Voith: Sand im Getriebe

13.06.2020, Lesezeit 10 Min.
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Gemeinsamer Arbeitskampf bei Voith im Allgäu. Enttäuschung über Streikabbruch. Ein Besuch in Sonthofen.

»Der Wächter des Allgäus« wird er genannt, der Grünten. Mit seinen knapp 1.800 Metern wirkt er wie ein Vorposten in der ersten Bergkette der Alpen. Unter seinem schroffen Gipfel erstrecken sich weitläufige Almlandschaften. Auf den bunten, duftenden Bergwiesen weiden im Sommer Tausende Kühe, aus deren Milch der strenge Allgäuer Bergkäse hergestellt wird. Der Gipfel gleicht jedoch eher einem Stück Emmentaler, so durchlöchert wie er ist. Seit dem späten Mittelalter besserten die Bauern der Region ihre mageren Einkommen auf, indem sie Eisenerz aus dem Grünten schürften. Am Fuß des Berges glühten die Öfen, und in den Schmieden wurde das Eisen zu Werkzeugen und Pflugscharen geschlagen.

Vielleicht weil sich durch den Bergbau sehr früh eine Arbeiterklasse bildete, wurde während der Bauernkriege hier in Sonthofen der Allgäuer Haufen gegründet. Unter den Hämmern der jungen Arbeiter entstanden in jenen Tagen des Jahres 1525 die Waffen der Rebellen. Auf der anderen Seite des Grünten endeten die deutschen Bauernkriege de facto auch mit der Kapitulation des Allgäuer Haufens. Nach der blutigen Niederwerfung der Rebellion legte der Fürstabt von Kempten hier vor über 400 Jahren den Grundstein für ein Guss- und Schmiedewerk, dessen Arbeiterinnen und Arbeiter im Jahr 2020 in einem erbitterten Kampf ihr Werk verteidigten. Doch letztendlich wurden sie wieder zu einer Kapitulation gezwungen – diesmal vor dem Voith-Konzern.

Wie geschmiert

Nicht nur die lange Historie des Betriebes träg zum Stolz bei, mit dem die Arbeiter und Arbeiterinnen auf ihr Werk schauen: Im vergangenen Jahr kam erstmals eines der ersten Planetengetriebe, das in Sonthofen gebaut wurde, zur Wartung. Seit 1937 läuft es in einem bayerischen Wasserkraftwerk. Nach 82 Jahren Dauerbetrieb mussten nur die Lager etwas ausgebessert werden. Die Beschäftigten wissen, was für hochwertige Produkte sie hier schaffen. »Wir bauen Spezialgetriebe, die 700 Kilogramm bis 70 Tonnen wiegen. Getriebe für riesige Wasserkraftwerke, Gezeitenkraftwerke, Gaspipelines, Öltanker und AKW. Stell dir mal vor, was passiert, wenn da ein Getriebe bei diesen Belastungen auseinanderfliegt …«

Seit über 25 Jahren arbeitet Peter hier im Getriebewerk. Er prüft Zahnräder, die teilweise zwei, drei Meter hoch sind und auf bis zu drei Mikrometer genau geschliffen werden müssen. Damit sie auf einen Wirkungsgrad von mehr als 99 Prozent kommen. »Der einzige Reibungswiderstand, den es in unseren wartungsfreien Getrieben noch gibt, ist der durch den Ölstrom.« Siemens, MAN und der schwedische Industriekonzern Atlas Copco geben seit Jahrzehnten hier ihre Spezialgetriebe in Auftrag. Das Werk läuft also wie geschmiert, 2019 wurden sieben Millionen Euro Gewinn erwirtschaftet. Trotzdem entschied sich das Familienunternehmen Voith dazu, die historische Fabrik in Sonthofen zu schließen und die Produktion an den 200 Kilometer entfernten Standort in Crailsheim zu verlegen.

Seit der Säkularisierung kirchlicher Besitztümer im Jahre 1803 befand sich das Werk in staatlicher Hand. Nach Niederschlagung der Bayerischen Räterepublik wurde der Maschinenbauer in die Staatliche Aktiengesellschaft der Bayerischen Berg-, Hütten- und Salzwerke AG (BHS) eingegliedert. Erst mit der neoliberalen Offensive in den 1990er Jahren wurde das Werk zerschlagen und privatisiert. Voith kaufte 2007 die Getriebesparte des BHS- Werkes in Sonthofen. »Unser Betrieb hat wie ein Getriebe funktioniert.« Andreas arbeitet seit den 80er Jahren im Werk. Wie schon sein Vater, der in den 70ern aus den Kohlegruben in Nordrhein-Westfalen einer Werbeaktion des staatlichen BHS-Konzerns folgte: »Arbeiten, wo andere Urlaub machen.« Er erinnert sich nicht nur an die großen Familienfeste, die BHS organisierte, sondern auch an die gute Zusammenarbeit. »In unserem Betrieb griff alles Zahn in Zahn. Aber Voith, … Voith war der Sand im Getriebe.«

