Was ist der Tauschwert eines Truckfahrers, der hungert, um seinen Lohn zu bekommen?

27.09.2023, Lesezeit 3 Min.
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Die Streikenden fordern vom Firmenchef Mazur ausstehende Gehälter. Foto: KGK.

In Gräfenhausen streiken seit Monaten LKW-Fahrer für die Auszahlung vorenthaltener Löhne, bis vor Kurzem sogar mit einem Hungerstreik. Unsere Autorin hat die Streikenden besucht und das Erlebte in einem Text verarbeitet.

Gräfenhausen West, elf Uhr vormittags.
Ein strahlend blauer Himmel über blauen Trucks.
McDonalds, drei Dixi-Klos, Parkbänke: ein Ort zum Pausieren.
Hier stoßen Arbeiter und Familien aufeinander, manchmal auch Geschäftsmänner, die den zehnfachen Lohn der anderen erhalten.
Vorbeiziehende Autos rauschen im Hintergrund:
Audi, VW, Porsche, und die Namen all derer, die sich am Labyrinth der Lohnketten beteiligen.
Lohnketten, die sich um die Hälse der Truckfahrer wie Schlingen drehen.
Die Scheinselbstständigkeit, in der die Fahrer sich scheinbar selbstständig selbst ausbeuten, während sie Produkte der Ausbeutung an ihr Ziel fahren, Produkte, sprich: Tauschwerte.
Was ist der Tauschwert eines Truckfahrers?
Was ist der Tauschwert eines Truckfahrers, der sich weigert, zu beliefern?
Was ist der Tauschwert eines Truckfahrers, der hungert, um seinen Lohn zu bekommen?
Vafoev sagt, dass er seine Familie seit fünf Monaten nicht mehr gesehen hat, seine Frau, zwei Töchter und zwei Söhne.
Aber er ist überzeugt, dass er seinen Lohn bekommen wird.
Sardor arbeitet seit acht Jahren für Mazur. Seine Familie weiß nichts von dem Streik, sagt er. Sie würden sich zu viele Sorgen machen, warten auf das Geld, das ihm zusteht und noch immer nicht gezahlt wird.
Aber Vafoev und Sardor sind hoffnungsvoll, selbstbewusst, stark.
Sie laden uns in ihren Truck ein, tischen uns selbstgekochte Suppe auf. Erbsen, Fleisch, Chai. Dampf steigt aus dem Tee, benebelt die Gesichter.
Sie sind gastfreundlicher zu uns als die ganze Raststätte. Gastfreundlicher als der McDonalds, die vorbeiziehenden Autos und die Menschen, von denen die meisten nur kurz bleiben und sich wundern, warum hier Transpis hängen, warum hier Truckfahrer sitzen, warum sich blauer Truck an blauen Truck reiht.
Ein fremder alter Mann bleibt stehen, fuchtelt mit den Armen, fragt: „Warum streikt ihr denn?“
Ja, warum streiken Truckfahrer, denen der Lohn nicht ausgezahlt wird?
Warum streiken Truckfahrer, die teilweise Schulden aufgenommen haben, um überhaupt arbeiten zu können?
Warum streiken Truckfahrer, deren Familien in den Heimatländern hungern?
Die größere Frage ist doch: Warum streiken nicht alle Arbeiter:innen international?
Warum arbeitet überhaupt noch irgendjemand?
Ein deutscher Truckfahrer kommt an unserem Truck vorbei, schaut rein und winkt, er sagt: „Deutschland verarscht uns alle.“
Er weiß: die usbekischen, die ukrainischen, die türkischen, und alle anderen Truckfahrer sind nicht seine Gegner.
Es sind die Bosse der Speditionsfirmen und der Firmen, die Aufträge an diese liefern.
Vafoev und Sardor lachen ihm zu, denn sie wissen das auch.
Sie sind Arbeiter aus verschiedenen Ländern, doch die Lieferketten kennen keine Grenzen, drehen sich international um die Hälse der Truckfahrer: internationale Schlingen.
Das Kapital kennt keine Grenzen, frisst sich seinen Weg durch die Welt, wenn nötig mit Kriegen.
Gräfenhausen West, fünfzehn Uhr nachmittags.
Ein strahlend blauer Himmel über blauen Trucks.
McDonalds, drei Dixi-Klos, Parkbänke. Ein Ort zum Streiken.

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