[Video] Pariser Studentin berichtet über den Klassenkampf in Frankreich

14.06.2016, Lesezeit 8 Min.
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Sarah Carah ist Studentin der Universität Paris 8 und Aktivistin der Revolutionär-Kommunistischen Strömung (CCR). In ihrem Beitrag berichtet sie über die Entwicklung der Bewegung in Frankreich, die ihren Schwerpunkt zunächst in der Besetzung von Schulen und Universitäten und massiven Vollversammlungen hatte. In der aktuellen Phase der Bewegung hat sich der Fokus auf Streiks in den Raffinerien, Häfen, Eisenbahn und den Atomkraftwerken verschoben.

Hallo an alle Genoss*innen in Deutschland! Ich bin Sarah, Mitglied der Revolutionär-Kommunistischen Strömung (CCR) innerhalb der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) in Frankreich. Ich bin auch Mitglied der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale. Und ich bin Studentin der Universität Paris 8 in dem Pariser Vorort Saint Denis.

Als Studierende von Paris 8 feiern wir am 8. Juni die dreimonatige Mobilisierung gegen das Arbeitsgesetz. Diese drei Monate waren ziemlich verrückt für uns und haben wirklich mit der vorherigen Stimmung gebrochen. Diese Mobilisierung darf man nicht nur als Widerstand gegen das Arbeitsgesetz verstehen, welches wirklich das Arbeitsrecht, die Arbeitsbedingungen und die Tarifverträge verschlimmern wird und all das. Es geht um viel mehr als das: Wut gegen die Prekarisierung, gegen das Elend der Arbeit, dagegen, dass man einem Chef sein Leben widmen muss, gegen Belästigung am Arbeitsplatz – All das, was die kapitalistische Gesellschaft uns vorschlägt, wie wir leben sollen. Diese ganze Wut hat sich symbolisch auch in einem Hashtag ausgedrückt: #OnVautMieuxQueÇa – Wir sind mehr wert als das.

Diese Wut hat sich in den letzten drei Monaten ausgedrückt, und zwar an den Universitäten durch eine sehr große Zahl an Studierenden, die vorher noch nie demonstriert haben. Und sie sind in die Schlacht gezogen, organisiert vor allem in den Vollversammlungen an jeder Universität, wo sich 300, 400, 500, oder über 1000 Personen getroffen haben – manchmal mehrere Male pro Woche – um sich zu organisieren und gemeinsam zu entscheiden, wie man diesen Kampf führen muss. Es haben sich Komitees zur Mobilisierung gebildet, wo man große Studierendenblöcke auf den Demos organisiert hat. Wir haben unsere Universitäten blockiert, wir haben die Zwischenprüfungen im Semester blockiert Wir haben gestreikt und mit unseren Profs geredet, damit sie auch streiken.

Es gab auch Organisierung auf landesweiter Ebene: Eine landesweite Studierendenkoordination mit Delegierten, die Mandate aus den Vollversammlungen der verschiedenen Universitäten hatten, um gemeinsam über einen landesweiten Kampfplan nachzudenken, der die Regierung besiegen kann.

Für uns hat sich wirklich eine neue Generation von Aktivist*innen entwickelt. Das ist wichtig nach all den Jahren des Rückzugs der Studierendenbewegung. Seit 2007/2009 hatten wir keine großen Kämpfe 2006 gab es einen wichtigen Kampf gegen Prekarisierung und 2007/2009 hatten wir Mobilisierungen gegen die Privatisierung der Universitäten, die aber nicht erfolgreich waren. Danach trat die Studierendenbewegung nicht mehr in Erscheinung – bis dann 2016 kam.

Zwei lange Monate hatte die Studierendenbewegung ein großes Problem: die Isolation. Offensichtlich können wir als Studierende nicht die Wirtschaft blockieren, nicht streiken. Wir können den Kapitalist*innen nicht ihre Profite vermiesen. Aber in diesen zwei Monaten war die Arbeiter*innenbewegung nicht wirklich auf der Straße. Für uns war das vor allem ein Resultat der Politik der Gewerkschaftsbürokratien, damit die Bewegung nicht außer Kontrolle gerät. Also war die Bewegung isoliert: Nur Studierende und Schüler*innen waren auf der Straße, aber es fehlte die Kraft der Arbeiter*innenbewegung, die Kraft des Streiks.

Sie war aber auch gegenüber der Repression isoliert. Wie ihr wisst, gibt es seit den Attentaten vom 13. November in Paris in ganz Frankreich einen Ausnahmezustand. Es gibt kein Demonstrationsrecht mehr, die Aktivist*innen werden kontrolliert und registriert, und die Gewerkschaftshäuser werden durchsucht und so weiter. Und auf einmal war die Repression exzessiv stark – gegen die Studierendenbewegung und dann auch gegen die Arbeiter*innenbewegung. Pausenlos werden die Demonstrationen von den Spezialkräften der Polizei (CRS) gestoppt, mit mehr Polizei als Demonstrant*innen. Es gibt Tränengas, Knüppel, Gas – all das haben wir durchmachen müssen, und wir waren dabei sehr isoliert.

