Wenn der bayerische Löwe brüllt

21.10.2015, Lesezeit 9 Min.
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// Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer bleibt weiter auf Konfrontationskurs zu Bundes­kanzlerin Angela Merkel. Er fordert von ihr eine klare Aussage, dass Deutschland nur begrenzt Ge­flüchtete aufnehmen könne. Ist der Streit nur heiße Luft oder zeigt sich ein tiefer Konflikt in der Union? //

Am vergangenen Donnerstag gaben Seehofer und Merkel in München und Berlin jeweils Regierungserklärungen zur aktuellen Debatte um die Aufnahme von Geflüchteten ab. Während Merkel weiterhin ein „Wir schaffen das“ verlauten lässt, beharrt Seehofer auf einer restriktiveren Grenzpolitik: „Ohne Begren­zung der Zuwanderung werden wir als staatliche Gemeinschaft in Deutschland und Europa grandios scheitern.“ Damit bleibt er auf Konfrontationskurs zur Kanzlerin. Schon in der Woche zuvor hatte er der Bundesregierung mit Verfassungsklage gedroht, da der Bund die „eigenstaatliche Handlungsfähigkeit der Länder“ gefährde. Er forderte die Wieder-Inkraftsetzung des Dublin-Abkommens, nach welchem Ge­flüchtete in denjenigen EU-Staat abgeschoben werden, den sie zuerst betreten.

Schon während der Verhandlungen mit Griechenland in der ersten Jahreshälfte hatte sich ein bedeutender Widerstand von rechts gegen die Politik Merkels in der Unionsfraktion herausgebildet. 61 Abgeordnete stimmten im Bundestag gegen das dritte „Rettungspaket“. Wichtige und im konservativen Lager beliebte Figuren wie Wolfgang Schäuble und Wolfgang Bosbach kritisierten offen ihre Politik. Nun wagen zahlreiche Kommentator*innen die Aussage, dass Merkels Kanzlerschaft an der Frage der Geflüchtetenpolitik scheitern könnte. Nicht umsonst spricht Merkel von einer „historische Bewährungsprobe für Europa“, die sie zur Chef*innensache erklärt hat. Druck bekommt sie nicht nur von der bayerischen Schwesterpartei, sondern auch aus Teilen der CDU. In einem offenen Brief kritisierten 126 Kreischefs, Bürgermeister*innen und Landtagsabgeordnete die „Politik der offenen Grenzen“. Innenminister Thomas de Maizière machte sich zum Sprachrohr dieser Sektoren: Zuerst mit seinem klaren Bekenntnis zu den „Obergrenzen“ und daraufhin mit seinen rassistischen Äußerungen gegen „fordernde“ und „aufmüpfige“ Geflüchtete, die mit der Situation in den Lagern unzufrieden sind. Daraufhin entzog ihm Merkel zahlreiche Kompetenzen und machte Bundeskanzleramtsminister Peter Altmaier zum neuen „Flüchtlingskoordinator“.

Tatsächlich wird die Situation in den Lagern von Tag zu Tag unerträglicher: Immer mehr Geflüchtete müssen auf begrenztem Raum für eine immer längere Zeit leben. Und immer noch wohnen mehr als 44.000 Geflüchtete in Zeltstätten, während schon der erste Schnee fiel. In Umfragen schwand die Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Arbeit von Merkel von September auf Oktober um neun Prozentpunkte, während Seehofer um elf Prozentpunkte zulegen konnte. Und auch die Union verlor nun schon zwei Wochen in Folge je einen Prozentpunkt und kommt mit aktuell 38 Prozent auf ihr niedrigstes Ergebnis seit den Bundestagswahlen 2013.