Viele Beschäftigte arbeiten schon in zweiter oder dritter, manche sogar in vierter Generation im BHS-Werk. Das Metallwerk ist in der ansonsten ökonomisch schwach aufgestellten Region eine wichtige Institution. Ein Job hier bedeutete für lange Zeit Stabilität und Sicherheit für die ganze Familie. Gute Gehälter, aber auch vorteilhafte Urlaubs- und Überstundenregelungen, die es den Arbeitern ermöglichten, die familiäre Landwirtschaft am Laufen zu halten. Für Voith scheint auch die Familie an erster Stelle zu stehen: die eigene. Derzeit belegen sie mit einem Privatvermögen von 2,3 Milliarden Euro Platz 85 der reichsten Familien Deutschlands. Das würde ausreichen, um die Löhne der 500 Beschäftigten in Sonthofen für die nächsten 100 Jahre zu bezahlen.

Damit die Voith-Erben von Platz 85 auf 84 klettern können, müssen die 500 Familien aus dem Allgäu jedoch bluten. Wenn der Umsatz nicht gesteigert werde, von was solle die Familie Voith dann leben? So soll die Unternehmensführung vergangenes Jahr auf einer Betriebsversammlung die Schließungspläne verteidigt haben. Damit Voith-Erben wie Ophelia Nick ihrem Hobby, der Biolandwirtschaft, nachgehen, eine Parteikarriere bei den Grünen vorantreiben und schöne Sonntagsreden über die Verantwortung der Reichen halten können, soll 500 Familien der Lebensunterhalt entzogen werden.

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Foto-Slideshow: Simon Zamora Martín

Geschlossener Arbeitskampf

Für diesen Angriff nimmt Voith auch viel Geld in die Hand. Allein für den Interimsmanager Michael Schmücker zahlen sie fast eine halbe Million Euro. Von den Arbeiterinnen und Arbeitern wird Schmücker meist nur als »der Söldner« bezeichnet, zuständig für die schmutzige Arbeit. Der Konzern hat durchaus auch Erfahrung in dieser Art der Kriegführung. Seit Jahren kaufen sie Unternehmen in ganz Europa auf, um sie anschließend zu schließen und sich die Patente zu sichern. In Sonthofen war zumindest in der Theorie ihr Gegner kein schwacher. Mussten sie es doch mit einer gut organisierten Belegschaft aufnehmen, die Teil der größten Gewerkschaft der Welt ist: der IG Metall mit ihren 2,3 Millionen Mitgliedern in Deutschland.

Und die Kollegen in Sonthofen standen gemeinschaftlich zusammen. An den Urnen zur Urabstimmung fehlte am 23. April nicht ein Gewerkschaftsmitglied. 98 Prozent votierten für den Streik. »Das war Gänsehautgefühl, zu sehen, dass die ganze Belegschaft geschlossen aus dem Werk kommt und in den Streik tritt,« kommentierte Betriebsratsvorsitzende Birgit Dolde. Mit der Parole »Voith kann gehen, das Werk bleibt da« zogen sie vor die Getriebefabrik und blockierten die Tore. Am letzten Arbeitstag stellten sie mit Kränen noch schnell die Hallentore mit tonnenschweren Kurbelwellen zu und versteckten die Schlüssel. Immer wieder wurde unter Kollegen auch über Kampfmaßnahmen wie das Festketten an Maschinen oder eine Werksbesetzung diskutiert. Am Durchsetzungswillen der Arbeiterinnen und Arbeiter fehlte es bis zum Schluss nicht. Warum endete der Streik trotzdem in einer Niederlage?

Auch im Jahr 1525 hatte es nicht an Kampfwillen gefehlt, sondern vor allem an einer mangelnden Konzentration der Produktivkräfte. Aus einer schwachen Position heraus wurde eine Offensive mit unklarem strategischen Ziel geführt. In fast zwei Jahrhunderten Arbeiterbewegung hat sich natürlich auch im Allgäu viel geändert. Die Metallindustrie ist nicht nur das Rückgrat der deutschen Wirtschaft mit einer hohen Konzentration der Produktivkräfte, sondern die IG Metall ist auch die mächtigste Gewerkschaft der Welt.

Bei dem diesjährigen Arbeitskampf in Sonthofen ging es jedoch nur um die Verteidigung des Werkes, und nicht um eine Offensive für mehr Rechte oder eine andere Gesellschaft. »Was ist der Zweck einer Verteidigung? Erhalten,« schrieb der preußische Militärhistoriker Carl von Clausewitz. »Erhalten ist leichter als gewinnen, schon deshalb folgt, dass die Verteidigung unter Voraussetzung gleicher Mittel einfacher ist als der Angriff.« Aber wie soll selbst eine Verteidigung erfolgreich geführt werden, wenn gar nicht probiert wird, die Stellung zu halten, sondern von Anfang an über die Konditionen einer Kapitulation verhandelt wird? Statt einen Kampf für die Erhaltung des Standortes nur ein Kampf um Abfindungen geführt wird?

