10 Jahre nach der Ermordung von Hrant Dink – 102 Jahre nach dem Genozid an den Armenier*innen

19.01.2017, Lesezeit 8 Min.
Gastbeitrag

Heute jährt sich zum zehnten Mal der Todestag des armenischen Journalisten Hrant Dink. Er stand sinnbildlich für den Kampf um die Anerkennung des Genozids am armenischen Volk 1915. Ein Gastbeitrag von Minas Berberian.

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Am 19. Januar 2007 erschoss ein 17-jähriger aus Trabzon vor dem Zeitungsbüro der armenischen Zeitung AGOS in Istanbul den Chefredakteur Hrant Dink. Er verschwand unter den Massen und hinterließ eine Legende. Damit knüpft der Mörder an die blutige Tradition in der Türkei an, nach der die unbeliebten armenischen Intellektuellen durch physische Vernichtung oder Vertreibung ausgelöscht werden. „Wenn wir eine Geschichte zu erzählen haben, müssen wir mit 1915 beginnen“, so textet Bandista in einem Song. Die Geschichte, die damals begann, endet bis heute noch nicht. Später tauchen Aufnahmen von der Verhaftung des jungen Mörders auf, der von den Sicherheitskräften als Held behandelt wurde. Der Staat war stolz auf seinen engagierten Mörder.

Anfang der modernen türkischen Geschichte: 1915

Am 24. April 1915 begann die Verhaftung von 235 armenischen Intellektuellen in Istanbul, die auf verschiedene Weise später umgebracht wurden. Es begann die große Vertreibung ins Nichts. Bis zu 1,5 Millionen Menschen verloren durch den Genozid ihr Leben. Doch im osmanischen Reich wurde die politische Führung verurteilt, um die Schuld am Genozid auf die alte Führung der Jungtürk*innen zu beschränken. Das Triumvirat der Jungtürk*innen konnte ins Ausland fliehen. Talat Pascha in Berlin und Cemal Pascha in Tiflis wurden daraufhin von armenischen Aktivist*innen ermordet, was als Operation Nemesis bekannt wurde. Der Dritte im Bunde, Enver Pascha, wurde von der sowjetischen Armee ermordet. Aer die Politik des Genozids war nicht die Politik einer gescheiterten Führung der Jungtürk*innen, sondern der Entstehungsversuch einer türkischen Bourgeoisie durch die Vernichtung und Vertreibung vor allem der christlichen Völker.

Die türkische Republik, als ideologische Fortführung der Jungtürk*innen, setzt auf die Politik der Verleumdung. Sie regelte gesetzlich die Aufteilung der armenischen Ländereien und setzte auf die systematische Vertreibung der Armenier*innen und der Rum, den Griech*innen im Osmanischen Reich. Die materielle Bereicherung der türkischen Bourgeoisie durch die Vernichtung des armenischen Volkes zwang sie auch zur ideologischen Verleumdung. Wer von einem Genozid sprach, wurde zu einem*r Landesverräter*in und Ziel der staatlichen Repression. Das Thema verschwand für Jahrzehnte aus der Öffentlichkeit. Natürlich blieb diese Frage in internationalen Beziehungen ein Thema. Die türkische Öffentlichkeit jedoch sollte diese Diskussionen überhaupt nicht mitbekommen und wenn überhaupt, dann nur als unwichtige Frage.

Als die armenische Organisation ASALA begann, auf die türkischen Beschäftigten des Auswärtigen Amtes Angriffe auszuüben, wurden die Armenier*innen wieder ein Thema. Es begann wieder die staatliche Ideologie, jedes Problem auf die Armenier*innen zurückzuführen. Die Hexenjagd auf die Armenier*innen nahm diverse Gestalten an. Zum Beispiel sei die kurdische Organisation PKK nur eine verkappte armenische Organisation und deren Anführer Abdullah Öcalan sowieso ein Armenier. Jede*r Staatskritiker*in bekam armenische Vorfahren zugeschrieben.

AKP: Ein hinterhältiges Projekt der türkischen Bourgeoisie

Als die AKP an die Macht kam, versprach sich eine Politikänderung. Die Jungtürk*innen hatten den AKP-Ideolog*innen zufolge eine nationalistische Politik durchgesetzt, die der traditionellen islamischen Politik des Osmanischen Reichs gegenüberstand. Die liberalen Kräfte sprachen von dem Irrtum, welches der „Nation-Staat“ als Projekt verkörperte. Man hätte einen kapitalistischen Staat mit vielen Völkern im osmanischen Reich errichten können, wenn die Jungtürk*innen nicht an die Macht gekommen wären. In diesem Rahmen seien die Ereignisse 1915 zu betrachten. Auf der Grundlage gab es ein Bündnis der liberalen Kräfte und der AKP-Führung.

Hrant Dink verkörperte ein Symbol, da er sich mit einer offenen armenischen Identität immer wieder politisch äußerte. Lange Zeit mussten die armenischen Intellektuellen und Schauspieler*innen türkische Namen annehmen, wenn sie öffentlich auftreten wollen, damit sie überhaupt zu Ruhm gelangen konnten. Hrant Dink wagte eine armenischsprachige Zeitung herauszugeben und versuchte, der armenischen Bevölkerung eine Stimme zu geben. Als Hrant Dink ermordet wurde, sprachen die liberalen Intellektuellen wie Hasan Cemal, Baskın Oral, Murat Belge, Ahmet Altan usw., vom tiefen Staat, der gegen die AKP einen Putsch vorbereiten wolle.