Und plötzlich musste diese neue Generation lernen, dass sie ihre Stimme nicht einfach nur der Bürokratie überlassen darf – sei es in der Jugend oder unter den Arbeiter*innen. Im Gegenteil: Wir müssen selbst entscheiden, und selbst herausfinden, wie wir demokratisch und kollektiv funktionieren wollen. Und wir haben auch gelernt, dass der Staat und die Repression dafür da sind, die Interessen der Kapitalist*innen zu verteidigen. Drittens war es auch eine große Lehre, wie das kapitalistische System insgesamt funktioniert und organisiert ist – und wie wir uns organisieren müssen, um es zu überwinden: durch die Kraft des Streiks der Arbeiter*innen. Und diese ganze Infragestellung wurde durch einen neuen Slogan repräsentiert: Wir sind nicht nur gegen das Arbeitsgesetz, sondern „gegen das Arbeitsgesetz und seine Welt“. Das wurde zum Slogan von Nuit Debout, die den Place de la République in Paris und viele andere Plätze in Frankreich besetzt haben.

Seit einigen Wochen sind wir vor einer neuen Situation: Es gibt zwei Seiten der Medaille: Einerseits hat die Regierung das Arbeitsgesetz per Zwang durchgesetzt, mittels des Verfassungsparagraphen 49-3, der es der Regierung erlaubt, ein Gesetz ohne Parlamentsabstimmung durchzubringen. Und dieses antidemokratische Vorgehen aus der französischen Verfassung hat die Wut in breiten Teilen der Arbeiter*innenklasse und der Jugend neu entfacht. Das hat zu einem erneuten Anwachsen der Mobilisierungen geführt.

Vor allem aber sorgte das für den Auftritt der Arbeiter*innenbewegung im Zentrum der Bühne – das zweite Element dieser neuen Situation. Ihr habt das sicher schon gesehen: Acht Raffinierien wurden blockiert, genauso wie Kohlelager, Streiks in Fabriken wie bei PSA Peugeot und Streiks und Blockaden von Häfen wie in Le Havre – eigentlich gab es überall Streikbewegungen – oder die Streiks bei den Eisenbahner*innen und bei RATP, dem Transportunternehmen in Paris. Also es gab neue Streiks, die der Bewegung einen neuen Atem eingehaucht haben.

Das ist auch eine Erneuerung für die Arbeiter*innenbewegung seit 2010. Damals hatte es die letzte große Schlacht gegeben – aber auch die letzte große Niederlage. Seitdem hatte es keine großen Streikbewegungen mehr gegeben. Die Stimmung heute ist, dass wir gemeinsam zum Generalstreik voranschreiten müssen – dass alle Sektoren der Arbeiter*innen sich gemeinsam koordinieren und die Führung des Kampfes übernehmen müssen.

Wir als Aktivist*innen der CCR und als Studierende haben in den letzten Wochen versucht, diese neue Generation von Aktivist*innen und die verstreuten Sektoren der Studierenden – denn in Frankreich sind die Unis inzwischen geschlossen – dazu zu bringen, dass sie weiterhin mobilisiert bleiben, und vor allem, dass sie ihre Kräfte in Richtung der Solidarität mit diesen Streiks der Arbeiter*innenbewegung orientieren. Was wir zum Beispiel gemacht haben, war zum Beispiel Flyer an die Passagiere der Züge zu verteilen, die erklären, warum der Streik der Eisenbahner*innen unterstützt werden muss und dass sie eben für uns alle kämpfen. Genauso haben wir Streikkassen gestartet, um die Streiks zu unterstützen. Diese Frage der Einheit mit den Arbeiter*innen ist für uns sehr wichtig, denn die Studierendenbewegung darf keine auf ihre eigenen Interessen beschränkte Bewegung sein, sondern muss ihre ganze Breite und subversive Kraft nehmen und sie in Richtung derjenigen lenken, die wirklich die über die Produktion entscheiden sollte: nämlich die Arbeiter*innenklasse.

Zum Ende würde ich euch gern noch eine Sache sagen: Unsere nächsten Mobilisierungen werden am 10. und am 14. Juli sein und am 10. Juni wird ja die Fußball-EM beginnen. Momentan wird sehr viel über die Streikposten diskutiert, das stimmt. Denn die Regierung hat Angst davor, dass wir ihr die große Party des Fußballs und der europäischen Nationalismen vermasseln, indem die Transportmittel, die Flughäfen, das Benzin blockiert werden. Und was ich euch im Endeffekt sagen möchte, ist dass wir gegen ihr großes Turnier der Nationen unsere internationale Solidarität setzen müssen. Deswegen sende ich euch viele internationalistische Grüße in der Hoffnung, dass die Arbeiter*innen und die Jugend in Deutschland sich uns anschließen und wir gemeinsam die Kapitalist*innen in Europa und der ganzen Welt stürzen. Bis bald!

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