Venezuela: Papst, Trump und deutsche Presse vereint gegen Maduro

11.05.2017, Lesezeit 15 Min.
1

Die bürgerliche Presse in Deutschland berichtet über die aktuelle Krise in Venezuela vom Standpunkt der neoliberalen Opposition. Hinter dem Deckmantel der „Demokratie“ verteidigen sie damit einen neuen Zyklus imperialistischer Unterwerfung, unter dem besonders die venezolanischen Arbeiter*innen und armen Massen leiden würden.

Massive Proteste gegen die Regierung, brutale Polizeirepression mit Toten, der Austritt aus der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) oder die Ankündigung des Präsidenten Maduro, eine Verfassungsgebende Versammlung einzuberufen – kein Tag vergeht ohne neue Nachrichten aus dem südamerikanischen Karibikstaat. Venezuela erlebt eine politische, wirtschaftliche und soziale Krise, dessen Ausmaße ihresgleichen sucht.

Seit mehr als einem Monat finden nun schon kontinuierliche Demonstrationen der oppositionellen Rechten, die im Tisch der demokratischen Einheit (MUD) versammelt sind, statt. Sie protestieren gegen die Regierung von Nicolás Maduro und beschuldigen ihn, eine Diktatur aufzubauen. Auslöser der jüngsten Protestwelle war das kurz darauf zurückgenommene Urteil des Verfassungsgerichtes, dem von der Opposition kontrollierten Parlament die Befugnisse zu entziehen. Kurz darauf wurde zudem ein wichtiger Anführer der Opposition und möglicher Präsidentschaftskandidat, Henrique Capriles, für 15 Jahre von der Ausübung öffentlicher Ämter ausgeschlossen.

Der Chavismus und seine Reformen

Doch die Ursprünge der politischen Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition gehen viel weiter zurück. Schon seit Beginn der Präsidentschaft Hugo Chávez’ 1999 führte die reaktionäre Opposition einen harten Machtkampf, der einen seiner Höhepunkte im Staatsstreich 2002 erlebte. Damals konnten die Rechten die Streitkräfte für sich gewinnen und Chávez musste für zwei Tage aus dem Regierungssitz fliehen. Doch dank der damals noch aktiven Massenbewegung, die den charismatischen Präsidenten unterstützte, wurde der Putsch niedergeschlagen und Chávez kehrte nach Caracas zurück.

Daraufhin verstärkte Chávez eine Politik, mit der er sich gleichzeitig die Unterstützung der arbeitenden Bevölkerung sicherte und sich eine gewisse, beschränkte Unabhängigkeit vom Imperialismus verschaffte. So kombinierte das Chávez-Regime plebiszitäre Methoden von oben wie die Erleichterung von Referenden mit dem Aufbau von Organen des „poder popular“ (Volksmacht) von unten, die staatlich unterstützte Parallelstrukturen zu den Kommunen wurden und sie zum Teil ersetzten. Jedoch waren sie zu keinem Zeitpunkt vom Staat unabhängige Organe der Ausgebeuteten und Unterdrückten, sondern dienten der Erweiterung der Machtbasis des Chavismus. Wir nennen diese Form des Regimes einen Bonapartismus sui generis, in dem sich ein linker Bonaparte durch Zugeständnisse auf die Massen stützt, um zwischen den Klassen zu vermitteln.

Damit einher gingen auch Sozialreformen, die ihre Lebenssituation verbesserten. Löhne wurden erhöht, Preise festgesetzt und soziale Projekte eingeführt, die größeren Teilen der Bevölkerung Zugang zu Bildung, Gesundheit, Wohnraum und Land gaben. Finanziert wurden diese sozialen Maßnahmen mit den Milliardeneinnahmen, die aus dem Ölgeschäft in die Staatskassen flossen. Die Verstaatlichung der Ölindustrie und anderer wichtiger Branchen wie der Stahlindustrie brachten der Regierung zusätzliche Gelder, die zur Verbesserung der Lebensbedingungen gesteckt wurden.