Die Stimmung im Land schlägt dabei allmählich gegen Geflüchtete um. Die Pegida-Bewegung konnte in den vergangenen Wochen immer wieder bis zu 9.000 Menschen in Dresden versammeln. Anschläge gegen Geflüchtetenwohnheime häufen sich auf zwei pro Tag. Nach der Spaltung der AfD im Juli und ihrer Rechtsentwicklung, kann sie nun bundesweit mit sechs bis sieben Prozent ihre höchsten Umfragewerte in diesem Jahr verzeichnen und sich gleichzeitig als politischer Arm der „extremen Rechten“ profilieren. Auf wöchentlichen Demonstrationen gegen das Asylrecht und Geflüchtete in Erfurt, mobilisierte sie bis zu 8.000 Personen auf die Straße. Am beliebtesten ist sie in den ostdeutschen Bundesländern, in denen sie durchschnittlich auf zwölf Prozent kommt, sowie in Bayern, wo sie auf neun Prozent Zustimmung zugelegt hat, auf Kosten der CSU. In dieser Situation versucht Seehofer mit rechter Rhetorik die rassistischsten Teile seiner Basis zu halten.

Dabei scheint es ihn nicht zu stören, dass er mit Verfassungsklage gegen die Bundesregierung droht, deren Teil ja auch die CSU ist. Während sie in Berlin mitregiert und die Geflüchtetenpolitik mit­trägt, wird in guter bayerischer Manier in München dagegen gepoltert. Ohnehin liegt Merkels Politik nicht so weit weg von Seehofers Forderungen, wie er dem Stammtisch weismachen will. Auch wenn Merkel eine Rhetorik der Humanität anschlägt, so ist sie doch weit von einer Politik der offenen Grenzen entfernt. Dies zeigen die Grenzkontrollen, die von der Bundesregierung zwischen Deutschland und Österreich veranlasst wurden. Dies zeigen die neuesten Militäreinsätze im Mittel­meer gegen „Schleuserbanden“, durch die Fluchtrouten noch riskanter werden. Dies zeigt die jüngste Asylrechtsverschärfung, mit der Bargeld für Asylbewerber*innen durch Sachleistungen er­setzt wird und mit der Albanien, Montenegro und der Kosovo zu „sicheren Herkunftsländern“ er­klärt werden. Und dies zeigt sich auch darin, dass sie in einem so bedeutsamen Vorhaben wie den „Transitzonen“, die selbst von Justizminister Heiko Maas als „Haftzonen“ bezeichnet werden, der CSU nachgibt. Diese geben der Polizei die Möglichkeit, Geflüchtete aus „sicheren Drittstaaten“ und all diejenigen, die die hohen Anforderungen für ein Asyl nicht erfüllen, bis zu vier Wochen pauschal einzusperren.

Dennoch verfolgt Merkel einen etwas anderen Ansatz. Sie stellt fest, dass das Dublin-Abkommen nicht funktioniert. Um die Interessen der deutschen Regierung in Europa zu wahren, will sie daher eine Neuregelung von Dublin in der EU verhandeln. Ein Beharren auf dem Abkommen, wie Seeho­fer es fordert, käme einer weitgehenden Schließung der deutschen Grenze für Geflüchtete gleich. Dass dies nur mit höchstem logistischem Aufwand und gegen die anderen Staaten der EU durchzu­setzen wäre, weiß auch Seehofer. Eine entsprechende Forderung seines Finanzministers Markus Sö­der nach Grenzzäunen gegen Geflüchtete bezeichnete er deshalb als „Unsinn“. Das einzige, wodurch er seine restriktivere Haltung verglichen mit Berlin zeigen kann, ist der verstärkte Einsatz der Landespolizei und die konsequentere Durchführung von Abschiebungen, die auch Merkel lobt: „Jetzt neu ankommende Menschen ohne Bleibeperspektive werden direkt zurückgeführt. Das macht zum Beispiel Bayern bereits sehr konsequent.“

