ anders als alles, was wir zumindest seit den 1960er Jahren in den USA gesehen haben.

Ob sich aus diesen Protesten neue Formen der Selbstorganisation und Selbstverteidigung ergeben werden, hängt vom Klassenbewusstsein derer ab, die derzeit kämpfen, von der Fähigkeit der Linken, mit einem revolutionären Programm einzugreifen, und von ihrer Bereitschaft und Fähigkeit, den Kampf gegen die Polizeirepression mit den umfassenderen Kämpfen zu verbinden, die bereits aufgrund der durch die Pandemie verursachten wirtschaftlichen und sozialen Krise entstehen. Aus einer revolutionären Perspektive könnten solche Formen der Selbstorganisation, sollten sie Gestalt annehmen, und sollten sie durch die Bedingungen der andauernden Krise (einschließlich des Aufstiegs organisierter weißer „Bürgerwehren“) weiter notwendig werden, zu den Keimformen eines eventuellen Systems der Doppelmacht werden, das in der Lage ist, den Staat ernsthaft herauszufordern und bedeutende Forderungen durchzusetzen. Die Reformist*innen werden sagen, dass dies unmöglich ist, dass wir uns mit Straßendemonstrationen und kosmetischen Reformen begnügen sollten. Abgesehen davon, ob sich die gegenwärtige Bewegung in eine revolutionäre Richtung entwickelt oder nicht, ist es für uns von grundlegender Bedeutung, dass ein Teil der breit mobilisierten Massen die Schlussfolgerung zieht, dass es notwendig und dringend ist, das System herauszufordern, und dass es sich lohnt zu kämpfen. Möge das Wort Revolution in den Mündern dieser neuen Generation wieder erklingen.

Während solche Prognosen übertrieben optimistisch klingen mögen, wenn man bedenkt, wo die USA noch vor ein oder zwei Jahren politisch standen – als die Linke von der Reformkampagne von Bernie Sanders dominiert wurde -, ist klar, dass sich etwas geändert hat. Wir sind Zeug*innen des politischen Erwachens einer ganz neuen Generation von Aktivist*innen und Protestierenden, die viel mehr daran interessiert sind, dem Kapitalismus und dem Staat entgegenzutreten, und die viel weniger zu verlieren haben als fast alle US-Generationen vor ihnen. Nimmt man dazu noch die globale Pandemie, die Massenarbeitslosigkeit (die junge Menschen besonders hart getroffen hat) und die Wirtschaftskrise, die in ihrem Ausmaß wahrscheinlich mit der Großen Depression konkurrieren wird, so ist leicht zu erkennen, dass die Zukunft der kommenden Kampfperiode in den USA noch sehr offen ist. Der Aufbau und das Experimentieren mit neuen Formen der Selbstorganisation und Selbstverteidigung, verbunden mit dem Kampf der Arbeiter*innenklasse und vertreten durch eine revolutionäre Partei für die Arbeiter*innenklasse, ist vielleicht die wichtigste Aufgabe für die Bewegung heute.

Dieser Artikel erschien zuerst am 28. Juni 2020 bei Left Voice.

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