Gleichzeitig waren diese Verstaatlichungen in Wirklichkeit Aufkäufe zu Marktpreisen: Die Regierung bezahlte den imperialistischen Konzernen wie Exxon Mobile und Repsol Milliarden Dollar, um deren Ölfelder zu bewirtschaften. Unter Chávez fand zudem eine enorme Verschuldung statt, die heute dazu führt, dass Venezuela den Großteil seiner Divisen in die Zahlung der Auslandsschulden steckt, was dazu führt, dass das Land für den Lebenserhalt der Bevölkerung grundlegende Güter nicht ausreichend importiert werden können. Doch der Imperialismus droht mit dem Ausbleiben weiterer Zahlungen im Falle einer Zahlungsunfähigkeit. Alleine zwischen 2013 und 2016 zahlte Venezuela mehr als 60 Milliarden Dollar Auslandsschulden und auch in diesem Jahr stehen 13 Milliarden Dollar offen. Die multinationalen Hedgefonds bekommen ihre Millionen pünktlich überwiesen, während die venezolanische Bevölkerung den Mangel von Medikamenten und Grundversorgungsmitteln bitter zu spüren bekommt.

Grenzen des Chavismus

Das grundlegende Problem des Chavismus war (und ist), dass die Verstaatlichungen und sozialen Programme zwar in einer gewissen Unabhängigkeit zum Imperialismus geschahen – der ein brutales neoliberales Sparprogramm fordert(e) –, aber trotzdem im Rahmen des kapitalistischen Marktes blieben. Die Eigentumsverhältnisse wurden nicht angetastet und Unternehmer*innen konnten weiter riesige Profite machen oder wurden vom Staat für den Ausfall dieser entschädigt. Der venezolanische Kapitalismus konnte sich so mit einem sozialen Antlitz schmücken und wurde vor dem Szenario einer sozialen Revolution beschützt. Besonders die Autorität der (undemokratischen) Position des Präsidenten und der Armee nahm unter Chávez stark zu, nachdem beide aufgrund der brutalen Repressionen der frühen 90er Jahre an Ansehen verloren hatten. Zudem wurden die Einnahmen aus dem Ölboom nicht dazu verwendet, das Land aus der Abhängigkeit von dem Rohstoff zu ziehen und eine Industrialisierung und Diversifizierung der Wirtschaft voranzutreiben. Im Gegenteil ist Venezuela immer noch extrem vom Ölexport abhängig (96 Prozent aller Exporteinnahmen), was bei den seit 2014 fallenden Ölpreisen zu einer verheerenden Wirtschaftskrise führte.

Mit der Veränderung der wirtschaftlichen Situation musste auch eine Veränderung im politischen Überbau einhergehen. Schon von Beginn an war der Chavismus ein bonapartistisches Regime, das mit plebiszitären Methoden und einem Anführer regiert, der sich auf die Massen stützend über die Klassen erhebt. Damit einher ging der Aufbau einer enormen Staatsbürokratie, die sich bereicherte und an Macht gewann, und eine besondere Stellung der Armee, die von Chávez politisiert und für seine Ziele genutzt wurde. Der Tod Chávez 2013 brachte dieses System ins Wanken und verschärfte gemeinsam mit der Wirtschaftskrise das Ende des chavistischen Zyklus, das sich seitdem turbulent weiterentwickelt. Denn sein Nachfolger Maduro besaß nicht wie Chávez über die gleiche Stellung in der Bevölkerung und hatte auch keine organische Bindung zum Militär. Um sich trotzdem in der Macht zu halten, machte er große Zugeständnisse an die Armee, die hohe Positionen in der Regierung und der Wirtschaft bekam. Deshalb haben die Streitkräfte in der aktuellen Krise eine enorme Bedeutung, da sie die wichtigste – und einzige – wirkliche Stütze der Regierung sind, die ihren Massenanhang schon längst verloren hat.

Zynismus von rechter Opposition und deutschem Imperialismus

Auch die Opposition ruft immer wieder die Armee dazu auf, mit der Regierung zu brechen und knüpft damit an ihre Putsch-Tradition an. Zwar kritisiert die Opposition die brutale Polizeirepression gegen ihre Demonstrationen, bei der im letzten Monat mehr als 30 Menschen ums Leben kamen. Jedoch erwähnen sie die Toten in den Armenvierteln, die bei Plünderungen sterben, oder die von rechten Banden ermordeten Anhänger*innen des Chavismus, mit keinem Wort. Tatsächlich sind auch die Rufe nach „Demokratie“ von Seiten der rechten Opposition pure Demagogie. Sie will den Chavismus besiegen und selbst an die Macht kommen, um ihr neoliberales Programm durchzusetzen und setzen dabei auf alle verfügbaren Möglichkeiten. Sie fordert sofortige Neuwahlen, aber gleichzeitig rufen sie die USA und die „internationale Gemeinschaft“ zu einer Militärintervention auf oder setzen darauf, dass die Armee einen Militärputsch durchführt. Die selben Kräfte, die in Venezuela die undemokratischen Regierungsmethoden kritisieren und von einer Diktatur sprechen, unterstützten in Brasilien den institutionellen Putsch von Michel Temer gegen Dilma Rousseff, der durch Renten- und Arbeitsmarktreformen das Outsourcing ausweiten und die Lebensarbeitszeit auf 65 Jahre erhöhen will. Dazu gehören unter anderem Henry Ramon Allup, Vorsitzender der Partei „Acción Democrática“, der festgenommene Leopoldo López von „Voluntad Popular“ und Parlamentspräsident Julio Borges von „Primero Justicia“, die auch von der Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützt wird. Alle unterhalten gute Beziehungen zu den rechten Regierungen der Region, wie die von Pedro Pablo Kuczynski in Peru, der auf eine Tätigkeit bei der Weltbank zurückblickt oder des Unternehmers Mauricio Macri in Argentinien, dessen Politik der Entlassungen und Tarifpreiserhöhungen große Unzufriedenheit in der Bevölkerung hervorruft.