Auch wenn Merkel Grenzzäune an der deutschen Grenze ablehnt, tritt sie für genau solche an den europäischen Außengrenzen ein: Das war die Schlagrichtung der Rede von ihr und dem französischen Präsidenten François Hollande vor dem Europaparlament und das ist auch ihr Ziel mit den Verhandlungen mit dem mörderischen Regime von Erdogan, welches sie zu einem „sicheren Herkunftsland“ erklären will. Merkel weiß gut genug, dass die komplette Schließung der deutschen Grenzen die Teile der Bevölkerung vor den Kopf stoßen würde, die sich seit dem Spätsommer in „Willkommensinitiativen“ engagieren. Sie könnten sich gegen eine solche nationalistische Maßnahme zur Wehr setzen und eine breite demokratische Bewegung für die Rechte der Geflüchteten und gegen die Regierung in Gang setzen. Es wäre aber auch Wasser auf die Mühlen der rassistischen Bewegungen, die sich radikalisieren könnten und den Bruch zwischen der Regierung und Teilen ihrer konservativen Basis vertiefen würden.

Auch wenn immer deutlicher wird, dass Merkel besonders für die CSU nicht die „perfekte“ Bundeskanzlern ist, so gibt es auch keine ernsthafte Alternative. Schließlich ist sie für einen gewichtigen Teil der Großbourgeoisie durchaus die „perfekte“ Bundeskanzlerin, da sie politische Stabilität garantiert. Diese ist zentral angesichts der sinkenden Import- und Exportzahlen, bedingt durch die Schwankungen der chinesischen Wirtschaft, und möglicher Entlassungswellen, wie bei Volkswagen, der Deutschen Bank und Siemens. Trotz ihrer sinkenden Umfragewerte muss sich Merkel daher nicht von Seehofer hertreiben lassen.

Eine vollständige Schließung der Grenzen wird Seehofer so nicht erreichen. Sein eigentliches Ziel ist jedoch, durch den auf Merkel ausgeübten Druck einige Zugeständnisse herauszuholen und sich von ihr und der SPD abzugrenzen, um seine rassistische Wähler*innenschaft zu bedienen. Zudem gilt es, die CSU für den Parteitag Ende November hinter sich zu sammeln, auf dem er sich zur Wiederwahl für den Parteivorsitz stellen wird. Für Merkel hingegen ist die Situation komplizierter: Den Querulanten aus Bayern kann sie noch gekonnt weglächeln, nicht aber die rassistische Stimmung in der Bevölkerung, der Seehofer einen Ausdruck gibt. Wenn die Zahl der Geflüchteten weiter steigt, wird sie noch härter gegen sie vorgehen müssen. Die jetzigen Spannungen, die sich tagtäglich in gewaltsamen Übergriffen auf Geflüchtete und massiven Demonstrationen gegen das Asylrecht entladen, kündigen tiefere soziale Risse an. In diesem Sinne ist der Konfrontationskurs der rechten Teile der Regierungskoalition, die von Seehofer angeführt wird, weit mehr als heiße Luft, sondern viel mehr der Ausdruck einer politischen Polarisierung nach rechts.

Fortschrittliche Lösungen im Gegensatz zu dieser rechten Hetze wären ein soziales Wohnungsbauprogramm unter Kontrolle der Arbeitenden, der freie Zugang zu Bildung für Geflüchtete sowie die Aufteilung der Arbeit auf alle Schultern mit Arbeitszeitverkürzungen und vollem Lohnausgleich. Bisher sind die Linken und die Arbeiter*innenbewegung jedoch nicht in der Lage, eine mächtige soziale Alternative aufzubauen. Während sich die Gewerkschaftsbürokratie auf „milde Gaben“ beschränkt und wirkungslose pro-refugee-Beschlüsse veröffentlicht, schafft es die Linke nur begrenzt, größere Demonstrationen für die demokratischen und sozialen Rechte der Geflüchteten zu organisieren. Doch nur eine breite anti-rassistische Bewegung, die sich gegen den Staat und rassistischen Mob mobilisiert, kann die reaktionäre Offensive stoppen.

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