800 Menschen beim MarxisMuss-Kongress

10.05.2016, Lesezeit 5 Min.
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Am Wochenende trafen sich über 800 Menschen beim "Marx Is' Muss"-Kongress in Berlin.

Alles fing mit einem Aufkleber an. Athina, die Ökonomie an der Uni Köln studiert, sah einen Sticker auf dem Klo. Es ging um einen marxistischen Kongress in Berlin. „Ich haben nicht viel Ahnung von marxistischer Theorie“, sagt sie, „und ich dachte das ist ein guter Einstieg.“ So gelangte Anastasiadou am Wochenende in das Verlagsgebäude Neues Deutschland in Ostberlin. Sie war eine von 823 Teilnehmer*innen des „Marx Is‘ Muss“-Kongresses, der jedes Jahr vom trotzkistischen Netzwerk „Marx21“ ausgerichtet wird. Der Prachtbau wurde 1974 am Franz-Mehring-Platz eröffnet. Wer hätte gedacht, dass er eines Tages von Trotzkist*innen wimmelt?

Von Donnerstag bis Sonntag fanden über 100 Workshops statt – allein das Programmheft umfasst 36 Seiten. Diskutiert wird über Gramsci, Focault, Lenin – parallel über Syriza, Podemos und die Linkspartei. Kunst kommt auch nicht kurz, und einzelne Workshops behandeln Suprematismus in der frühen russischen Revolution, David Bowie oder modernen Hiphop.

Ein Block dauert nur 90 Minuten – nach einem Vortrag tauschen sich alle mit ihren Sitznachbarn in einer kurzen „Murmelrunde“ aus. Durchgehend laufen zehn Veranstaltungen nebeneinander. Während Leandros Fischer über die Geschichte der sogenannten „Antideutschen“ referiert, ist der Seminarraum so voll, dass Menschen draußen im Flur zuzuhören versuchen – ein Teilnehmer spricht von einem „Pumakäfig“, in dem jedoch sehr lebhaft diskutiert wird.

Lohnarbeit und Kapital

Der Kongress begann am Donnerstag mit einem „Seminartag“. Am 198. Geburtstag von Karl Marx hat Sebastian Doll, der bei der Linksjugend-Solid in der Stadt Neuss aktiv ist, „Lohnarbeit und Kapital“ zusammen mit anderen gelesen. Jeder soll sich in die Grundlagen marxistischer Theorie hineinlesen können, bevor das eigentliche Programm losgeht.

Jahr für Jahr wird der Kongress größer. „Die Mobilisierung läuft immer weniger über Flyer und immer mehr über soziale Medien“, erklärt Michael Ferschke von den Organisator*innen. Außerdem gäbe es einen wachsenden Stamm von Menschen, die jedes Jahr kommen. Das Publikum ist vorwiegend studentisch, viele sind im Studierendenverband Linke.SDS oder in der Linksjugend-Solid aktiv, denn Marx21 ist ein Netzwerk innerhalb der Linkspartei. Aber es gibt auch einen wachsenden Anteil von Arbeiter*innen, dieses Jahr zum Beispiel Erzieher*innen und Krankenhaus-Beschäftigte. Beim Seminartag hat es deswegen auch erstmals Diskussionen zum Thema „Betrieb und Gewerkschaft“ gegeben. „Eigentlich geht es uns als Marxist*innen letztendlich um Arbeiter*innen“, so Ferschke.

Sozialismus und Feminismus

„Sozialismus ohne Feminismus macht keinen Sinn, weder intellektuell noch moralisch“, sagt Laurie Penny, junge Autorin aus London, bei einer Podiumsdiskussion am Freitag Abend vor mehreren hundert Menschen. Sie plädiert für einen offensiven Feminismus, auch wenn er für manche Menschen bedrohlich wirkt. „Der Kampf für Frauenrechte bedeutet nicht, dass Männer Rechte verlieren sollte, als gäbe es nur eine begrenzte Menge Freiheit.“ In der Pause wird Penny nach einem Autogramm gefragt – sie unterschreibt gern, aber gibt zu: „Ich muss mich noch daran gewöhnen“. In Deutschland wird sie in linken Kreisen wie ein Popstar empfangen und spricht immer wieder vor vollen Sälen – in ihrer Heimat dagegen hat sie bisher eine einzige Buchvorstellung gehabt, sagt sie.

Viele Teilnehmer*innen verließen am Samstag Nachmittag den Kongress, um einen Naziaufmarsch zu blockieren. Nach einigen Stunden kamen sie wieder, teilweise noch mit prickelnder Haut nach den Polizeiübergriffen mit Pfefferspray. Passenderweise gab es am Abend ein Podium über die Frage: „Wie stoppen wir die AfD, Pegida und Co.?“ Die Bundestagsabgeordnete Christine Buchholz von Marx21 nannte die AfD eine „echte Gefahr“, weil diese „die gesellschaftliche Debatte nach rechts verschiebt.“ Als Antwort darauf plädierte sie für „breite und entschlossene Bündnisse, bis weit ins gewerkschaftliche und sozialdemokratische Lager hinein.“

Bündnisse und Sozialdemokrat*innen

„Aufstehen gegen Rassismus“ heißt das Bündnis, das im Wesentlichen von Marx21 vorangetrieben wird und bereits 17.000 Unterschriften erhielt, auch von prominenten Sozialdemokrat*innen wie Manuela Schwesig. Geplant ist, neben Lichterketten gegen rechts, die Ausbildung von „10.000 Stammtischkämpfer*innen“, die den Rechtspopulist*innen „diskursiv entgegentreten“ sollen. Im Sinne dieses breiten Bündnisses war Marx21 bei der Podiumsdiskussion sehr zurückhaltend mit Kritik an der SPD: Stefan Brauneis, stellvertretender Vorsitzender der Jusos, wurde nicht mit Fragen über staatlichen Rassismus, Asylrechtsverschärfungen und Waffenexporte belästigt. Wegen der Ausklammerung der sozialen Frage wird dieses Bündnis von vielen Teilen der Linken kritisch beäugt.

Die Veranstalter*innen sprechen vom „größten linken Kongress“ in Deutschland – was, je nach Zählweise, nicht unbedingt stimmt. Am Samstag Abend schallt Hiphop-Musik von „Attackiert das System“ durch den Innenhof des Verlagsgebäudes, während hunderte junge Menschen ihre Hände heben. Die Szene sieht zumindest ganz anders aus, als sich die meisten Menschen einen „Marxismus-Kongress“ vorstellen würden.

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