In den Zielen vereint legt auch die bürgerliche Presse in Deutschland einen ähnlichen Zynismus an den Tag. So verkündete Anne-Katrin Mellmann in der Tagesschau nach der (kurz darauf zurückgenommenen) Entscheidung des Obersten Verfassungsgerichtes, die Funktionen des Parlaments zu übernehmen, das „Ende der Demokratie“. Da die Regierung alle Gesetzesbeschlüsse der Opposition durch das Verfassungsgericht blockierte, hätte sie den „Willen des Volkes“ nicht anerkannt. Sonst hätte die Opposition „bitter nötige Reformen“ durchsetzen und das „Land umgestalten“ können. Die einzige Hoffnung liege jetzt „im Druck von außen“. Jeder*m Beobachter*in ist jedoch klar, dass die von der Opposition geforderten „Reformen“ die Durchsetzung des von IWF, OAS und USA geforderten Kürzungsprogramms ist. Welche Auswirkungen eine solche „Umgestaltung des Landes“ im Interesse des Imperialismus für die Bevölkerung hat, kann man in Griechenland beobachten, wo die deutsche Bourgeoisie einen brutalen Spar- und Privatisierungsplan durchgesetzt hat.

Ein vor wenigen Tagen erschienen Tagen erschienener Kommentar von Carl Moses in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung fordert er die Verschärfung von Sanktionen durch die USA bis zum Stopp der Ölimporte und den Druck der Nachbarländer, um einen regime change in Venezuela herbeizuführen. Das Ausbluten des Landes soll also beschleunigt werden, um Maduro aus dem Präsidentenpalast zu schmeißen. Tatsächlich gibt es schon jetzt zahlreiche Sanktionen des US-Imperialismus und der EU gegen Venezuela, die zu den leeren Supermarkt-Regalen einen großen Beitrag leisten. Tatsächlich hatte US-Präsident Donald Trump, dessen Unterhändler aus dem Außenministerium in Venezuela zwischen Regierung und Opposition vermitteln, Venezuela als eine „Katastrophe“ bezeichnet. Auch der Papst Franziskus äußerte sich zur aktuellen Krise und trat für ein Ende der Gewalt, die Achtung der Menschenrechte und „Frieden, Versöhnung und Demokratie“ ein in klarer Anlehnung an die Forderungen der Opposition. Im höchst katholischen Venezuela hat auch der Vatikan einen immer größeren Einfluss auf das Geschehen bekommen. Die Träger des „demokratischen Wandels“ in Venezuela liegen anscheinend bei der rechten Opposition mit Putsch-Tradition, der neoliberalen Rechten in Lateinamerika mit (frischer) Putsch-Erfahrung, US-Präsident Donald Trump und Papst Franziskus… ein illustrer Verbund der internationalen Reaktion, in dem sich die deutsche Presse zuhause fühlt.

Ein Ausweg auf den Verfall des Chavismus kann nicht aus den Händen der bürgerlichen Rechten mit Unterstützung des Imperialismus kommen. Beide wollen einen neuen Zyklus der neokolonialen Unterwerfung einleiten, den die Arbeiter*innen und Massen in Venezuela mit Arbeitslosigkeit, Mangel und Elend bezahlen sollen. Ein solches Programm wäre weitaus brutaler als die aktuelle Wirtschaftspolitik der Regierung, die hauptsächlich darin besteht, alte Reglementierungen aufzuheben und dem nationalen und internationalen Kapital – das in den letzten Jahren Milliarden US-Dollar aus dem Land geschafft hat – neue Freiräume für Investitionen zu schaffen. Es ist zudem sehr unwahrscheinlich, dass ein solcher Sturz der Regierung friedlich von statten geht, worauf sowohl die Beteiligung der Armee als auch das bisher erreichte Konfliktniveau hindeutet. Ein solcher gewaltreicher Putsch mit Unterstützung des US-Imperialismus wäre eine Katastrophe für die Arbeiter*innen in ganz Lateinamerika. Deshalb muss auch in den imperialistischen Zentren, besonders in den USA und dem spanischen Staat, eine Kampagne gegen die Erpressung mit den Auslandsschulden und für die Nichtzahlung derselben und für ein Ende der Sanktionen und der Einmischung sowie einer möglichen Intervention gestartet werden.