Spitze gegen Basis

Die offizielle Strategie der IG Metall war es, den Preis der Schließung so weit in die Höhe zu treiben, dass Voith freiwillig von dieser absieht. Das Ergebnis jedoch ist ernüchternd: drei bis sechs Monate länger Anspruch auf die Beschäftigung bei einer Übergangsgesellschaft und eine geringfügig höhere Abfindungen für Härtefälle, als es der Sozialplan des Gesamtbetriebsrates vorsieht.

In der Belegschaft gibt es viel Wut darüber, wie die IG-Metall-Führung den Streik ohne eine ergebnisoffene Diskussion beendete: »Entweder dieses Ergebnis oder nichts«, ohne eine Weiterführung der Arbeitsniederlegung zuzulassen und mit lediglich 24 Stunden Bedenkzeit. Benjamin hat gegen den Abbruch gestimmt: »Viele glauben, wenn wir nur zwei Wochen weitergestreikt hätten, wäre ein viel besseres Ergebnis drin gewesen.« Doch für den Abbruch eines Streiks müssen nur 25 Prozent der Entscheidung zustimmen. Die Option, weiterzustreiken, stand nicht auf dem Stimmzettel.

Die IG Metall führte einen Kampf, den Clausewitz wohl als „absolute Verteidigung“ bezeichnet hätte. Aus der Basis gab es zwar spontane Versuche, den Kampf etwa durch Werkstorblockaden zu radikalisieren, aber die Führung wollte nicht in die Offensive kommen. Nur Gas zu geben, ohne einen Gang einzulegen, setzt kein Fahrzeug in Bewegung. Der Streik wurde nicht auf andere von Schließung bedrohte Standorte ausgeweitet und es wurde keine Strategie verfolgt, um das Werk in Sonthofen zu verteidigen. Clausewitz negiert die Existenz einer absoluten Verteidigung im Krieg, „weil bei ihr nur der eine Teil Krieg führen würde.“ Die Theorien des alten Militärs finden heutzutage durchaus oft Anwendung im Management. An der neoliberalen Harvard-Universität sind seine Lehren Teil des Lehrplanes in Betriebswirtschaftslehre.

Dem Abwicklungs»söldner« Schmü­cker war es möglicherweise bewusst, dass nur seine Seite den Kampf führt, solange sich die Gewerkschaftsführung damit zufriedengibt, nur ein kleines Rad im Getriebe zu sein, solange sie die Unternehmerseite nicht als Gegner, sondern als »Sozialpartner« ansieht. Oder zumindest, solange sie keine Offensiven anstoßen, um das Werk wirklich zu verteidigen. Wäre die Gewerkschaft nicht in die Offensive gekommen, hätten sie eine entschädigungslose Verstaatlichung des Betriebes gefordert? Bei einem Unternehmen, das schwarze Zahlen schreibt und wichtigster Produzent von zentralen Komponenten für die angestrebte Energiewende in einer strukturschwachen Region ist, dessen Produkte zentral für eine Energiewende in Deutschland sind und die Jahrzehnte erfolgreich gewirtschaftet haben, wäre das nicht schwer gewesen. Wäre die Forderung nach Arbeiterkontrolle nicht eine noch stärkere offensive Forderung gewesen? Um zu verhindern, dass staatliche Bürokratien das Unternehmen gegen die Wand fahren.

Nach Bekanntgabe der Schließungspläne Ende 2019 hatten sich viele Arbeiterinnen und Arbeiter über Dienstanweisungen hinweggesetzt und selbstbestimmt produziert. Statt die vorgegebenen langen Protokolle für kleine Fehler an die »Controlling-Stelle« zu senden, regelten sie die Probleme auf dem kurzen Dienstweg. Einfach mal rüber zur Werkbank des Kollegen, und mit zwei, drei Handgriffen hatte sich das in Stunden statt Tagen erledigt. »Warum sollten wir uns an deren schwachsinnige Anweisungen halten, wenn die uns dichtmachen wollen?« erinnert sich Peter. Die größere Eigenkontrolle der Arbeiter drückte sich auch in Zahlen aus: Bis zu 25 Prozent hätten sie damit den Umsatz des Werkes gesteigert. Aber eine solche Offensive sprengt die Grenzen einer »Sozialpartnerschaft« und zeigt in Richtung eines Klassenkampfes, der von beiden Seiten geführt wird.

Jetzt wird es langsam wieder ruhig am Fuße des Wächters des Allgäus. Bis zum 30. September darf ein Teil der Belegschaft noch ihr Lebenswerk demontieren und für den Abtransport vorbereiten. Dann sollen die Türen der Produktionshallen für immer zugesperrt und ein Schlussstrich unter die 400jährige Geschichte gezogen werden. Doch hoffentlich fällt nicht der Nebel des Vergessens über diesen Kampf – dem ersten Streik seit Ausbruch der Coronapandemie. Im Angesicht einer möglichen neuen politischen Dynamik und bevorstehender Angriffe wegen der beginnenden Rezession lässt sich hier hinter dem Grünten mehr finden als leckerer Käse. Hier lässt sich ein wertvoller Schatz an Erfahrungen bergen.

Dieser Artikel ist zuerst in einer gekürzten Version in der jungen Welt veröffentlicht worden.

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