Die Liberalen verbreiteten die Illusion, man könne den türkischen Staat mit Hilfe der neoislamischen Partei AKP demokratisieren, weil der Grund allen Übels nur eine Strömung der türkischen Bourgeoisie sei. Die AKP-Regierung zeigte sich tatsächlich bereit, über dieses Thema zu sprechen, allerdings unter dem Vorbehalt, die Forderungen der armenischen Bevölkerung, vor allem der in der Diaspora lebenden, nach Land, Anerkennung des Massenmords 1915 als Genozid und die Entschädigung würden nicht durchgesetzt werden. Die AKP sah den Genozid durch eine unklare Aussage als erledigt an. Den Genozid in Dersim 1938, bei dem bis zu 70.000 Kurd*innen getötet wurden, hatte Erdogan in einer Rede nebenbei kurz erwähnt: „Wenn es nötig ist, in Namen des Staates sich zu entschuldigen, wenn es so in der Literatur ist, ich entschuldige mich dafür und ich tue es.“

Für Erdogan war das Ganze nur eine Face. Er wollte nur gegenüber der CHP punkten, die damals an der Macht war. Daraus folgte ferner keine weitere Konsequenz. Weder Entschädigung, noch die Freigabe der verheimlicht begrabenen Hingerichteten, noch die Aufnahme dieses Genozids in die Schulbücher usw.. Halbherzig, verlogen und verleumdet sollte der Genozid thematisiert werden, wenn überhaupt und das sollte ausreichen. Doch die AKP ging nicht mal soweit.

Die Verleumdung läuft heute noch

Der Prozess um die Ermordung von Hrant Dink geht weiter. Der türkische Staat schiebt die Schuld auf die Opposition oder den ihm in Ungnade gefallenen Sektor. Zuletzt veröffentlichte eine regierungsnahe Zeitung einen Artikel auf der Titelseite, nach dem ein anderer armenischer Journalist, Dinks guter Freund Etyen Mahçupyan, an seiner Ermordung die Schuld trüge. Etyen Mahçupyan war lange Zeit AKP-Anhänger und diente der AKP-Regierung sogar als Berater. Er kritisierte jedoch in letzter Zeit immer wieder Erdogans Alleingänge. Er machte sich erst unbeliebt und dann zum Sündenbock. Der türkische Staat tut alles, um die Aufklärung des Mordes an Hrant Dink zu verhindern.

Bei den Sitzungen im türkischen Parlament, um die Gesetzvorlage eines bonapartischen Präsidialsystems zu besprechen, sprach der armenische HDP-Abgeordnete Garo Paylan darüber, wie die historischen Versuche der Etablierung von Ein-Mann-Systemen zu Genoziden und Massaker führten. „Kollegen, zwischen 1913 bis 1923 haben wir vier Völker verloren – die Armenier, die Griechen, die Assyrer und die Juden. Sie sind aus diesem Land vertrieben worden, mit Massakern und mit einem Völkermord. Liebe Kollegen…“ Als das Wort „Genozid“ fiel, begannen Abgeordnete, Garo Paylan anzuschreien und die Parlamentsleitung rief Gara Paylan dazu auf, sich zu korrigieren. „Sowas wie das Genozid sei die Beleidigung des türkischen Volkes“, fügte sie hinzu. Paylan erwiderte angesichts der ihn anbrüllenden Abgeordneten: „Das armenische Volk weiß sehr gut, was passiert ist… ich bezeichne das als Genozid, wie immer ihr es auch nennen wollt.“

Die drei anderen Parteien im Parlament, AKP, CHP und MHP, unterbrachen ihre handgreifliche Auseinandersetzung über die Gesetzentwürfe und einigten sich sehr schnell darauf, Garo Paylan von drei Sitzungen auszuschließen und seine Rede über den Genozid aus dem Protokoll zu streichen. Garo Paylan wird in Zukunft bestraft werden, wenn er im Parlament über den Genozid spricht. Der Genozid existiert weiter, indem die Nachfahren der Überlebenden immer wieder zu versuchen, die Vernichtung osmanischer Armenier*innen als Genozid zu bezeichnen und Konsequenzen daraus zu ziehen.

Der Beschluss im Deutschen Parlament

Die Halbherzigkeit der Anerkennung des Genozids in Deutschland machte Schule. Es ist so, dass nicht nur die deutsche Mittäterschaft am Genozid versteckt und verharmlost wurde, sondern es folgten aus dem Beschluss auch keine praktischen Folgen. Die Beteiligung deutscher Soldat*innen bei der Bekämpfung der armenischen Verteidigung und die Einsetzung der Bagdadbahn bei der Deportation waren Teile der Kollaboration. (Vgl. Rayand Kévorkian, The Armenien Genocide, Chapter 8 The Armenien Deportees on the Bagdadbahn Construction Sites in the Taurus and Amanus Maountains S. 687 -690)

Die historische Aufarbeitung des Genozids in den Schulen und an den Unis, sowie die Bereitstellung der Mittel für die Forschungen über die Ereignisse vor, während und nach dem Genozid, ein Museum über den Genozid 1915 in Deutschland, die Beendigung aller Abkommen zwischen Türkei und Deutschland wären einige demokratische Forderungen, die in Deutschland erhoben werden sollten. Eine revolutionäre Politik zielt gleichzeitig darüber hinaus darauf ab, dass die deutsche Bourgeoisie weder in Deutschland noch auf der Welt je wieder Krieg treiben kann.

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