Ein solches anti-imperialistisches Programm muss jedoch in vollständiger Unabhängigkeit zum Chavismus aufgestellt werden, der selbst mit seiner zahnlosen Opposition zum Imperialismus keine Gegenwehr gegen den Ausverkauf anbietet. Im Gegenteil hat er durch die Aushöhlung demokratischer Rechte, die sich nicht nur gegen die rechten Demonstrationen, sondern auch gegen Streiks, Arbeitskämpfe und soziale Proteste richtet, und die Wirtschaftspolitik, welche die Arbeiter*innen und armen Massen für die Krise zur Kasse gebeten hat, der Rechten überhaupt erst den Weg bereitet.

Verfassungsgebende Versammlung

Deshalb treten antikapitalistische Organisationen, wie die Schwesterorganisation von RIO, die Liga Sozialistischer Arbeiter*innen (LTS), für die unabhängige Mobilisierung von Arbeiter*innen und Jugendlichen ein. Unabhängig sowohl von der Regierung als auch von der Opposition und mit einem Programm, das sich gegen die undemokratischen Maßnahmen wie den Ausnahmezustand, die Einschränkung der Versammlungsfreiheit und die Militarisierung der Armenviertel stellt, und eine freie und souveräne verfassungsgebende Versammlung zur Lösung der strukturellen Probleme der Arbeiter*innenklasse.

Eine solche verfassungsgebende Verfassung steht im direkten Gegensatz zu der von Maduro am 1. Mai angekündigten Nationalen Verfassungsgebenden Versammlung (ACN). Dabei handelt es sich um ein neues Manöver mit verschiedenen Zielen. Zum einen will Maduro der „demokratischen“ Demagogie der Opposition den Boden entziehen und sich selbst als demokratisch darstellen. Zum anderen kann der Chavismus damit die Durchführung von Wahlen bis zum Ende des verfassungsgebenden Prozesses hinauszögern und sogar dem Parlament die letzte Macht entziehen. Maduros Ankündigung, dass Organisationen der „Volksmacht“ eine besondere Stellung in einer solchen Versammlung hätten, drückt nur das Ziel der Regierung aus, sich eine Mehrheit in dieser Institution zu sichern.

Dass Maduro kein wirkliches Interesse an der freien Diskussion und Entscheidung der breiten Massen hat, zeigt die Tatsache, wie er nicht nur Wahlen auf lokaler und nationaler Ebene verschiebt sondern auch in zahlreichen Gewerkschaften, wo der Chavismus die Mehrheit verlieren könnte. Es kann kein freier Diskussionsprozess der Arbeiter*innen in einer Situation des Ausnahmezustandes, der Militarisierung und der Repression aller sozialen und politischen Proteste gegen die Regierung stattfinden. Eine wirklich freie und souveräne verfassungsgebende Versammlung kann nur durch die Mobilisierung der Ausgebeuteten und Unterdrückten entgegen der bonapartistischen Maßnahmen der Regierung und der pro-imperialistischen Ausrichtung der Opposition durchgesetzt werden. Dafür ist es notwendig, dass sich die Arbeiter*innen und die arme Stadt- und Landbevölkerung unabhängig selbstorganisiert und für ein Programm kämpft, das die verstaatlichten Betriebe aus den Händen der Bürokratie und der Armee entreißt und alle sonstigen Unternehmen aus Schlüsselindustrien unter Arbeiter*innenkontrolle verstaatlicht, das die Nicht-Zahlung der Auslandsschulden, das demokratische Freiheiten wie Gewerkschaftswahlen, Streiks, Straßenblockaden und Demonstrationen zulässt und gegen das Elend der Arbeiter*innen wie niedrige Löhne und Entlassungen vorgeht. Da die Bedrohung vom Imperialismus ausgeht, ist auch die Solidarität aus den imperialistischen Ländern, besonders den USA, notwendig, die sich gegen die Intervention in Venezuela richtet.

Mehr zum Thema